Fort mit den Ketten

Vor dreihundert Jahren, am 28. Juni 1712, wurde Jean Jacques Rousseau geboren
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Kommt die Rede auf Rousseau, fällt unweigerlich das Schlagwort "Zurück zur Natur". Aber er war viel mehr als nur ein Prediger des einfachen Lebens: ein Philosoph, der seine Zeit bewegte; bis heute lassen sich die Spuren seines Denkens verfolgen.

Im Augenblick, als ich das las, sah ich eine andere Welt, und ich wurde ein anderer Mensch", schreibt Rousseau in seinen posthum erschienenen "Bekenntnissen" über einen Anlass, der auf den ersten Blick wenig aufregend erscheint: Die Akademie von Dijon hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben, in dem der beste Aufsatz über eine Frage prämiert werden sollte, die doch schon längst - im Zeitalter der Vernunft! - positiv entschieden schien: Ob der Fortschritt der Künste und der Wissenschaften dazu beigetragen habe, die Sitten zu verbessern? Erwartet wurde wohl eine höhere Stilübung, ein hübscher Spiegel für ein selbstverliebtes Zeitalter. Aber Rousseau, immerhin schon 37 Jahre alt, antwortete völlig unerwartet: Künste und Wissenschaften hätten nur geholfen, die Menschen Schritt für Schritt in Abhängigkeit und Unfreiheit zu führen. Das war rhetorisch brillant vorgetragen, Rousseau gewann den Preis, eine Sensation, und damit begann die merkwürdige und bis auf den heutigen Tag nachwirkende Karriere eines merkwürdigen Mannes.

Das Säkulum der Aufklärung war ja keineswegs so ehern rational und schon gar nicht so blutleer, wie es seine Kritiker im 19. Jahrhundert und bis auf den heutigen Tag gern behaupten. Es war vielmehr das Zeitalter, in dem alles möglich schien, in dem man die Vernunft aus ihrem Kerker befreit hatte, in der sie nicht zuletzt dank der Kirche, davon war man überzeugt, geschmachtet hatte. Der menschliche Horizont würde erweitert werden ins Unendliche und darüber hinaus, dessen war man gewiss, was sollte einem da die Vertikale des Transzendenzbezuges. Das Diesseits leuchtete in neuen Farben, mit der Religion schien es bergab zu gehen, auch wenn etwa La Mettrie, der den Menschen für eine Maschine erklärte (und bei Preußens Friedrich Zuflucht fand), eine Ausnahme blieb.

Höherer Hokuspokus

Das geistige Leben sprühte, Aufschwünge in Menschheitspathos standen neben subtilen Erkenntnissen philosophischer Nüchternheit, und überall dazwischen phantastische Scharlatanerien: Das Zeitalter der Vernunft war auch das Zeitalter der Esoterik, insbesondere die Freimaurer bedienten das Bedürfnis nach geheimnisvollem höherem Hokuspokus. Großillusionisten wie Cagliostro feierten Erfolge, der Abenteurer Casanova hielt es für sein ureigenes Menschenrecht, des eigenen Glückes Schmied und der Chevalier de Seingalt zu sein und nicht bloß ein Herr Neuhaus, er erschwindelte einer überspannten Adeligen ein Vermögen ab mit dem Versprechen, ihr zur Unsterblichkeit zu verhelfen. Der Marquis de Sade zeigte der permissiven Gesellschaft die Grenzen ihrer Toleranz auf und endete wie Cagliostro im Kerker und Casanova verzehrte sein Gnadenbrot in Böhmen.

Glücklicher war da Voltaire, er war der Repräsentant seiner Epoche, ein Meister von der spitzen Feder, der sich mit der Kirche so furchtlos anlegte wie mit allen, die er der Infamie ver-däch- tigte, der sich aber gern auch mit dem jungen Herrscher auf Preußens Thron freundschaftlich einließ, vielleicht glaubte er, der Skeptiker, wenigstens halben Herzens daran, dass das aufklärerische Licht der Vernunft durch diese ungewöhnliche Freundschaft auch die Herrschenden erreichen würde.

Ja, man musste sich schon etwas einfallen lassen, wenn man im hitzigen Klima des damaligen Frankreich Aufmerksamkeit erregen wollte. Dort war man an verrückte Typen gewöhnt, aber man lechzte auch nach ihnen. Rousseau wurde in den einschlägigen Kreisen über Nacht berühmt: Da stand einer gegen all die Künstlichkeit und Überfeinerung (und das heißt zu allen Zeiten auch gegen bodenlose Heuchelei) der Epoche - das belebte, nichts fürchtete man mehr als die Langeweile.

Und Rousseau ließ das Eisen nicht kalt werden, 1752 begeisterte er gar den Hof mit einer Oper: Der Dorfwahrsager. In einer zweiten Antwort auf eine Preisfrage aus Dijon machte er die Arbeitsteilung und die darauf beruhende Ausbeutung als Ursprung der Ungleichheit der Menschen aus und wurde damit, ohne es zu ahnen, zum Ahnen des Sozialismus. 1761/62 erschienen gleich drei Werke von ihm: zuerst der Briefroman Julie oder die Neue Heloise, der davon handelte, dass zwei Sich-Liebende wegen Standesvorteilen nicht zueinander finden, Vorläufer von Werthers Leiden, dann Emile oder über die Erziehung, schließlich Vom Gesellschaftsvertrag.

Lüstern auf neue Reize

Die beiden letzteren Bücher des inzwischen längst berühmt-berüchtigten Autors wurden sogleich verboten - noch war es das absolutistische Frankreich Ludwig XV. -, ja, es wurde ein Haftbefehl gegen den Autor erlassen, dem er sich durch die Flucht in die Schweiz entzog. Aber der erste Satz des "Gesellschaftsvertrags" war auch wirklich ein Paukenschlag, eine Herausforderung an das feudale System: "Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten." Verbot? Papperlapapp. Das literarische Frankreich und die Hofgesellschaft, das war eine Liaison, eine nicht selten gefährliche Liebschaft, in der jeder Mann und jede Frau lüstern war auf neue Reize, auf allen Gebieten des Lebens, auch und nicht zum wenigsten auf dem Feld des Geistes, der in Frankreich immer schon als legitimer Bruder der Rhetorik aufgefasst wurde.

"Wie findet man eine Gesellschaftsform ... kraft deren jeder Einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher? Dies ist die Hauptfrage, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag gibt." Keine Frage, die Ketten mussten und würden gelöst werden, indem eine ganz neue Gesellschafts- und Staatsform geschaffen wird, deren Ideal und Praxis die Freiheit ist. Mit Enthusiasmus schildert Rousseau diese neue künftige Gesellschaft - und reißt damit die ersten Pflastersteine aus dem Fundament der geltenden Ordnung; später wird er als Vordenker der Revolution gelten, 1794 werden die Jakobiner seine sterblichen Überreste ins Pariser Panthéon überführen.

Verdorben durch Kultur

Für Rousseau war der Mensch durch die Kultur längst verdorben. Einst, im Naturzustand, beseelte ihn ausschließlich die Selbstliebe (amour de soi), heißt es im Emile, sie ließ ihn sich eins fühlen mit der gesamten Natur, durch sie war er des Mitleids fähig, der Menschenliebe, des religiösen Gefühls. Dann aber der große Unfall: Das Eigentum setzte sich durch. Von da an vergiftete ein neues Gefühl die Seelen der Menschen: die Eigenliebe (amour propre), die Selbstsucht. Konkurrenzdenken, Neid, Herrschsucht - die Eigenliebe war Quelle alles Schlechten: "So entstehen die süßen und zärtlichen Leidenschaften aus der Selbstliebe und die gehässigen und jähzornigen aus der Eigenliebe."

Rousseau wollte den Menschen nicht durch Blut und Eisen bekehren, ihm war klar, dass die neue, harmonische Gesellschaft scheitern müsste ohne den neuen Menschen. Der aber sollte durch Erziehung geschaffen werden. Im Emile führt er vor, wie letztere auszusehen habe: Sie sollte einer natürlichen Entwicklung aufs Haar gleichen, was angesichts der Kulturdeformationen nicht anders als durch genaueste Planung und Anleitung möglich sei - freilich einer nach den Maßstäben der Vernunft, die ja, selbst aus der Natur stammend, auch die des Menschen ist. Zwang sollte bei der Erziehung ganz ausgeschlossen sein, es galt, den Zögling so anzuleiten, dass er das Gefühl hatte, auf all das, was ihm vermittelt wurde, selbst gekommen zu sein - noch heute Leitlinie einer modernen Pädagogik.

Im Emile finden sich auch Rousseaus Vorstellungen von einer menschengerechten Religion, nämlich in der Ansprache eines fiktiven Vikars von Savoyen. Gerade diese Passage war es, die den Staat auf den Plan gerufen hatte: Rousseau verdammte jede Offenbarungsreligion, also auch das Christentum. Religion sei freilich vom Menschen nicht zu trennen, aber die wahre Religion finde sich in der Natur, und das Gefühl sei es, dass den Menschen zu ihr führt: "Ich glaube also, dass die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird; ich erkenne oder, vielmehr, fühle ihn ...", heißt es im "Gesellschaftsvertrag", und: "Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er allein ist ihre Quelle; wären wir imstande, sie gleich von oben zu empfangen, so hätten wir weder Regierung noch Gesetz nötig." Weil ersteres aber nicht der Fall ist, brauchen die Menschen die Gesetze, brauchen sie vor allen Gesetzen den Gesellschaftsvertrag.

Im idealen Staat ist das Volk der Souverän, der Gemeinwille herrscht unbeschränkt. Wer von den Pfaden, die der Gemeinwille vorschreibt, abweicht, wird auf sie zurückgezwungen, "das hat keine andere Bedeutung", heißt es im "Gesellschaftsvertrag", "als dass man ihn zwingen werde, frei zu sein".

Kein Lichtcharakter

War Rousseau deshalb ein Wegbereiter? Etwa der Linken, vielleicht gar bis in deren menschenverachtende Verästelungen? Es bleibt immer eine zweifelhafte Übung, Denker für Übles verantwortlich zu machen, das nach ihnen und vielleicht unter Berufung auf sie ins Werk gesetzt wurde. Wohl aber gilt es zu zeigen, wie in einem einzigen denkenden Individuum Abzweigungen des Denkens sich öffnen, die schnurstracks bis in die Politik, die unser aller Schicksal ist, sich fortsetzen: Wo Gedachtes aber die öffentliche Phantasie beflügelt, verliert es seine Unschuld, mit allen möglichen Konsequenzen.

Rousseau war nicht nur ein explosiver Denker, er war auch, ganz wie der siebzehn Jahre ältere Voltaire, ein Meister der Selbstvermarktung, er lieferte den Menschen Schlagworte, von denen sie nicht gewusst hatten, dass sie nach ihnen gierten. Er war ein Poseur des Freien, Unabhängigen, Natürlichen und nicht zuletzt der Unbestechlichkeit - Geschenke von Großmächtigen wies er gern mit großer Geste zurück, ließ sie aber gnädigerweise durch seine Geliebte annehmen. Und ja, er gab seine Kinder ins Waisenhaus - dass er ein Lichtcharakter war, lässt sich beim besten Willen nicht behaupten. Alle, die ihm wohlwollten, stieß er vor den Kopf, auch den ihm immer zugetanen Voltaire. Ohne Zweifel, er wirkte ein wenig verrückt, und im Laufe seines Lebens immer mehr, aber das machte ihn nur interessanter.

Feuer der Revolte

Doch sein Werk war keine Eintagsfliege, so viel sollte sich erweisen. Überall in Europa hatte man begriffen, dass das Horchen auf die Vernunft verbunden war mit der Lizenz, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, aber es fehlte doch am Gefühl, an Tränen der Empfindsamkeit (schon seit den Vierzigerjahren gab es in Deutschland den Empfindsamkeitskult), nun lieferte Rousseau die Anleitung, wie man sie mit Leidenschaft und dem Feuer der Revolte zelebriert. Zuerst begeisterte sich die bessere, weil reiche Gesellschaft in Frankreich, man schwärmte von einem Leben in freier Natur, veranstaltete Schäferspiele, in denen sich das zuckrig in Szene gesetzte Landleben zwanglos mit den erotischen Kapriolen des Zeitalters verbinden ließ.

In Deutschland aber, festgeschnürt in den Banden seiner Kleinstaaterei, seines Standesdenkens, seines Untertanengeistes, lag die Fortschrittskraft des Geistes in den Händen des Bürgertums; "Sturm und Drang" nannte man (nach einem Drama von Klinger) den ersten Gefühlsausbruch auf dem Gebiet der Literatur: Junge Wilde, die sich Original- oder Kraftgenie titulierten, schwelgten in einem ganz neuen Ich-Gefühl, Goethe an der Spitze. Er allerdings sollte der Bewegung bald entwachsen.

In Frankreich kam es derweil zur Revolution, im Nachhinein scheint es, wie nach langem Wetterleuchten - und überall verstand man, dass es sich um ein Ereignis von singulärer historischer Bedeutung handelte. Die meisten Intellektuellen in Deutschland begrüßten die Revolution wie ein reinigendes Gewitter, doch als die Guillotine wütete, wendeten sich die meisten ab.

Die Geister trennten sich: Goethe und Schiller legten ihr klassizistisches Programm einer Veredlung der Menschheit zu gelassener - Goethe - oder kämpferischer - Schiller - Humanität auf. Das war auch eine Absage an die Revolution - und daneben die Proklamation der neuen Rousseauschen Religion auf einer höheren, geistigeren Stufe. Der alte Glaube schien ausgedient zu haben, wer das religiöse Bedürfnis und Gefühl für unauslöschlich hielt, musste einen neuen Zugang zur Religion finden.

Die Erben

Friedrich Hölderlin zog daraus die konsequentesten Schlüsse, er begann mit seiner eigenen Arbeit am Mythos zur Begründung einer neuen Religion in den Masken der antiken Götterwelt - ein Prophet, der wenig gehört wurde.

Mehr Wirkung sollte den Romantikern beschieden sein, legitime Erben der Stürmer und Dränger. Goethe hielt sie für unklare Geister, doch waren sie keineswegs eine Bande von naiven Irrationalisten, die allen Ernstes glaubten, im Schoß der alleinseligen Kirche und in einem imaginierten Mittelalter sei plötzlich wieder ein Grund unter den Füßen zu gewinnen, nein, dazu waren sie zu sehr Künstler, Artisten; ihnen ging es um eine Wiederverzauberung der Welt, deren Sinnhaftigkeit durch die Vernunft zunehmend auf den Boden der Tatsachen, die doch für sich genommen sinnlos sind, gedrückt zu werden drohte. Wiederverzauberung also, nämlich durch Kunst, in einer ersten schroffen Entgegensetzung von Ästhetik und Ethik. Und sie entdeckten wieder das "Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt", sie drangen in die Grenzbereiche des menschlichen Geistes und die Schattenzonen des Geisterreiches vor. Auch diese Bewegung verblasste endlich in der doppelbödigen Idylle des Biedermeier - was blieb, war die Entdeckung der Psychologie und die Sehnsucht zurück oder vorwärts in die Natur, die gern auch in sentimentalen Kitsch absank.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dann tauchte eine Gestalt auf, die geradezu als der Anti-Rousseau begriffen werden kann, Friedrich Nietzsche. Als Charakter und als Philosoph wies er mehr Berührungspunkte mit Rousseau auf, als ihm lieb sein konnte: die Außenseiterrolle, der Hang zur Selbststilisierung und -inszenierung, und nicht zuletzt die Überzeugung, dass die Geschichte die Menschheit in eine Irre geführt habe, aus der sie zu erlösen sei.

Nun trennte sich, wenn man so will, endgültig der linke und der rechte Flügel des Rousseauismus - hier die Religion der freien Gesellschaft, in der der freie Mensch nicht anders kann, als das zu wollen, was die Mehrheit will, dort der unbedingte Ästhetizismus, der eine Elite herbeiträumt, die Geist und Macht vereinigt. Doch beide, Rousseau wie Nietzsche, haben posthum ihre Götterdämmerung erlebt, drastischer gesagt: beide sind auf den Hund gekommen, im Stalinismus und im Nationalsozialismus.

Von Rousseau aber hat sich, zu Recht oder zu Unrecht, unauslöschlich eingeprägt, dass er der Wegbereiter all der freiheitlichen Gesellschaften ist, die heute hier und da schon Gestalt gewonnen haben und an denen es weiter zu arbeiten gilt. Vieles, was in der westlichen Welt heute dazu gehört, findet sich schon bei ihm: der Glaube an das Volk als gerechtem Souverän, der Glaube, der neue Mensch sei durch Erziehung zu schaffen, der Glaube daran, dass die Natur einen Fundus für das dem Menschen Gemäße bereithält. Und noch etwas lässt sich bis zu ihm zurückverfolgen: der sich ständig verbreitende Trend zu einer synkretistischen Religion, in der sich alles wiederfindet, was an Gutem und Schönem der Humanität zugerechnet wird - und die den Menschen auf seinem kleinen Planeten am Rande des Weltalls doch nicht ganz allein lässt.

Jean Jaques Rousseau, der ewig Ruhe-lose, starb 66-jährig am 2. Juli 1778.

Helmut Kremers

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