Bilder vom "Zigeunerhügel"

Roma-Künstler in Ungarn kämpfen um Anerkennung
Roma-Künstler in Ungarn kämpfen um Anerkennung. Foto: Dagmar Gester
Roma-Künstler in Ungarn kämpfen um Anerkennung. Foto: Dagmar Gester
Armut und Ausgrenzung prägen seit langem das Leben in den ungarischen Roma-Dörfern und -Siedlungen am Rande der Städte. Wer diese Erfahrungen durch Kunst verarbeiten will, hat schlechte Karten, denn mit staatlicher Förderung können Roma-Künstler kaum rechnen. Doch mitten in der Budapester Innenstadt finden sie eine private Galerie für ihre Kunst. Silviu Mihai und Dagmar Gester haben die Künstler und ihre Förderin besucht.

Henrik Kállai setzt sich auf seinen kleinen Hocker in eine Ecke des bescheidenen Familienwohnzimmers. Hinter ihm steht ein großer Esstisch, vor und neben ihm liegen Pinsel und Farbtuben auf dem Fußboden. "Im Moment habe ich kein Atelier", erklärt der 37-jährige Mann leicht geniert. Auf einem anderen Stuhl, der als Staffelei dient, steht ein unvollendetes Porträt einer rundlichen älteren Dame mit blondierten Haaren und dunklerer Haut. Die Frau gibt es auch im wahren Leben, sie kommt gerade aus der Küche: Mária Kállainé Pikács, die Mutter des Malers, serviert starken ungarischen Kaffee mit einem breiten Lächeln und der spontanen Gastfreundlichkeit vieler Roma-Frauen.

Jeder Abend ein besonderer

Das kleine Einfamilienhaus, in dem Henrik Kállai wohnt, liegt im Dorf Erdökertes, knapp eine Stunde von Budapest entfernt. Ein Bus fährt regelmäßig zwischen dem Bahnhof und dem Dorfkern hin und her, solide Wochenendresidenzen mit gepflegten Rasenflächen reihen sich beiderseits der Hauptstraße anein­ander. Seit der Wende hat sich diese Gegend - dank der Hügellandschaft und der Nähe zu den mittelalterlichen Denkmälern und Sehenswürdigkeiten im benachbarten Gödöllö - zu einem beliebten Ausflugsort für die neue Budapester Mittelschicht entwickelt. Viele Alteingesessene mussten das Dorf wegen der steigenden Preise verlassen. Unweit des Supermarkts biegt eine Seitenstraße rechts ab und schlängelt sich bergauf, vorbei an immer kleineren Häusern: "Meine Familie hat immer hier, auf dem so genannten Zigeunerhügel, gewohnt", erzählt Henrik Kállai. "Als ich Kind war, lebten wir alle zusammen." Alle, das waren er, sein Bruder, seine kleine Schwester, Vater, Mutter und ihre sechs Geschwister mit ihren Familien.

"Es gab nur eine Schule im Dorf mit gemischten Klassen. Im Vergleich zu anderen Roma-Gemeinden waren wir ziemlich gut in die ungarische Gesellschaft integriert, doch gleichzeitig hatten wir ein typisches Gemeinschaftsleben, oder, naja, ein stereotypisches", erinnert sich der Künstler und lacht herzlich. "Jeder Abend war ein besonderer, es wurde oft musiziert, mit und meistens ohne Anlass, viele konnten Gitarre spielen und mein Opa saß an seinem Schlagzeug. Auch gab es oft lauten Streit und Zirkus draußen auf dem Hof. Diese lebenslustige Atmosphäre, diese spezielle Form des Miteinanders hat mein Universum sehr geprägt", sagt Kállai.

Foto: Dagmar Gester
Foto: Dagmar Gester

Henrik Kállai lebt und arbeitet auf dem so genannten Zigeunerhügel in Erdökertes.

Nach der Schule ging der junge Henrik in eine Fabrik arbeiten. Zwar hatte er gute Noten, aber nach dem frühen Tod seines Vaters mussten die drei Kinder vom niedrigen Lohn der Mutter ernährt werden. Erst später konnte Kállai neben der Fabrikarbeit sein Abitur nachholen und die Aufnahmeprüfung bei der Budapester Kunsthochschule ablegen. Doch sein Versuch scheiterte: Trotz einer gewissen Zeichenfähigkeit entspreche seine Arbeit nicht den formalen Regeln der akademischen Kunst, hieß es in der Begründung der Prüfungskommission. Im darauf folgenden Jahr wurde er an der Fachhochschule in Szeged aufgenommen, lernte dort die Grundtechniken der Malerei und machte erste Erfahrungen mit der Videokunst.

Pendeln nach Budpest

Heute gilt Henrik Kállai in Ungarn als einer der bekanntesten Maler und Videokünstler der jüngeren Generation. Wie viele seiner Kollegen nahm er 2007 an der Biennale in Venedig teil und stellte seine Bilder im "Roma-Pavillon" aus. Seitdem wurde er immer öfter zu alternativen Gruppenprojekten eingeladen und konnte mehrmals eigene Ausstellungen organisieren. Die meisten Angehörigen der Großfamilie sind mittlerweile aus dem Dorf weggezogen, und auf dem "Zigeunerhügel" wohnen immer weniger Roma. Kállai pendelt drei Mal in der Woche nach Budapest, wo er an mehreren Schulen als Kunstlehrer arbeitet. Doch seine frühere Lebenswelt in Erdökertes und eine gewisse Nostalgie für seine Kindheit prägen sein Werk nach wie vor.

"Henrik Kállais Karriere ist typisch für die Bildungs- und Arbeitssituation der meisten Roma-Künstler hierzulande", sagt Tímea Junghaus, die damalige Kuratorin des Roma-Pavillons, bedeutende Kunstkritikerin und Roma-Aktivistin. "Weil sie in einem ärmeren und öfter bildungsfernen Milieu aufwachsen, haben nur die wenigsten Roma-Künstler die Chance einer formalen Ausbildung. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Roma-Kinder, die Interesse an Kunst haben, zu Opfern dieses Teufelskreises von Armut, Ausgrenzung und mangelnder Bildung werden."

Foto: Dagmar Gester
Foto: Dagmar Gester

Der Künstler lebt mit seiner Mutter in einem Haus.

Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren an den allgemeinen Lebensbedingungen und Bildungschancen der Roma in Ungarn wenig verbessert. Das Jahr 2006 markierte die jüngste Eskalation in der wenig erfreulichen Geschichte der ungarischen Roma. Eine längere Stagnation und die Enttäuschung der überwiegenden Mehrheit der Bürger mit der damaligen sozialistischen Regierung führten zu einem beispiellosen Anstieg des Rechtsextremismus. In einer Mordserie, die Ungarn erschütterte und deren genaue Umstände bis heute nicht geklärt wurden, töteten Sympathisanten der paramilitärisch organisierten "Ungarischen Garde" 2008 und 2009 sechs Roma und verletzten mehr als ein Dutzend. Bei den darauf folgenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 zog die rechtsradikale und antisemitische Partei Jobbik in die Nationalversammlung ein und wurde mit 16 Prozent der Stimmen zur drittstärksten politischen Kraft im Land.

Rassistische Gewalt

Die rechtspopulistische Fidesz gewann mehr als zwei Drittel der Sitze nach einem Wahlkampf, in dem sie viele Themen von Jobbik aufgegriffen hatte. Als neuer Ministerpräsident versprach Fidesz-Chef Viktor Orbán eine grundlegende Erneuerung des Landes und geriet seitdem aufgrund seines autoritären Regierungsstils unzählige Male in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Die rechtsextremen Gewalttaten, die gesellschaftliche Reaktion darauf und die autoritären Tendenzen in Politik und Öffentlichkeit beschäftigen seitdem viele ungarische Intellektuelle und Künstler. Bence Fliegaufs Film "Just the Wind" thematisiert die Angst vor dieser neuen rassistischen Gewalt und gewann auf der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären für die beste Regie. Auch Henrik Kállai setzt sich mit diesem Themenkomplex auseinander: Auf einem Kulturfestival im Dorf Bodvalenke malte er im Sommer 2011 an die Außenwand eines Hauses ein großformatiges Bild, das Rechtsextremismus und den Holocaust an den Roma künstlerisch verarbeitet.

Foto: Dagmar Gester
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Einen Teil seiner Kunst präsentiert Kállai in der Galerie von Edit Köszegi in der Budapester Innenstadt.

Foto: Dagmar Gester
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Henrik Kállais Mutter sitzt ihm auch Modell.

In diesem komplizierten gesellschaftlichen Kontext stellen sich für viele Roma-Künstler wichtige Identitätsfragen in einem neuen Licht. Einerseits scheint eine klare Positionierung in dem seit Jahren tobenden ungarischen Kulturkrieg zwischen dem "liberalen" und dem nationalistischen Lager unvermeidlich. Andererseits hängen die meisten unabhängigen Initiativen und Kunstprojekte direkt oder indirekt von einer staatlichen Finanzierung ab. "Dieser alte Missstand macht jetzt, zumindest prinzipiell, eine Erpressung durch die Fidesz-nahen Entscheider möglich und öffnet damit einer neuen Selbstzensur Tür und Tor", sagt Tímea Junghaus.

Symbolische Gesten

In der Tat sind bereits etliche öffentliche sowie private Institutionen von Viktor Orbáns Ambition einer politischen, aber auch moralischen und kulturellen Erneuerung des Landes betroffen. Viele kleine Projekte für Roma-Kunst, die in den Jahren nach Ungarns EU-Beitritt ins Leben gerufen wurden, funktionieren mittlerweile nicht mehr. Zwar versucht die Fidesz-Regierung, durch symbolische Gesten ihr Image aufzupolieren: So bekam der ältere Roma-Künstler István Szentandrássy zum Nationalfeiertag am 15. März den angesehenen Kossuth-Preis. Doch der angestrebte PR-Trick schlug kläglich fehl, nachdem einige Roma-Jour­nalisten, die über die offizielle Feierlichkeit im Parlamentsgebäude berichten wollten, nicht eingelassen worden waren.

Dabei konzentrieren sich im Werk und auch in der Biographie von Szentandrássy jene Identitätskonflikte, die für viele Roma-Künstler charakteristisch sind. Jeden Montag organisiert der Maler einen Klubabend der Roma-Intellektuellen, an dem Kulturschaffende über ihre Arbeit und deren gesellschaftliche und theoretische Bedingungen diskutieren. Szentandrássy selber spricht kein Romanes, dafür aber ein elegantes Ungarisch, in dem er oft aus den Klassikern der Literatur zitiert. Jedoch gilt er in Ungarn als einer der Gründungsväter der ersten Bewegung, die sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren für die Kunst und Kultur, aber auch für die Rechte der Roma stark gemacht hat. Auch er setzt sich oft mit dem Holocaust sowie dem alten und jungen Rechtsextremismus auseinander - wie zum Beispiel im Porträt "Madonna von Auschwitz".

Foto: Dagmar Gester
Foto: Dagmar Gester

Preisgekrönt: István Szentandrássy mit seinen Bildern.

Mitten in der Budapester Innenstadt, gegenüber der berühmten Sankt-Stefans-Basilika befindet sich eine der wenigen Galerien, die ausschließlich Roma-Kunst ausstellen. Vor einem Jahr beschloss Dokumentarfilmregisseurin Edit Köszegi, eine prächtige Altbauwohnung im zweiten Stock eines Jugendstilgebäudes in einen Kunstraum umzufunktionieren und dort ihre beeindruckende Malerei-, Grafik- und Designsammlung zu präsentieren. An den Wänden der drei Zimmer der Kugler-Galerie hängen dicht nebeneinander Ölgemälde, Aquarellbilder und kleine Skizzen, in den Regalen reihen sich Designschmuck, Bildbände und Fotografien. Eine Installation aus einem mit bunten Textilien geschmückten Fahrrad empfängt die Besucher schon im Flur.

Galerie für Roma-Kunst

"Die Initiative geht auf meine Zusammenarbeit mit dem Budapester Museum für Ethnographie zurück", erzählt Köszegi, als sie sich neben das Klavier im großen Salon ihrer Galerie setzt. In den Neunzigerjahren habe sie mehrere Dokumentarfilme über Roma-Gemeinden gedreht und so viele Künstler kennengelernt. Dann finanzierte die Soros-Stiftung für eine offene Gesellschaft eine größere öffentliche Sammlung von Roma-Kunst. Diese Sammlung des Museums wuchs jedes Jahr und Teile davon wurden seitdem mehrmals in Ungarn und im Ausland ausgestellt, durchaus mit Erfolg beim Publikum und bei den Kritikern. Doch nach dem letzten Regierungswechsel wurden keine weiteren Ausstellungen organisiert. Die mittlerweile ältere Dame hat aber über die Jahre hinweg auch aus eigener Tasche Bilder gekauft und ihre eigene Sammlung aufgebaut. "Natürlich ist es viel weniger, aber ich wollte den Kunstliebenden zumindest die Möglichkeit wiedergeben, einige Werke der Roma-Künstler kennenzulernen", erklärt sie.

Mittlerweile stellt Köszegi nicht nur ihre Privatsammlung aus, sondern versucht, eine richtige Galerie zu betreiben und den Künstlern eine Chance zu geben, Käufer zu finden. "Angesichts der andauernden Wirtschaftskrise ist das in Ungarn zurzeit sehr schwierig. Nur die wenigsten interessieren sich für Roma-Kunst und noch weniger haben auch das Geld dafür", stellt sie fest. "Doch für viele Künstler, die nicht nur um Anerkennung, sondern ums Überleben kämpfen, bedeutet auch nur ein einziges verkauftes Bild sehr viel."

Silviu Mihai

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