Oberstes Gebot Toleranz
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Herr Professor Hamdan, Sie sind Leiter des ersten deutschen Zentrums für Islamische Theologie in Tübingen. Worin sehen Sie Ihre Aufgaben und die Aufgaben Ihres Institutes, das zum Wintersemester 2011/12 eröffnet worden ist?
Omar Hamdan:
Die zentrale Aufgabe besteht darin, eine Grundlage für die Ausbildung in islamischer Theologie in Deutschland zu schaffen, sowohl für die jetzige als auch für die zukünftigen Generationen der Muslime. Wir möchten, dass sich die islamische Theologie an den deutschen Universitäten genauso etabliert wie die katholische, evangelische und jüdische. Bund und Länder sind sich darüber politisch und auch hinsichtlich der Finanzierung einig, dass die Zeit gekommen ist, ein Zentrum für Islamische Theologie entstehen zu lassen. Auch Muslime müssen in Deutschland als islamische Lehrkräfte für die Schulen ausgebildet werden, für alle Schulstufen, also für Grundschulen, Realschulen und Gymnasien.
Was versprechen Sie sich davon?
Omar Hamdan:
Wir schaffen damit ein inhaltlich-wissenschaftliches Fundament des Islam in Deutschland. Darauf können wir in Zukunft alle Muslime hier mehr oder weniger verpflichten, zumindest in Bezug auf die Ausbildung. Ich rede dabei nicht von einem Traum, sondern von einer wahren Herausforderung. Die Ausbildung und der Einsatz der von uns ausgebildeten Religionslehrer werden ohne Zweifel sehr positive Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft insgesamt haben. Ich verspreche mir davon den Abbau von Vorurteilen gegenüber Muslimen ebenso wie den Abbau religiöser Unwissenheit unter den Muslimen. Beides dürfte zu einer zunehmenden Abkehr von jeglicher Form von Radikalismus führen. Und darüber hinaus dürfen wir auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zum Islam erwarten.
Was umfasst das Curriculum dieser Ausbildung? Ist es vergleichbar mit der von christlichen Religionslehrerinnen und -lehrern?
Omar Hamdan:
Ja. Zwar gibt es für die christliche Theologie wie auch für die des Islam jeweilige Besonderheiten. Trotzdem ist die Struktur der Ausbildung mehr oder weniger dieselbe. Die islamische Theologie besteht aus neun zentralen Fachbereichen, die wir in unserem Studiengang anbieten. Angefangen mit den Koranwissenschaften - schließlich ist der Koran die erste Hauptrechtsquelle im Islam. Daneben aber gibt es den Hadith als zweite Rechtsquelle, also Überlieferungen neben dem Koran. Hadithwissenschaften ist ein Fachbereich für sich. Dritter Fachbereich ist die islamische Glaubenslehre, islamisches Recht der vierte. Wir bieten auch islamische Mystik, islamische Philosophie, Logik und Ethik an. Und wir lehren islamische Religionspädagogik und islamische Geschichte und Gegenwart. Ein weiterer Fachbereich ist die systematisch-rationale Theologie. Sie alle bilden den Studiengang Islamische Theologie. Dazu kommt noch ein Sprachmodul Arabisch, denn Arabisch ist die Hauptsprache der islamischen Theologie. Ähnlich wie in der christlichen Theologie Latein, Griechisch und Hebräisch. Von daher lernen die Studierenden im Zentrum pro Woche sechzehn Stunden Arabisch: acht Stunden obligatorischer Arabischunterricht und jeweils vier Stunden Begleitübung und Tutorium.
Sie haben erklärt, warum es wichtig ist, dass die islamische Theologie in Deutschland Fuß fasst. Nun hat der Rektor der Universität Tübingen, Bernd Engler, bei der Eröffnung des Zentrums im Januar gesagt, dass das Zentrum internationale Akzente setzen und international wissenschaftlich wahrgenommen werden will. Wie wollen Sie das erreichen?
Omar Hamdan:
Das erste Ziel ist selbstverständlich, sich lokal zu etablieren, in Baden-Württemberg und in Deutschland. Deshalb führen wir zunächst eine Reihe von Zusammenarbeiten mit verschiedenen Institutionen an der Universität Tübingen durch, wir kooperieren mit den beiden christlich-theologischen Fakultäten, ebenso wie mit den Religions- und Politikwissenschaftlern. Später werden wir die Kreise größer ziehen. In Stuttgart planen wir, in Kürze mit der Fortbildung der dort tätigen Imame zu beginnen; wenn das Projekt gelingt, wollen wir diese Idee erweitern. Des Weiteren arbeiten wir mit der Freien Universität Berlin zusammen, vor allem mit dem Institut für Islamwissenschaft und dem Seminar für Semitistik und Arabistik an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ende Mai werde ich nach Jordanien reisen, um für ein EU-Projekt zu werben, in dem Jordanien, Israel, Bosnien, die Türkei, Palästina und Deutschland zusammenarbeiten. Dies sind nur Stichwörter: Für das Auslandssemester beispielsweise, das fünfte Semester in unserem Lehrplan, werden wir mindestens fünf Partnerschaftsabkommen mit arabischen Ländern abschließen. Ende April erwarten wir schon die erste Delegation aus Doha, Katar. Sie will sich mit der Lage in Deutschland vertraut machen. Hinter all diesen Aktivitäten stecken viel Arbeit, viele Ideen und Vorschläge. Dabei sind wir noch im ersten Jahr, also in der Aufbauphase. Als wir im Oktober starteten, war ich der einzig Lehrende, inzwischen sind wir zu viert, zwei Professoren und zwei Juniorprofessoren.
Die von Ihnen erwähnte Berlin- Brandenburgische Akademie der Wissenschaften betreibt ein Projekt "Corpus Coranicum". In Westeuropa wird oft darauf hingewiesen, dass der Islam nicht durch die Aufklärung gegangen ist, ein historisch-kritischer Umgang mit dem Koran sei immer noch kaum möglich oder gewollt. Teilen Sie diese Auffassung?
Omar Hamdan:
Nein. Viele behaupten, die Muslime seien zu keiner Zeit kritisch mit ihrer Heiligen Schrift umgegangen. Das Gegenteil ist der Fall, ich würde sogar behaupten, die Muslime waren zu kritisch gegenüber ihrer Heiligen Schrift, fast immer in der Geschichte. Als Sie hier in Tübingen das Haus an der Rümelinstraße betreten haben, haben Sie bestimmt im Durchgang die Vitrine gesehen. In ihr liegen zehn Koranexemplare. Jedes dieser Exemplare enthält eine Lesevariante des Koran. Was nun als kanonische Lesart gelten kann, das erforderte schon immer eine kritische Auseinandersetzung. Die haben die Muslime in einem langen Prozess in Bezug auf die mündliche und schriftliche Überlieferung des Textes geführt. Heute haben wir ein Endergebnis, einen Einheitstext als Grundlage, als Kanon, aber der ist ein Abschluss, keine Übernahme aus der Frühzeit des Islam.
Es gibt in Deutschland eine Reihe von islamischen Geistlichen, die von der türkischen Religionsbehörde Diyanet, in Deutschland unter dem Namen DITIB bekannt, entsandt worden sind. Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit den islamischen Verbänden?
Omar Hamdan:
Das Thema islamische Verbände, Vereine und Gemeinden wird ja in Deutschland heiß diskutiert. Unser Zentrum hat einen islamischen Beirat, seine Mitglieder repräsentieren bestimmte islamische Verbände. Der Beirat funktioniert sehr gut; seine Aufgabe besteht vornehmlich darin, zu prüfen, ob die Kandidaten gute, praktizierende Muslime sind.
Dann gehen Sie nicht davon aus, dass Ihnen das Gleiche passieren kann, was den Münsteraner Kollegen passiert ist? Der Koordinierungsrat der Muslime entzog Muhammad Kalisch, der den bundesweit ersten "Lehrstuhl für die Religion des Islam" innehatte, das Vertrauen, weil er an der historischen Existenz des Propheten Mohammed zweifelte.
Omar Hamdan:
Nein, man hat daraus eine Lektion gelernt und will den Fehler nicht wiederholen. Ich wurde bei meinem Bewerbungsgespräch gefragt, ob ich Muslim sei oder nicht. Ich habe diese Frage beantwortet. Während eines solchen Gesprächs kann man schon herausfinden, ob eine Person harte Positionen vertritt oder nicht. Wichtig ist, dass der Lehrkörper am Zentrum alle Muslime vertritt, Araber und Türken, Aleviten, Schiiten, Sunniten.
Was wäre denn Ihrer Meinung nach eine harte, nicht akzeptable Position?
Omar Hamdan:
Ich möchte die Frage indirekt beantworten. Wir erwarten, dass unsere Mitarbeiter eine Position der Offenheit und Toleranz vertreten. Das ist von großer Bedeutung. Wir wissen, dass die islamischen Verbände ganz unterschiedlich sind. Auch die arabischen Gemeinden stammen aus verschiedenen Kulturen und Traditionen. Deshalb sollen parallel zwei Dialoge durchgeführt werden: der interreligiöse Dialog, also der mit Christen und Juden, und der Dialog unter den Muslimen selbst. Die Verschiedenheiten unter den Muslimen sind groß, und es ist eine wichtige Aufgabe, das Trennende durch einen Dialog abzubauen. Und das ist ohne Offenheit und Toleranz nicht möglich. Völkerverständigung ist uns das Allerwichtigste: den Anderen in den Blick zu nehmen und ihn mit seiner anderen Religion und anderen Kultur zu respektieren. Wollten wir eine einseitige Position vertreten, wäre unser Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Gilt das auch für Studierende? Müssen die nachweisen, dass sie praktizierende, gute Muslime sind?
Omar Hamdan:
Nein. Unser Studiengang ist ja nicht konfessionsgebunden, jeder kann sich einschreiben lassen. Aber die Lehrenden sind Muslime und sollen Muslime sein, so wie man davon ausgeht, dass die christliche Theologie Lehrenden Katholiken oder Protestanten sind.
Sie haben erklärt, sie seien für alle Muslime da. Sunniten und Schiiten sind die beiden größten islamischen Gruppen. Welche Theologie wird gelehrt?
Omar Hamdan:
Unser Lehrplan besteht aus acht Semestern, dauert insgesamt vier Jahre. Die ersten vier Semester sind Einführungsmodule, in denen Grundlagen gelehrt werden. Hier ist eine Differenzierung nicht nötig, diese Grundlagen gelten für alle Richtungen, Schiiten wie Sunniten. Die vier weiteren Semester sind Vertiefungsmodule. Das heißt, Themen wie zum Beispiel Recht werden vergleichend angeboten und dargestellt. Dieser komparative Ansatz ist eine große Bereicherung für die Forschung und die Lehre. Mit dieser Betrachtungsweise können wir das Relevante für die in Deutschland aktuellen Fragen herausarbeiten. Wir haben unter den Sunniten allein vier Rechtsschulen. Das Vertiefungsmodul heißt "Vergleichendes Recht". Warum soll ich mich auf eine Rechtsschule berufen und der Rest bleibt unerforscht oder ohne Gebrauch? Gerade eine solch verengte Sichtweise wollen wir in Zukunft überwinden.
Sie haben das islamische Recht angesprochen. Wenn von der Scharia die Rede ist, löst das in Europa und in Deutschland Ängste aus, denn viele denken dann gleich an mittelalterliche Strafen oder gar an religiös motivierten, politischen Radikalismus.
Omar Hamdan:
Zu Unrecht, soweit es eine unverengte Sicht des Islam betrifft. Das islamische Recht besteht aus zwei Gattungen, das eine sind die vier Primärquellen, bei denen Koran und Hadith an der Spitze stehen. Dazu gibt es sieben sekundär-rechtliche Quellen, die von großer Bedeutung sind. Eine davon heißt arabisch "Alorf". Sie betrifft die einheimischen und lokalen Traditionen und Systeme, die vor Ort funktionieren. Muslime leben in unterschiedlichen Ländern und Rechtssystemen. Da ist es hilfreich, dass der Islam es nicht verbietet, sondern ausdrücklich dazu auffordert, dass Muslime sich an einheimische lokale Systeme anpassen, solange diese nicht gegen den Kern des Islam verstoßen. Heute und hier heißt das: Die Muslime tun gut daran, sich in den Rechtsstaat zu integrieren - eine solche gewissermaßen ideale Grundlage für eine tolerante Gesellschaft finden sie im arabisch-islamischen Raum nicht.
Erwarten Sie von Ihrer Arbeit eine Erneuerung des Islam, die von den hiesigen Muslimen ausgehen könnte?
Omar Hamdan:
Ja. Die Muslime werden in Zukunft ein Bestandteil der Gesamtbevölkerung sein, integriert in die deutsche Gesellschaft. Deutschland ist ein Rechts- und ein Sozialstaat, es ist damit sogar ein Modell für Europa. Und das kann es auch für die Muslime sein, denn einen solchen Staat finden wir im arabisch-islamischen Raum nicht. Zwar behaupten die Muslime mit Recht, sie hätten in ihrer Religion solche Systeme als Theorie. Aber in der Praxis fehlen derlei rechtsstaatliche und soziale Systeme. In Deutschland sind Theorie und Praxis sehr viel näher beieinander.
Sie sprachen vorhin die Imam-Weiterbildung an, die Sie im Zentrum installieren wollen. Warum ist solch eine Weiterbildung nötig?
Omar Hamdan:
Im Rahmen des Studienganges Islamische Theologie bilden wir keine Imame aus, aber die Studierenden können mit ihrem Abschluss diesen Beruf für sich beanspruchen und er-greifen. Als paralleles Projekt zu jenem Studiengang wollen wir eine Imam-Weiterbildung für die in Baden-Württemberg tätigen Imame starten. Viele in Deutschland tätige Imame kommen aus der Türkei oder aus Ägypten; häufig haben sie Sprachschwierigkeiten und sind nicht mit der deutschen Gesellschaft vertraut. Das wollen wir ändern. Der erste Teil besteht aus islamischer Theologie, der zweite ist ein Integrationsteil, den die Stadt Stuttgart übernimmt: Landes-kunde, Sprachkurse, Integrations-kurse für Jugendliche und vieles mehr. Darauf legen wir großen Wert.
Alt-Bundespräsident Christian Wulff hat gesagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Der Islam sieht die christlichen und jüdischen heiligen Schriften zwar auch für Offenbarungen Gottes an, doch seien sie von Menschen verfälscht. Umgekehrt hielten die Christen den Koran nur für eine verfälschende Fort- und Umschreibung der Bibel. Wie nah sind sich die Quellen der drei abrahamitischen Religionen wirklich? Gab es Gemeinsames in der Entstehung, ungeachtet der vielen Kriege und Auseinandersetzungen, die folgten?
Omar Hamdan:
Die Gemeinsamkeiten in Judentum, Islam und Christentum sind so zahlreich, dass man daraus ein Fundament gegenseitiger Toleranz und gegenseitigen Respekts bauen kann. Von Seiten des Islam kann ich als Theologe sagen, dass der Koran an mehreren Stellen die vorherigen monotheistischen Religionen bestätigt. Beispielsweise findet man im Koran dreiundneunzig Verse allein in Bezug auf Jesus. Das ist nicht wenig. Dennoch muss man zugeben, dass der vor uns liegende Weg gegenseitiger Annäherung nicht einfach zu begehen sein wird. Beide Seiten haben hier erheblichen Nachholbedarf. Selbst für säkularisierte Deutsche ist der Islam oft noch negativ konnotiert. Für die Muslime hier im Lande heißt es: Sie müssen ihre Rolle wirklich annehmen, ihren Beitrag in dieser Gesellschaft und für diese Gesellschaft leisten. Leider bleiben sie immer noch viel zu sehr am Rande. Das darf nicht so bleiben.
Was erwarten Sie in dieser Beziehung vom deutschen Staat?
Omar Hamdan:
Ich hoffe, dass der deutsche Staat auch den Muslimen, vielleicht in fünfzehn oder zwanzig Jahren, ein Partner sein wird und vergleichbare Abkommen abschließt, wie mit der evangelischen und der katholischen Kirche. Das heißt aber auch, dass sich die Muslime einigen müssen. Sie sind schon längst Teil Europas, nicht nur Deutschlands. Die große Frage für alle Europäer ist die, wie man damit umgeht. Und wir hoffen sehr, dass das Zentrum in Tübingen als Modell auch in andere Länder Europas, nach Frankreich oder Spanien etwa, verpflanzt werden kann. Ich denke, wie die Deutschen und der deutsche Staat mit dieser Thematik umgehen, ist sehr strukturiert, sehr systematisch und damit führend.
Sie leisten Pionierarbeit beim Aufbau des Zentrums für Islamische Theologie. Was hat Sie in den vergangenen Monaten dabei am meisten überrascht?
Omar Hamdan:
Die hohen Erwartungen. Viele erwarten sofortige Antworten und Ergebnisse. Natürlich geht das nicht, es handelt sich vielmehr um einen langen Prozess, der viel Zeit und einen langen Atem beansprucht. Auch die Unwissenheit vieler Muslime über die Entwicklung des Zentrums hat mich überrascht - obwohl die Medien ständig darüber berichten.
Sie haben angedeutet, dass sich die Muslime in Deutschland der Gesellschaft, in der sie nun leben, noch nicht ausreichend geöffnet haben. Liegt vielleicht gerade darin, dass ihr Zentrum mit staatlichen Stellen zusammenarbeitet, der Grund für ein gewisses Misstrauen von Seiten der Muslime?
Omar Hamdan:
In der Tat: Viele Muslime denken, der deutsche Staat will einen Euro-Islam befördern, nur deshalb würden Staat, Bund und Länder solche Zentren schaffen. Ich halte immer dagegen und betone, dass der Lehrkörper islamisch ist. Wir bestimmen Themen, Inhalte und Lehrplan. Viele Muslime können das aber nicht glauben, denn sie haben Angst, der Staat wolle den Islam verdeutschen. Hier liegt noch eine Menge Aufklärungsarbeit vor uns.
Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Helmut Kremers am 17. April in Tübingen.
Omar Hamdan