Armut
An über 350 Exponaten führte sie den Besuchern die komplexe Geschichte der Armut vor Augen - aus dem Blickwinkel der Kunst. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass die Kunst nicht nur Gegenstand ästhetischen Erlebens, sondern oftmals auch ein zentrales Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung ist. Eine solche Selbstverständigung ist gerade beim Thema "Armut" von Nöten. Denn daran, wie eine Gesellschaft mit Armut umgeht, lässt sich viel über die sie leitenden Werte und Vorstellungen ablesen. Schließlich geht es hierbei um elementare Fragen gesellschaftlichen Zusammenlebens: Wer steht oben und wer unten auf der Leiter gesellschaftlichen Ansehens und materieller Begüterung? Nach welchen Kriterien wird darüber entschieden? Und nicht zuletzt: Wer verdient in welchen Lebenslagen die Hilfe der Gemeinschaft und wer nicht? Die Antworten auf solche Fragen haben sich bis in die Gegenwart hinein immer wieder gewandelt. Hiervon legen die ausgestellten Werke ein beredtes Zeugnis ab, die von antiken Bildnissen der Altersarmut bis hin zu gegenwärtigen Thematisierungen von Hartz-IV reichen. Bemerkenswert ist allerdings nicht nur die Ausstellung selbst, sondern auch der dazugehörige Katalog. Er bietet die genreüblichen, qualitativ hochwertigen Abbildungen der Ausstellungsstücke nebst knapper Kommentierung. Überdies liest er sich aber eher wie ein umfassendes und gut lesbares Kompendium zur Geschichte der Armut - illus-triert vom reichen Anschauungsmaterial der Kunstwerke. Auf diese Weise entsteht eine produktive Wechselwirkung von Text und Bild. Denn der Blick, den die Kunst auf die Armut richtet, entspricht natürlich nicht unvermittelt der Realität. Er ist stets mitgelenkt durch gesellschaftliche oder auch individuell-künstlerische Deutungsmuster. Diese zu erschließen und kritisch einzuordnen, bieten die sozial- und kunstgeschichtlichen Texte des Katalogs wertvolle Hilfestellungen. Andersherum bereichern aber auch die Bilder die Texte, indem sie anschaulich werden lassen, was in der Theorie manchmal recht trocken klingt. So spiegelt sich an einem besonders pointierten Fall beispielsweise die Säkularisierung des christlichen Barmherzigkeitsmotivs: In den berühmten "Sieben Werken der Barmherzigkeit" von Pieter Brueghel d. Ä. (1559) findet man im Zentrum noch die allegorische Figur der Caritas, die in ihrer Symbolik auf den Opfertod Christi verweist und das karitative Handeln um sie herum mit starken religiösen Konnotationen auflädt. Im gleichnamigen Werk Pieter Brueghel d. J., keine hundert Jahre später (zwischen 1616 und 1638), fehlt die Caritas vollständig, obwohl der Rest des Bildes praktisch unverändert ist. Auf vergleichbare Fälle wird immer wieder stoßen, wer den ansprechend gestalteten Katalog zur Hand nimmt. Sei es im Kontext des ausführlichen Glossars, mit dem die Herausgeber den Band eröffnen - hier werden von "Almosen" bis "Zuchthaus" zentrale Konzepte oder Institutionen in kurzen Aufsätzen eingeführt -, sei es in den zahlreichen thematischen Essays. Sie zeichnen verlässlich die großen historischen Linien nach, um sie dann immer wieder in Spezialthemen zu vertiefen. Durch die vielen Querverweise im Buch, das Register und den insgesamt durchdachten Aufbau ist den Heraus-gebern nicht nur ein anregendes und lehrreiches Buch zur Geschichte und Gegenwart der Armut geglückt, son-dern auch eines, das sich durch seine Anschaulichkeit hervorragend für die Beschäftigung mit dem Thema "Armut" in Schule, Gemeinde und Erwachsenenbildung eignet.
Tobias Braune-Krickau