Auf dem Knochenhügel

Bunhill Fields ist der letzte Gottesacker in der Londoner City
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Einst wurden hier die Pestopfer mehr schlecht als recht und massenhaft unter die Erde gebracht: Heute erholen sich Londoner auf dem alten Gräberfeld - auch Martin Glauert, Arzt und freier Autor, verschnaufte dort.

Die Innenstadt von London gehört dem Business und dem Verkehr. Die Hochhäuser scheinen sich zu drängeln und kämpfen um jeden Fußbreit Boden. Auf der lebhaften City Road flutet der Verkehr unaufhörlich. Umso erstaunter ist man, ausgerechnet hier auf einen Friedhof zu stoßen. Bunhill Fields ist eine kleine grüne Oase mitten im Finanzbezirk der City. Ein schmaler Weg führt quer über das Gräberfeld, in der Mitte befindet sich ein kleiner Platz mit Holzbänken. Junge Mütter unterhalten sich miteinander, während die Kinder ohne Angst vor Autos spielen können. Eine alte Dame hat eine Verschnaufpause vom Einkauf eingelegt und ist im Sitzen eingenickt. Bei den Angestellten der Büros und Banken ist der Friedhof ein beliebter Treffpunkt für die Mittagspause. Sie ahnen wohl kaum, dass unter ihren Füßen ein Massengrab für die Opfer der Londoner Pestepidemien liegt. Vor vierhundert Jahren lag Bunhill Fields weit außerhalb der Stadtgrenzen. Um 1550 waren die Londoner Kirchhöfe hoffnungslos überfüllt und mussten geräumt werden. Eintausend Wagenladungen voller Knochen und Schädel wurden hier auf dem Moorland achtlos abgeschüttet, kein Wunder, dass dieses Stück Erde im Volksmund schon bald nur noch "Bone Hill" - Knochenhügel - genannt wurde. Daraus entstand der heutige Name "Bunhill". Nach der gelungenen Entsorgung ihrer Toten fand die Stadt offenbar Gefallen daran, auch ihre missliebigen, durchaus lebendigen Mitbürger hier draußen anzusiedeln. So wurden ein Pesthaus errichtet und eine Irrenanstalt, die später als das berüchtigte "Bedlam Hospital" zu fragwürdigem Ruhm kam. Einhundert Jahre später war das Moorland entwässert, und die Gegend entwickelte sich zu einem beliebten Vergnügungsviertel. Verbotene Hahnenkämpfe wurden hier veranstaltet, Gaukler führten ihre Kunststücke auf, und Wandermusiker brachten die neuesten Hits in die Hauptstadt. Wenn man Glück hatte, wurde gerade ein Dieb öffentlich ausgepeitscht oder Verrückte aus dem Irrenhaus Bedlam in Käfigen zur Schau gestellt. Allmählich siedelten sich immer mehr Aussteiger, Künstler und religiöse Nonkonformisten hier an. Die City Road, die unmittelbar am Friedhof vorbeiführt, wurde zur Geburtsstätte des Methodismus, John Wesley erbaute hier eine große Kapelle und bezog sein Wohnhaus direkt nebenan. Sein Grabmal liegt einsam hinter der Kapelle inmitten spiegelnder Glasflächen modernster Hochhäuser. Vielleicht schaut sein Standbild deshalb so sehnsuchtsvoll herüber, weil er sich nach der Gesellschaft verwandter Freigeister sehnt. Der Friedhof wurde von der Kirche niemals offiziell anerkannt und auch nicht geweiht, so wurde er ein Sammelplatz für die unterschiedlichsten Charaktere, darunter ebenso skurrile Exzentriker wie berühmte Künstler. Aktiver Lobpreis Gottes Auf dem Platz in der Mitte des Friedhofs steht ein großer weißer Sarkophag. John Bunyan liegt hier begraben, der mit seinem Buch Pilgerreise zur ewigen Seligkeit zu den bekanntesten Autoren Englands gehört. Auf den feinen Marmorreliefs an den Seiten des Sarkophags sind Szenen aus diesem Buch dargestellt. Die Figur des Dichters, die oben auf dem Sarkophag liegt, hält ein Buch in der Hand. Moos und Gras haben sich auf dem Kopf gebildet. Nur wenige Schritte entfernt liegt das Grab von Daniel Defoe, dem Schöpfer von Robinson Crusoe. Während heute fast jedes Kind dieses Buch kennt, war Defoe zu Lebzeiten arm wie eine Kirchenmaus und bis über beide Ohren verschuldet. Umgeben von der prüden Doppelmoral der viktorianischen Gesellschaft mag er sich selbst so fremd gefühlt haben wie sein Romanheld Robinson, der unter die wilden Kannibalen gefallen ist. Der Dritte im Bunde ist der visionäre Dichter und Maler William Blake, und er war wohl der exzentrischste Künstler in diesem berühmten Trio. Heute gilt er als einer der größten Dichter Englands und hätte wohl eine Ehrengruft in der Westminster Abbey verdient, aber wahrscheinlich würde er sich hier in der Gesellschaft der hier Versammelten ohnehin wohler fühlen. Schon als Jugendlicher wurde er Mitglied der Royal Academy of Arts; eine erfolgreiche Karriere als Maler war ihm sicher, hätte er sich nicht hitzköpfig mit dem Präsidenten der Akademie überworfen. So aber musste er sich fortan den Lebensunterhalt als einfacher Kupferstecher verdienen. Im Widerspruch zu seiner Zeit verabscheute er die Sklaverei und glaubte an die Gleichheit der Rassen und Geschlechter. Ausgelebte Leidenschaft und Sinnesfreude bezeichnete er als aktiven Lobpreis Gottes und schockierte damit die puritanische christliche Lehrmeinung. Blake hatte Visionen, die von Zeitgenossen als Wahnsinn gedeutet wurden, für ihn selbst aber "Pforten der Wahrnehmung" bedeuteten. Daher übernahm der mit lsd experimentierende Schriftsteller Aldous Huxley Jahrhunderte später den Titel für sein Buch über bewusstseinserweiternde Drogen, Rockgruppen der Siebzigerjahre wie "The Doors" bezogen Zitate und Assoziationen aus Blakes Gedichten und Aufsätzen. Verehrer vor Ort haben Münzen auf den Grabstein gelegt, daneben ein kleines gelbes Plastikkreuz. Als der Friedhof nur wenige Jahre nach William Blakes Beerdigung im Jahr 1854 geschlossen wurde, waren hier insgesamt 123.000 Menschen regulär begraben worden. 1869 wurde der Friedhof vom Londoner Bürgermeister mit einer pompösen Zeremonie als öffentlicher Park wiedereröffnet. Nicht einen Stein hatte man entfernt, kein bisschen Erde wurde fortgeschafft. Die Grabsteine wurden wieder aufgerichtet, unleserlich gewordene Inschriften entziffert und neu geschnitzt, Wege angelegt und Bäume gepflanzt. Das ist freilich lange her. Inzwischen sind die Pfade mit Gras und Moos überwachsen, schon lange ist offenbar niemand mehr zwischen den Gräbern umhergegangen. Manche Grabmale sind verfallen, rote Verkehrsbaken warnen vor Einsturzgefahr. Ein Parlamentsakt schützt Bunhill Fields vor der Bebauung und erhält den Friedhof als Park und Erholungsgelände für die Londoner. "Wenn Bunhill platt gemacht würde, gäbe es einen Aufstand!", meint Dave und beißt in sein Butterbrot. Mit einer alten Wollmütze, schlechten Zähnen und einem freundlichen Lächeln sitzt er auf einer Holzbank und macht Mittagspause. Er ist der gute Geist, der sich im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme schon seit Jahren um den Friedhof kümmert. "Dem Geld wird hier eine Grenze gesetzt. Es gibt genug Hochhäuser und Büros drum herum, dieser Platz ist für die Leute da", sagt er mit Nachdruck und zeigt mit einer Kopfbewegung auf die jungen Mütter, die sich auf der Bank ausruhen, während ihre Kinder Fangen spielen. Tatsächlich wirkt der Friedhof mit seinen großen Bäumen, den Wildblumen und Tieren wie eine Oase in der Großstadtwüste. Durch die Äste hindurch leuchtet auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein gemütlicher Pub in der Sonne, das hätte den Freigeistern und Lebenskünstlern, die hier begraben sind, sicher gut gefallen.

Martin Glauert

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