Politisch brisant
Was der Autor in der schriftlichen Überlieferung der Muslime entdeckt und sehr detailliert belegt, ist nämlich diese Ambiguität, die Mehrdeutigkeit von Begriffen und Handlungsweisen, von Interpretationen selbst des Koran; als bemerkenswert hebt Bauer hervor, dass unterschiedliche, miteinander konkurrierende, ja sogar gegensätzliche Deutungen und Bedeutungen nicht als Mangel oder Nachteil angesehen wurden, sondern als Bereicherung. Das sei bisher in der Forschung wie in der westlichen Wahrnehmung des Islam nicht beachtet worden. Erst im 19. Jahrhundert habe die "Islamisierung des Islam" stattgefunden, das heißt, die Ausweitung des Religiösen auf andere Kulturbereiche, wie sie heute zum Schreckgespenst gehört: Fundamentalismus, Dogmatisie-rung, Ein-Deutigkeit islamischer Ethik, Identifikation von Religion und Staat, von Recht und Islam in der Sharia - das alles gehört im Grunde nicht zum Wesen des Islam, wie er sich nach bedeutenden Gelehrten seit Entstehen im arabischen Raum selbst versteht.
Zugespitzt auf den Vergleich der heiligen Schriften, wertet Bauer den Koran als den ambigen, mehrdeutigen Text des Islam schlechthin: "Während die Bibel erst von neuzeitlichen Philologen mit einem Variantenapparat versehen worden ist, ist, nach klassischer islamischer Vorstellung, der Koran mitsamt seinen Varianten offenbart worden. Varianten sind nicht Unfälle der Textüberlieferung, sondern genuiner Bestandteil des Textes selbst." Diese Mehrdeutigkeit eignet auch der Sha-ria: "Meinungsverschiedenheiten sind nach der klassischen Theorie ein unabdingbarer Bestandteil eines Rechts, das einer-seits auf einer göttlichen Rechtsordnung beruht und sich andererseits als menschengemachtes Gesetz entfaltet." Dogmatisierung als Herstellung von Eindeutigkeiten der Glaubensoffenbarung und des Handelns sind dem-nach als Ideologisierung und sogar als Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke und im Zweifel für Machtinteressen zu werten. Parallelen zur Geschichte der christlichen Kirchen legen sich dem Leser ebenso nahe wie der Schluss, dass eine Forderung nach einem europäischen Islam tatsächlich offene Türen einrennt.
Für ein aufgeklärtes und, das heißt, historisch-kritisches Verständnis der muslimischen Religion einzutreten, bedarf es also nicht des Hinweises auf das Nachholen westlicher Religionsgeschichte; im Gegenteil scheint der klassische Islam mit seiner positiven Einstellung zur Ambiguität zeitlich früher noch als die christliche Theologie "aufgeklärt kritisch" gewesen zu sein. Der westlichen Islamforschung hält Bauer das Vorurteil vor, gegen historisch mögliche Einsichten den fundamentalistischen, den islamisierten Islam für den eigentlichen zu halten und damit auch den islamistischen Verfechtern der muslimischen Religion Vorschub zu leisten. Daher will der Autor dazu beitragen, falschen westlichen Einschätzungen des Islam entgegenzuwirken.
Politisch höchst brisant werden Bauers Forschungsergebnisse, wenn er nachweist, dass die aktuelle westliche Bewertung des Islam eine neue Variante des Kalten Krieges darstellt. Nachdem Kommunismus und Sowjetimperialismus als Antipoden zum westlichen Freiheits- und Demokratieideal fortgefallen sind, ist - seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und nicht erst seit dem 11. September 2001 - "der Islam" erfolgreich als Ersatzfeind aufgebaut worden. Zur Entlarvung dieses Feindbildes sind Bauers "anderer Geschichte des Islam" trotz des sperrigen Titels viele Leserinnen und Leser zu wünschen; zudem entspricht diese Zielsetzung jener des Exzellenzclusters "Religion und Politik" an der Universität Münster, in dessen Rahmen das Buch entstanden ist.
Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011, 463 Seiten, Euro 32,90.
Hajo Görtz