Eine Frage des Gewissens
In den vergangenen Jahren wurde ein medizinisches Verfahren entwickelt, das auch in Deutschland voraussichtlich sehr bald zur Anwendung kommen wird. Mit der neuen Methode lässt sich vorgeburtliches Leben frühzeitiger sowie präziser auf Schädigungen und drohende Behinderung hin untersuchen als bisher. Konkret geht es um das Erkennen von Trisomie 21, auch "Down-Syndrom" genannt. Wenn Kinder mit dieser chromosomalen Anomalie geboren werden, stellt dies für sie durchweg kein schweres Leiden dar, das sie subjektiv stark belasten würde.
Hierin unterscheidet sich das Down-Syndrom von sonstigen Behinderungen. Medizinisch bedeutet das Down-Syndrom aber körperliche und geistige Einschränkungen, verstärkte Krankheitsanfälligkeit sowie eine verminderte Lebenserwartung. Trotz sozialer Hilfen und verbesserter Bildungsförderung ist es für Eltern eine große Herausforderung, unter Umständen eine Überforderung, wenn Kinder mit Down-Syndrom bei ihnen heranwachsen. Das hängt auch damit zusammen, dass der Schweregrad der Behinderung ganz unterschiedlich ausfällt. Vorgeburtliche Untersuchungen geben aber nur über die Chromosomenabweichung als solche Auskunft. Wie schwerwiegend die Behinderung nach der Geburt tatsächlich ausfallen wird, bleibt offen. Die Gefahr, dass sich vorgeburtlich die Trisomie 21 ausprägt, hängt vor allem vom Alter der Schwangeren ab. Deshalb wird ärztlicherseits den über 35-jährigen Schwangeren nahegelegt, das Risiko auf die Trisomie 21 vor der Geburt abzuklären. Wenn ein Paar einwilligt, wird eine pränatale Diagnostik durchgeführt.
Belastungen durch Punktion
Dieses spezielle Verfahren hat aber seine Schattenseiten. Der Arzt entnimmt durch Punktation fetale Zellen aus dem Fruchtwasser der Frau. Als Alternative ist eine Chorionbiopsie, also eine Gewebeprobe aus dem Mutterkuchen möglich. Das Risiko solcher invasiver Verfahren ist nicht zu unterschätzen, sie können die Verletzung des Fetus und eine Fehlgeburt zur Folge haben. Die Untersuchung erfolgt in einer recht späten Phase der Schwangerschaft, zwischen der 14. bis 16. Schwangerschaftswoche, eventuell noch später. Falls der Arzt feststellt, dass der Fetus behindert ist, brechen Frauen in aller Regel ihre Schwangerschaft ab. Der Abbruch findet aufgrund der speziellen Verfahren erst nach der sonst geltenden Drei-Monats-Frist statt. Rechtlich fällt er unter die medizinische Indikation, die 1995 neu definiert worden ist. Im Jahr 2009 hat das Gendiagnostikgesetz die pränatale Diagnostik zwar etwas eingeschränkt und sie - allerdings in unklarer Weise - für spät ausbrechende Krankheiten, etwa die Chorea-Huntington-Krankheit, untersagt. Für die Diagnose des Down-Syndroms ist die pränatale Diagnostik aber zulässig und wird häufig genutzt.
Menschlich und ethisch ist dieses zurzeit übliche Verfahren jedoch zweischneidig. Der invasive Eingriff belastet die Schwangere in körperlicher Hinsicht. Wenn sich für sie nach entsprechendem Befund die Frage des Schwangerschaftsabbruchs stellt, ist dies überdies psychisch äußerst belastend, oft sogar traumatisierend. Denn der Abbruch bedeutet, dass ein vorgeburtliches Kind mit ausgebildeten Organen getötet wird. Seine Gehirnstrukturen und Gehirnfunktionen sind so weit entwickelt, dass es schmerzempfindlich ist. Unter Umständen ist es ansatzweise sogar bereits schmerzbewusst im Sinn der Schmerzwahrnehmung, die über die Großhirnrinde vermittelt wird.
Zum Vergleich: In manchen Fällen kann es für potenzielle Eltern sinnvoll sein, eine Präimplantationsdiagnostik in Anspruch zu nehmen. Die Präimplantationsdiagnostik wird von Paaren erwogen, bei denen spezielle genetisch bedingte Krankheiten, etwa schwere Muskelkrankheiten, familiär bekannt sind. Sie erfolgt nach künstlicher Befruchtung an Embryonen, die erst drei bis fünf Tage alt sind.
Für Frauen risikolos
Ethisch kann man aus triftigen Gründen der Meinung sein, dass diese frühen Embryonen noch keine menschlichen Individuen im eigentlichen Sinne sind. Demgegenüber sind die Feten, die im zweiten Drittel der Schwangerschaft nach pränataler Diagnostik des Down-Syndroms abgetrieben werden, weit ausgebildet und vollgültig als Menschen anzusehen. Ein Abbruch der Schwangerschaft in dieser späten Phase ist ganz besonders bedrückend.
Gegenwärtig bahnt sich nun an, den Test auf das Down-Syndrom zeitlich vorverlegen zu können, und zwar in die zehnte Schwangerschaftswoche. Außerdem ist kein invasiver Eingriff mehr nötig. Aus dem Blut der Schwangeren lassen sich Zellen des Fetus isolieren, die auf das Down-Syndrom hin analysiert werden. Anders als bei der bisher praktizierten pränatalen Diagnostik ist die neue Methode für die Frau und für den Fetus praktisch risikofrei. Vor allem entfällt die Gefahr, dass der Einstich in die Fruchtwasserblase oder den Mutterkuchen zu einer Fehlgeburt führt. Daher können auch keine Feten mehr zu Tode kommen, die eigentlich gesund sind und nach ihrer Geburt von der befürchteten Behinderung, der Trisomie 21, gar nicht betroffen gewesen wären.
Trotzdem wird das neue Verfahren scharf kritisiert. Bischof Anton Losinger, den die römisch-katholische Kirche in den Deutschen Ethikrat entsandt hat, sprach von einem Skandal. Weil das Verfahren medizinisch risikolos und gut verfügbar sei, lasse es sich von viel mehr Schwangeren nutzen als bislang. Dem katholischen Moraltheologen Eberhard Schockenhoff zufolge werden Schwangere hierdurch zur Gedankenlosigkeit angeleitet.
Ein weiterer Einwand: Mit dem Test drohe die Ausrottung einer Krankheit. Behindertenverbände befürchten, die Methode diskriminiere Menschen, die mit dem Down-Syndrom leben. Der letztgenannte Einwand müsste dann freilich auch gegen die Risikoabklärungen auf das Down-Syndrom gelten, die schon jetzt praktiziert werden. Das Diskriminierungsproblem ist ernst zu nehmen. Dem Einwand ist aber entgegenzuhalten, dass er ethisch relevante Unterscheidungen übergeht. Eine Untersuchung vorgeburtlichen Lebens auf spätere Behinderungen einerseits, der Umgang mit behindert Geborenen andererseits sind deutlich voneinander abzugrenzen. Jedem geborenen Menschen stehen vollumfänglich Würde und Lebensschutz zu. Er hat einen Grundrechtsanspruch auf gesundheitliche Unterstützung und auf das ihm erreichbare Maß an Bildung und kultureller Partizipation. Die Abwertung Behinderter, die im Christentum und in der Philosophie früher anzutreffen war, ist in der Moderne überwunden worden. Menschenrechtskonventionen sowie Gesetze sichern die Würde und den Schutz behinderter Menschen auf rechtlicher Ebene ab.
Höchstpersönliche Entscheidung
Sofern eine Frau nach der Diagnose des Down-Syndroms die Schwangerschaft abbricht, wendet sie sich nicht gegen Menschen, die behindert geboren wurden, und urteilt auch nicht über Behinderung "als solche". Ihre Motive sind ganz andere; sie beziehen sich auf ihre ganz konkrete Situation. Die Frau und ihr Partner wünschen dem von ihnen erzeugten Kind für sein späteres Leben gute gesundheitliche Ausgangsbedingungen. Möglicherweise sehen sie sich persönlich nicht in der Lage, ein behindertes Kind aufzuziehen. Manchmal ist bereits ein älteres Geschwisterkind vorhanden, das behindert ist. Die Zuneigung zu ihm und die Fürsorge für das schon geborene Kind werden durch die Untersuchung eines später erzeugten Fetus, die vorgeburtlich erfolgt, nicht relativiert.
Während der Schwangerschaft ist das vorgeburtliche Leben untrennbar mit der Schwangeren verbunden. Letztlich ist es deshalb die höchstpersönliche Entscheidung der Schwangeren und eine Frage ihres Persönlichkeitsrechtes, ihres Gewissens und ihrer reproduktiven Autonomie, ob sie eine vorgeburtliche Untersuchung durchführen lässt oder nicht.
Sofern die Untersuchung künftig durch einen vereinfachten, zeitlich vorverlegten Bluttest geschieht, könnten eventuelle Schwangerschaftsabbrüche oft sogar noch in der Drei-Monats-Frist stattfinden. Sie würden Feten betreffen, die noch nicht so weit entwickelt sind - auch hinsichtlich ihrer Schmerzempfindlichkeit - wie diejenigen Feten, deren Leben zurzeit nach später pränataler Diagnostik beendet wird. Dem Staat, der Öffentlichkeit und Dritten steht über die persönliche Sicht der Schwangeren kein Urteil zu. Dies wäre moralische Heteronomie, also Fremdbestimmung. Gänzlich unangemessen ist es, Frauen in ihrer existenziellen Konfliktlage und angesichts des moralischen Zwiespalts, der bei jedem Abbruch aufbricht, Leichtfertigkeit oder Gedankenlosigkeit zu unterstellen.
In die Entscheidung einer Frau und ihres Partners fließen moralische, religiöse und biographische Faktoren ein. So spielen etwa vor jüdischem, vor amtskirchlich-katholischem oder vor agnostischem Hintergrund ganz unterschiedliche Einschätzungen eine Rolle. Sozialethisch besteht der springende Punkt darin, Paare umfassend zu beraten und sie hiermit bei ihrer persönlichen Urteilsfindung zu unterstützen. Durch Begleitung und Beratung sollten die Betroffenen in die Lage versetzt werden, individuell einen gewissenhaften Entschluss zu treffen, zu dem sie auch im Nachhinein stehen können.
Nicht pauschal warnen
Künftig könnten vorgeburtliche Bluttests noch auf weitere Krankheiten, theoretisch sogar auf das gesamte Genom eines Fetus hin möglich werden. Es greift zu kurz, pauschal vor moralischen Dammbrüchen zu warnen. Stattdessen wird abzuwägen sein, in welchen Fällen einzelne Tests medizinisch und menschlich vertretbar sind. Bei vorgeburtlichen Untersuchungen sollten keine genetischen Daten gesammelt werden, durch die nachgeburtlich das Recht eines Menschen auf Nichtwissen um sein Genom ausgehebelt wird. Bei all dem ist zu beachten: Auch der jetzige medizinische Fortschritt wird das Basisrisiko von Behinderung und Krankheit, das bei jeder Schwangerschaft besteht, nicht ausräumen können.
Hartmut Kreß