Der Inspirator

Von und für Woody Guthrie
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Für "Mermaid Avenue I + II" taten sich der gestandene englische Politfolker Billy Bragg und die alternative US-Gitarrenband Wilco zusammen und spielten Guthrie-Songs ein, die er geschrieben, aber nie aufgenommen hatte.

Ob es voran geht, lässt sich fragen. Fest steht bloß, dass Geschichte gemacht wird, fortwährend, mit Folgen, diffus, aber spürbar. Darum macht es Sinn, wenn Schüler lernen, dass mit der Erstürmung der Bastille in Paris am 14. Juli 1789 die Französische Revolution begann. Dass am 14. Juli 1912 in Oklahoma der Sänger, Songschreiber und Protestfolkübervater Woody Guthrie das Licht der Welt erblickte, brauchen sie nicht zu wissen. Spüren können sie's auch so, etwa wenn sie Songs von Bob Dylan schätzen, dem bekanntesten der von Guthrie Inspirierten.

Berühmt wurde Guthrie mit den Dustbowl-Ballads über die Dürre-Wirtschaftsflüchtlinge aus Oklahoma in den Dreißigerjahren. Sie verkörpern, wofür er stand: Liebe und Nähe zu Land und Menschen der USA wie bei Walt Whitman, zugleich Parteinahme für alle, die um Amerikas Traum betrogen worden waren. "Bound for Glory" (= zum Ruhm bestimmt) heißt Guthries Autobiographie. "This machine kills fascists" stand auf seiner Gitarre. In schlichten lyrischen Songs sang all das aus ihm, seinen Nachruhm prägten aber vor allem die Nähe zu Gewerkschaften und kommunistischen Ideen. Erfreulicherweise korrigierten diese Engführung zwei gefeierte Alben, die 1998 und 2000 unter dem Namen seiner langjährigen Wohnanschrift in New York erschienen. Sie zeigten auch seine anderen, sozusagen privaten Seiten: Für "Mermaid Avenue I + II" taten sich der gestandene englische Politfolker Billy Bragg und die alternative US-Gitarrenband Wilco zusammen und spielten Guthrie-Songs ein, die er geschrieben, aber nie aufgenommen hatte. Lieder über Liebe und Wanderschaft, Weltzweifel, Solidarität, Scheitern, Sehnen und Begehren, heitere Momentaufnahmen oder großes Scheitern: die ganze Spanne, die Leben ausmacht. Guthries Tochter wandte sich mit der Idee an Wilco und Bragg, und sie schlugen ein.

Jetzt, zu Guthries 100. Geburtstag, werden beide CDs in einer wundervollen Vierer-Box wiederveröffentlicht, ergänzt um Songs, die damals nach den Aufnahmen in Irland ins Archiv wanderten (Mermaid Avenue Vol. III) und eine dvd mit dem Dokumentarfilm "Man in the Sand", der das "Making of" zeigt und wie sich Bragg und Wilco dem Material näherten. "Mermaid Avenue: The Complete Sessions" stecken (samt Booklet mit allen Texten) in einem stilvoll bebilderten Leporello aus Pappe - doch sollte man nicht hineingreifen und die CDs herausziehen, sondern seitlich schütteln, denn die Pappe reißt leicht ein. Verletzlich wie das abgebildete Leben sozusagen. Bragg und Wilco ergänzen sich musikalisch prächtig. Dort das perkussive, punkahnende Gitarrenspiel und die energisch empörte Stimme, hier Söhne derselben Landschaft und Traditionen, die auch Guthrie prägten. Aneignen, wiederfinden, entdecken und spüren, zwischen archaischem Appalachensound mit Banjo und Fiddles, Blues, Countryballade, Rockkracher und Landstraßenwalzer. Ein Fundus, der Aufbruch und Ankunft zugleich in sich trägt.

Billy Bragg & Wilco: Mermaid Avenue - The Complete Sessions. Nonesuch/Warner 2012.

Udo Feist

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