Königin ohne Land

Gegenüber der Occupy-Bewegung verhält sich die evangelische Kirche wie eine Zuschauerin
Biblisches Symbol: Demonstranten tragen ein goldenes Kalb durch Frankfurts Bankenviertel. Foto: epd/Stefan Trappe
Biblisches Symbol: Demonstranten tragen ein goldenes Kalb durch Frankfurts Bankenviertel. Foto: epd/Stefan Trappe
Der Protestantismus bleibe in der Finanzkrise schweigsam, kritisiert Franz Segbers, der an der Universität Marburg Sozialethik lehrt. In seinem Beitrag analysiert er Gründe und skizziert, wie sich das, was die EKD in Denkschriften zu sozialen Fragen geäußert hat, umsetzen lässt.

Nur wenige Wochen vor dem offenen Ausbruch der Finanzkrise, im Juli 2008, hatte die EKD eine Denkschrift zum "Unternehmerischen Handeln in evangelischer Perspektive" veröffentlicht, die wegen einiger neoliberaler Einsprengsel heftig kritisiert wurde. Doch dann, im Juni 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, meldete sich die EKD mit der Denkschrift "Wie ein Riss in einer hohen Mauer" zu Wort, die die epochale Bedeutung der Systemkrise deutlich herausarbeitete.

Ohne Wenn und Aber wird die "Mentalität des schnellen Geldes" angeprangert und die "Gier, die in eine unvergleichliche Vernichtung finanzieller Werte umschlug", angesprochen. Im Vorwort erklärt der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, dass es sich nicht nur um eine isolierte Finanzkrise handelt, sondern um eine übergreifende Systemkrise. "Denn die Erschütterungen durch die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sind von den Herausforderungen des Klimawandels nicht zu trennen. Beide fordern, über eine kurzfristige Krisenbewältigung hinaus, zu einem gründlichen Wandel des Denkens und Handelns heraus."

"Völliges Ausfallen" der Kirche

Huber greift auf die prophetische Tradition der Bibel zurück und fordert eine "Umkehr". Er verweist auch auf die Stimmen aus der weltweiten Ökumene, die schon seit längerem auf die Folgen dieser Art des Wirtschaftens hingewiesen hätten, die sich nun auch in Europa krisenhaft entlädt.

Mit solchen Analysen und Perspektiven ausgerüstet, müsste die evangelische Kirche eigentlich eine aufmerksame Zeitgenossin der weiter um sich greifenden Krise sein. Doch nachdem der Funke des Protests von der Plaza del Sol in Madrid, dem Syntagma-Platz in Athen, den Stufen der Sankt-Pauls-Kathedrale in London und der Wall Street in New York auch nach Berlin und Frankfurt übersprang und die Medien auffallend wohlwollend berichteten, verwundert das völlige Ausfallen der Kirche. Die Großdemonstration, zu der am 11. November nahezu 50.000 Demonstranten nach Frankfurt am Main kamen, wurde nur von zwei kirchlichen Organisationen unterstützt, der Katholischen Arbeitnehmerbewegung und der ökumenischen Initiative Oscar Romero.

Bewegung verschlafen

Werner Rätz, Mitbegründer von attac, sieht ein "klares und dramatisches Defizit von Seiten der Kirche. Offensichtlich hat sie zur kapitalismuskritischen Bewegung, sei es in der Gestalt von Occupy-Frankfurt, von attac oder anderen, nichts beitragen können oder wollen. Dort registriert kaum noch jemand, dass Kirche fehlt. Die Kirchen verschlafen die jetzige Bewegung von Menschen. Es zeigt sich, dass sie kein Interesse an denen haben, die die soziale Frage in der Finanzkrise thematisieren."

Wie die zeitgleich und in räumlicher Nähe zu den Demonstrierenden tagende Synode der hessen-nassauischen Landeskirche hat auch die Synode der EKD die Chance verstreichen lassen, sich zu erklären. Und woher rührt dieses beredte Schweigen?

Ein Rückblick auf die Friedensbewegung der Achtzigerjahre zeigt einen gewichtigen Unterschied. Damals engagierten sich bekannte Persönlichkeiten des Protestantismus. Doch nichts dergleichen ist bei der jetzigen Bewegung gegen den Finanzkapitalismus zu beobachten. Und warum?

Trägergruppen vermisst

Karl-Heinz Dejung, der lange dem Leitungsteam des Seminars für Kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft der Gossner Mission in Mainz angehörte, vermisst in der Kirche die Trägergruppen des Protestes. Seinerzeit hätten politisch engagierte Kirchenmitglieder "durch den Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Rückenwind" bekommen. Doch jetzt "bewegt sich nichts mehr".

In ihrer Denkschrift zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, die den Titel "Das rechte Wort zur rechten Zeit" trägt, legte die EKD vor vier Jahren ein höchst differenziertes Konzept kirchlichen Redens vor. Danach wollen die Denkschriften der EKD keine verbindlichen Vorgaben machen, sondern dazu beitragen, dass Christen sich selbstständig ein Urteil bilden und engagieren können. Die bewusste Wahrnehmung und Gestaltung von Pluralität wird als Selbstverständnis der evangelischen Kirche beschrieben.

Pluralismus als Schwäche

Die Stärke dieses Pluralismuskonzepts offenbart zugleich seine Schwäche. Die Denkschrift sagt zwar: "Die Kirche Jesu Christi hat die Aufgabe, Verkündigung des Evangeliums, ethische Orientierung und entsprechende Praxis miteinander zu verbinden, in Wort und Tat." Doch unbestimmt bleibt, wie sich angesichts divergierender Interessen Pluralismus und gesellschaftliche Praxis verbinden lassen - und welche Akteure gesellschaftliche Veränderungsprozesse anstoßen können.

Geschichtlich zeigt sich: Es waren soziale Bewegungen wie die Gewerkschaften, die den Kapitalismus umgebogen und ihm in einem langen geschichtlichen Prozess Humanität und Gerechtigkeit abgerungen haben. Auch die Frauenbewegung und die Friedensbewegung sind ethisch bedeutsame politische Akteure. Und in der Finanzkrise lassen attac und Occupy ethische Überzeugungen politisch wirksam werden. Und sie nehmen mit ihrem Protest gegen die Hybris der Finanzwirtschaft, die Auswüchse der Spekulation und für gerechte Vertei-lung und internationale Solidarität die Kritik zahlreicher kirchlicher Erklärungen auf.

Schal und wirkungslos

Kirchliche Rede bleibt schal und wirkungslos, wenn sie keine Träger findet. Und es sind gerade soziale Bewegungen, die ethisch gehaltvoll und politisch wirksam Veränderungsprozesse anstoßen. Ohne solche Trägergruppen ist die Kirche trotz beachtlicher sozialethischer Positionen eine Königin ohne Land.

"Ich habe nichts gegen das System, aber das System hat etwas gegen mich." Das Plakat einer Demonstrantin in Frankfurt appelliert an das demokratische Recht der Teilhabe, das der Finanzmarktkapitalismus vorenthält.

Das Unbehagen vieler Menschen an einer Finanzwirtschaft ohne Moral drückten die Demonstranten im November in Frankfurt aus: "Wir sind empört - und wir sind viele. Wir wissen: Die Macht der Banken und Finanzmärkte wurde keineswegs gebrochen - im Gegenteil. Was in den letzten Jahren versäumt wurde, muss jetzt endlich nachgeholt werden. Das Wohl der Menschen, nicht der Unternehmen muss wieder im Mittelpunkt der Politik stehen …" Deshalb wird die dreifache Forderung erhoben: "Banken entmachten, Reichtum umverteilen, Demokratie erkämpfen. Wir fordern alle Menschen, die sich - wie wir - um die Zukunft unserer Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft sorgen, dazu auf, sich unseren Protesten anzuschließen."

Kirche treibt Kasinokapitalismus

Und wie reagiert die Kirche auf solche ethisch und politisch bedeutsamen Forderungen, die inhaltlich gar nicht so weit entfernt von kirchlichen Positionen sind?

Normalerweise erlaubt Reichtum Unabhängigkeit. Doch Deutschlands Kirchen sind reich und abhängig zugleich. Sie sind nämlich nicht nur in vielfältiger Weise in das Finanzsystem eingebunden, sondern haben sich auch von ihm abhängig gemacht. Wenn Pfarrpensionen - wie in der hessen-nassauischen Landeskirche - nicht durch ein umlagefinanziertes solidarisches Verfahren generiert werden, sondern am Kapitalmarkt, vertraut die Kirche auf den fatalen Erfolg eines renditeträchtigen Finanzsystems. Sie zieht ihren Vorteil aus einem System, das auf renditeträchtige Anlage bedacht ist und treibt dadurch den Kasinokapitalismus an. Daher kann die Forderung nach "Umkehr" nicht allein an die Akteure des Finanzsektors gerichtet werden. Es ist vielmehr an der Zeit, dass die Kirche ihre eigenen Verstrickungen in die illusionären Versprechungen des Finanzsystems aufdeckt. Und als Zeichen der eigenen Umkehr sollte sie die in den Boomjahren des Finanzkapitalismus so attraktive Kapitaldeckung ihrer Pensionen zurücknehmen und zu der - nach Auskunft der OECD- viel krisensicheren Umlagefinanzierung zurückkehren.

"Kirche hat Angst"

Schon im Konziliaren Prozess fanden engagierte Teile der Kirche Anschluss an die Friedens- und Ökologiebewegung. Aber mit der Gerechtigkeitsfrage taten sie sich schwer. Ein grundsätzliches Dilemma der Volkskirche sieht Werner Rätz von attac: "Ohne Bewegungshandeln wird gar nichts laufen. Jetzt geraten Leute über die Wahrnehmung der sozialen Frage in Opposition zum Finanzsystem. Hier ist Kirche nicht präsent, auch nicht durch markante Persönlichkeiten. Margot Käßmann hat sich zwar in der Friedensfrage vorgewagt, aber nicht in der sozialen Frage. Kirche hat Angst die soziale Frage zu thematisieren, denn dies würde die Volkskirche und die Gemeinden spalten. Die soziale Spaltung verläuft quer zu den Gemeinden. Deshalb braucht die Volkskirche zu ihrem Funktionieren den Burgfrieden gerade in der sozialen Frage. Die Themen Frieden und Schöpfung berühren hingegen nicht in einer solchen Weise den Kern der Volkskirche."

So bleibt allenfalls die moderierende Rolle eines außen stehenden Zuschauers, wie sie die Matthäusgemeinde in Frankfurt wahrgenommen hat, als sie Occupy-Aktivisten und Banker zu einem Gespräch am gemeinsamen Tisch einlud, wobei jedoch kaum Banker kamen.

Wer aber ist eigentlich der Adressat der Systemkrise, der auf seine Verantwortung hin angesprochen werden kann? Ist es die Europäische Zentralbank (EZB)? Gerät man nicht unversehens in eine tugendethische Falle, wenn Banker als Personen adressiert werden? War es nicht eher die politische Klasse, die den Finanzsektor dereguliert, den Finanzkapitalismus durch den Abbau der umlagefinanzierten Rente und die kapitalgedeckte Riesterrente befördert und bislang nicht entschieden genug - durch eine erneute politische Regulierung - auf die Krise reagiert hat?

Beredtes Schweigen

In ihrer Schrift "Risse in der Mauer" fordert die EKD mit der "Umkehr" zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung "eine Wirtschaft, die den Menschen heute dient, ohne die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören, sowie eine (Welt-)Gesellschaft, die die Verbesserung der Situation ihrer ärmsten und schwächsten Mitglieder zu ihrer vorrangigen Aufgabe macht, und schließlich ein Finanzsystem, das sich in den Dienst dieser Aufgabe stellt."

Mit der Forderung nach einer "Wirtschaft, die dem Leben dient" wird zwar eine klare Alternative zur Verselbstständigung der Finanzmärkte und ihre Abkopplung von der Realwirtschaft formuliert. Aber unklar bleibt das Subjekt, das die angemahnten Veränderungsprozesse bewirken kann.

Das beredte Schweigen der Kirche drückt die offene Stelle eines auf Pluralität und Pluralismus bedachten Stils kirchlichen Redens aus. Wenn kirchliche Positionierungen zu einer Veränderung beitragen wollen, dann müssen sie sowohl das "Was" (die Ziele) und das "Wie" (die Mittel) bewusster gesellschaftlicher Veränderung klarer benennen wie auch das "Wer" (die Akteure) politisch-gesellschaftlicher Reformen.

Kirche als Gerechtigkeitsbewegung

Die Schriften "Das rechte Wort zur rechten Zeit" und "Wie ein Riss in einer hohen Mauer" klären zwar den kirchlichen Auftrag und sprechen auch die vom Evangelium gebotene Parteilichkeit an. Ja, sie geben ethische Orientierungen. Aber sie weisen nicht hinreichend aus, wie und wer moderne Gesellschaften politisch verändern kann. Eine dermaßen bestimmte Sozialethik würde sich als eine theologische Reflexion politischer Praxis von Christen bestimmen lassen.

Wie immer sich die Occupy-Bewegung entwickeln wird, so ist doch unumstritten: Unsere Gesellschaft braucht einen gesamtgesellschaftlichen und auch bewegungsübergreifenden Lernprozess, der die soziale Frage revitalisiert.

In der Armutsdenkschrift bekennt sich die EKD dazu, dass eine Kirche ohne Engagement für Gerechtigkeit nicht mehr Kirche Jesu Christi genannt werden kann. Deshalb muss die Kirche um ihres Kircheseins willen gerade in dieser Zeit eine Gerechtigkeitsbewegung werden. Und das rechte Wort allein reicht nicht. Vielmehr müssen auch die Träger und die Mittel genannt werden, die politisch wirksame wie ethisch gehaltvolle Veränderungsprozesse bewirken können.

Franz Segbers

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