Berlin, Bahnhof Friedrichstraße. Ich gehe arglos durch die Halle zum S-Bahn-Gleis und werde durch die Stellwände einer Foto-Ausstellung gestoppt. Die Siegerfotos des World Press Photo Awards 2011. Ich trete näher und bleibe erschrocken stehen. Viele Fotos zeigen nur unerträgliche Schockbilder - Fotos vom Drogenkrieg in Mexiko (abgeschnittene Köpfe), vom Erdbeben in Haiti (eine Kinderleiche auf einem Müllhaufen) und Ähnliches. Muss das sein, frage ich mich? Sind die Gräuel in der Welt so angestiegen, dass nur Gräuelfotos uns noch erschüttern können?
Das Siegerbild aller Kategorien ist das Porträt einer verstümmelten afghanischen Frau, Bibi Aisha - ihr wurde von ihrem Mann die Nase abgetrennt. Intensiv blickt sie mich im klassischen Halbprofil an. Ich habe das Foto schon mal gesehen, kann daher den Anblick der leeren Stelle im Gesicht aushalten, spüre seinen Symbolgehalt. Aber bei vielen anderen Fotos überwiegt die bloße Zurschaustellung der Brutalität, das Spektakel der Grausamkeit. Meinen die Fotografen, durch Gräueldarstellungen unsere mediale Abstumpfung überwinden zu können? Sicher, wo etwas verschwiegen wird - in Kriegen ist bekanntlich das erste Opfer immer die Wahrheit -, können Fotos von Gräueln die Weltöffentlichkeit aufrütteln. Aber inzwischen gibt es überall Kameras und Handys.
Angesichts der Inflation von Gräuelfotos ist zu fragen: Gilt das Bilderverbot nicht auch für die Darstellung der Entwürdigung des Menschen? Selbst die Sportbilder handeln vor allem von Verletzungen. An einer Ecke der Stellwände ist eine Warnung angebracht - die Fotos könnten Kinder überfordern, man solle sie davon fernhalten. Sollte man sie nicht besser gar nicht erst so prominent in der Öffentlichkeit platzieren? Immerhin zeigt das Siegerfoto "Daily Life" einen Mann, der einen erlegten Hai auf den Schultern durch das zerstörte Mogadischu trägt - ein Bild für das Weiterleben.
Zweiter Schauplatz: Neue Nationalgalerie. Die Ausstellung der US-Künstlerin Taryn Simon: "A Living Man Declared Dead and Other Chapters". In achtzehn Kästen werden forensisch-kriminalistische Geschichten kleinen und großen Unrechts erzählt. Ein Bauer in Indien wird von Amts wegen einfach für tot erklärt, damit seine Verwandten sich Haus und Land aneignen können. Die Beamten des Grundbuchamts wurden von ihnen bestochen. Bis heute konnten die Eintragungen nicht rückgängig gemacht werden. Taryn Simon zeigt links die Fotos des indischen Bauern und seiner Blutsverwandten, in der Mitte die Aufschlüsselung der Fotos und rechts so etwas wie einen bildhaften Fußnotenapparat, im Fall des indischen Bauern eine Lepraleiche im Ganges und ein Faksimile der Landbesitzurkunde, das sein angebliches Ableben dokumentiert. Simon will zeigen, wie die Unterbrechung der Blutlinie und Stammbäume gewaltsam geschieht, so im Fall der Opfer des Massakers von Srebrenica. Statt Porträts wie bei den Großeltern nur Fotos sterblicher Überreste der Enkel. Die Schockwirkung ist anders als bei World Press Photo - nachdenklicher, gebrochener. Aber welchen Funken Hoffnung kann die Kunst hier noch anfachen?
Nach der Hälfte der Vitrinen - ich sehe noch verfeindete brasilianische Familien, das Körperdouble von Saddam Husseins Sohn Uray, Albinos in Tansania - kann ich nicht mehr, es wird mir zu viel. Ich verlasse die Ausstellungshalle und gehe in die ständige Ausstellung. Da empfängt mich ein Paradiesbild Max Pechsteins und gibt mir wieder etwas Hoffnung.
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich der Literaturtheologie.