Der Brasilianer Leonardo Boff zählt zu den bedeutendsten katholischen Theologen der Gegenwart; seine Befreiungstheologie hatte großen Einfluss in Südamerika, aber auch den USA und Europa. Sein unbedingtes Eintreten für die Armen brachte ihm Anerkennung - seine Kritik am Vatikan, dem er Dogmatismus und ein hierarchisches, undemokratisches Selbstverständnis vorhielt, führte zu heftigen Konflikten. 1985 gipfelte das in einem einjährigen Rede- und Lehrverbot. Schließlich trat Boff aus dem Franziskanerorden aus und ließ sich in den Laienstand zurückversetzen. Heute lebt der 72-Jährige nahe Rio de Janeiro; dort ist er für basisdemokratische Gemeinden tätig und engagiert sich weiterhin für die Menschenrechte.
Mehr als hundert Bücher hat Boff geschrieben. Nun ist ein schmaler Band hinzugekommen. Wer hofft, hier noch einmal neue Thesen zu lesen, mag enttäuscht werden. Wer allerdings zum ersten Mal mit Boff Bekanntschaft macht, kann in kondensierter Form Stil und Themen seiner Theologie kennen lernen.
Boff widmet sich einer Spiritualität, die den konkreten Erfahrungen der Menschen und ihren Lebensumständen zugewandt ist, diese aber in Frage stellen, übersteigen und überwinden kann. Dazu gehört die Fähigkeit zur Transzendenz: Die Sehnsucht des Menschen, aus den Begrenzungen seines Schicksals auszubrechen und das Bruchstückhafte seiner Existenz hinter sich zu lassen, um Fülle und Ganzheit anzustreben.
Diese Sehnsucht begreift Boff als "anthropologische Grundausstattung": "Denn mit seinem Denken ist der (Mensch) bei den Sternen beheimatet, und seine Sehnsucht ist auf andere offene Räume hin orientiert." Sie richtet nicht den Blick auf ein "Jenseits" des Lebens oder der Welt, sondern ist das "Prinzip Hoffnung" für das Diesseits: Die Beschränkungen der menschlichen Existenz bis hin zur erlittenen Unterdrückung sind keine ewige Realität: "Eine andere Welt ist möglich."
Die Spiritualität Boffs ist vor allem eine des Gefühls und der Erfahrung, sie bedarf der Religion nicht. Scharf wendet er sich gegen Ritualisierung und Dogmatismus, gegen das, was er "Metaphysik" nennt. Es geht um den vertrauten Lieblingsfeind: "Jesus predigte das Reich Gottes und stattdessen kam die Kirche." Boff plädiert für eine Spiritualität, die sich nicht in einem starren Regelwerk ausdrückt, sondern die eigene Veränderung bewirkt, hin zu mehr Achtsamkeit für andere, und die die Erfahrung des Verbundenseins mit der Welt und dem Kosmos ermöglicht.
Bei allem vermag man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Zusammenstellung der wissenschaftlichen und literarischen Zitate etwas Eklektisches anhaftet und der Umgang mit den Texten bisweilen zu sorglos ist. Deutlich wird das zum Beispiel, wenn er aus der Autobiographie des KZ-Lagerkommandanten Rudolf Höß zitiert, die ein angeblich schlechtes Gewissen und damit einen "Rest von Menschlichkeit (wir könnten auch sagen: Transzendenz)" beschreibt.
Boff ist zeitlebens für die Wertschätzung der Erfahrung und des Wissens von Menschen eingetreten, die einfach, ungebildet und am Rande der Gesellschaft stehend immer ignoriert wurden. Allerdings hat sein Verweis auf die "Volkskultur" - so ermöglicht ihm der Fußball wertvolle Transzendenzerfahrungen - etwas Klischeehaftes. Und der Verweis auf das harmonische Weltverständnis indigener Völker mutet verklärend an - und gerade darin irritierend vereinnahmend-konsumierend: Denn er nutzt, was den eigenen Bildern dient, während er sich der Mühe entzieht, in einer genauen und kritischen Würdigung dem anderen Respekt zu zollen.
Leonardo Boff: Sehnsucht nach dem Unendlichen. Butzon & Bercker, Kevelaer 2011, 131 Seiten, Euro 14,90.
Natascha Gillenberg
Natascha Gillenberg
Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.