Eine Leerstelle

Plötzlicher Kontaktabbruch
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Plötzlicher Kontaktabbruch: Ein Thema, von dem sich Tina Soliman anrühren ließ; sie hat Verlassene interviewt und einen Film darüber gemacht. Nun ist ein Buch daraus geworden, spannend, berührend, erschütternd, zum Widerspruch reizend...

Die Tochter bricht den Kontakt zur Mutter ab, eine Frau den zu ihrer Schwester, ein Mann wird von seiner Lebenspartnerin verlassen - ohne ein Abschiedswort, ohne Begründung, ohne Gespräch. Die Verlassenen fühlen sich wie vor den Kopf geschlagen und fragen sich: Warum nur? Hätte man nicht darüber reden können? Und vor allem: Kommt er oder sie zu mir zurück? Plötzlicher Kontaktabbruch: Ein bislang selten bearbeitetes Thema, von dem sich Tina Soliman, Journalistin und Filmemacherin, anrühren ließ; sie hat Verlassene interviewt und einen Film darüber gemacht. Auch diejenigen, die gegangen sind, sollten darin zu Wort kommen, waren dazu aber nicht immer bereit. Nun ist ein Buch daraus geworden, spannend, berührend, erschütternd, zum Widerspruch reizend - jedenfalls eines, das die Leser nicht kalt lässt. Liest man die insgesamt sieben Fallgeschichten, die aus der Sicht der Verlassenen erzählt werden, kann man sich zwar in deren Ratlosigkeit gut einfühlen - schließlich handelt es sich um Sohn oder Tochter, Schwester oder Lebenspartnerin, die sehr vermisst werden. Doch bald spürt man auch die Beklemmung, die mitunter diejenigen erfüllt haben mochte, die irgendwann gegangen sind. Wie da jemand festhielt, in jede Lebensentscheidung eingriff und damit dem anderen die Luft zum Atmen nahm. Aus dieser Prämisse, nämlich dass die Verlassenen mit ihrer Klage das Zentrum des Buches bilden, entsteht ein Ungleichgewicht: Denn, wer gegangen ist und es wirklich ernst gemeint hat, mag nicht unbedingt dazu befragt werden. Eine Leerstelle bleibt. Eines der Szenarien des Buches peinigt da sogar beim puren Lesen, als eine der Verlassenen herausbekommt, wo ihre Schwester wohnt und dort auftaucht: Die Überrumpelte lässt sie vor der verschlossenen Tür einfach stehen. Im Stil einer Doku oder eines Features wechselt der Blickwinkel vom Betroffenen zur Erzählerin und von ihr zum Experten; eine ganze Reihe namhafter Psychiater und Psychologen diskutieren die unterschiedlichen Fragen. Was tun, wenn sich der Verlassene noch als Hälfte eines Ganzen fühlt, der so genannte Abbrecher aber längst nicht mehr? Ist die plötzliche Funkstille eine Frage des Sich-nicht-Erklären-Könnens, ist sie Schwäche oder gar Egoismus? Ist der Abbrecher "undankbar" und "eiskalt"? "Der Verlassene ist nicht per se das Opfer, und dem Abbrecher kann nicht einfach die Täterrolle zugeschoben werden", stellt Soliman fest; und die "Loslösung fand oft schon vor dem Abbruch statt", was nahelegt, dass Signale übersehen worden sein müssen, eine Tatsache, die Verlassene gerne leugnen. Aneinander vorbeizureden, also die so genannte asymmetrische Kommunikation, kann Menschen zur Verzweiflung treiben. Aber wenn eine Frau ihre Mutter wegen deren Dominanz und Übergriffigkeit verlässt, sollte man dennoch nicht leichtfertig von Schuld sprechen, wie der Psychologe Udo Rauchfleisch betont: "Kinder bringen bestimmte Fähigkeiten und Persönlichkeitstrukturen mit ... es gibt sensiblere und weniger sensible ... Da kann man nicht sagen, die Eltern hätten Schuld. Es ist dann eher so, dass sie vielleicht nicht so gut zu diesem sehr sensiblen Kind passen." "Dieses Buch ist unfertig", schreibt Soliman im Nachwort. Kann sein - aber es ist ein guter Anfang sowie die bestmögliche Art, sich diesem komplexen Thema zu nähern. Im Übrigen: Gäbe es nicht ein anderes Wort für das eher negative "Abbrecher"? Vielleicht die Enttäuschten? Die Konsequenten? Die Flüchtlinge? Die Geflohenen? Damit mehr Gleichgewicht zwischen den beiden Hälften besteht, die kein Ganzes mehr sein können.

Tina Soliman: Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen. Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2011, 194 Seiten, Euro 17,95.

Daniela Maria Ziegler

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