Zerrissene Ketten

CDU/CSU verlieren das katholische Milieu
Für den Christdemokraten Helmut Kohl selbstverständlich: Teilnahme bei der Seligsprechung Edith Steins. Foto: epa/afp/Julien
Für den Christdemokraten Helmut Kohl selbstverständlich: Teilnahme bei der Seligsprechung Edith Steins. Foto: epa/afp/Julien
Die Wahlen dieses Jahres haben den Trend bestätigt: Die früher so feste Bindung von Wählergruppen an ihre Parteien löst sich auf, das klassische Parteienspektrum ist in steter Bewegung. Was dies mit der schwindenden gesellschaftlichen Relevanz der Kirchen zu tun hat, erläutert der Göttinger Parteienforscher Franz Walter.

Die Wähler in Deutschland sind sprunghaft. An diesem Allgemeinplatz kommt man partout nicht vorbei, wenn man an den Abenden der Wahlsonntage vor dem Fernseher sitzt und den Kommentaren der Wahlforscher zuhört. Daran ist natürlich auch alles ganz richtig. Aber es ist nicht ganz so neu, wie es oft anklingt.

Stürmisch rochierend ging es schließlich schon in den Weimarer Jahren zu, also zu Zeiten fester Lager, geschlossener Milieus und schroffer Versäulungen. Damals zog es vor allem das gewerbliche Bürgertum von Partei zu Partei, von der liberalen Mitte zur extremen Rechten. Auch die neuen Mittelschichten zeigten hernach eine elastische Beweglichkeit, die 1969 und 1982 überhaupt erst die jeweiligen Regierungswechsel möglich machte. Und während des vergangenen Jahrzehnts waren es die Arbeiter und Arbeitslosen, die jäh, in großen Scharen und ohne falsche Sentimentalität, ihre politischen Repräsentanten von ehedem austauschten. Sprunghafte Zeiten also, bei Bürgern wie Arbeitern, in der Mitte wie unten. So ist es nun mal in modernen Gesellschaften, in denen rasche soziale Wandlungen herkömmlichen Bindungen unbarmherzig den Garaus machen.

Ein Reservat traditionsgestifteter politischer Bindungen und Loyalitäten hat sich jedoch verblüffend lange gehalten: die katholische Lebenswelt. Noch bei den Bundestagswahlen 2002 wählten 52 Prozent der Katholiken, 75 Prozent der regelmäßigen katholischen Kirchgänger, die Parteien der christlichen Union. Das entsprach exakt dem Anteil, den die Zentrumspartei bei den Reichstagswahlen 1912 und die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1953 im katholischen Wahlvolk erzielten.

Nun hat sich in diesen nahezu 100 Jahren in Deutschland bekanntlich allerlei ereignet und verändert. Die Nation erlebte mehrere Systemwechsel, ökonomische Depressionen und Inflationen, Kriege, Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Aber an der politischen Loyalität der katholischen Mehrheit zur einmal gewählten Parteienrepräsentanz veränderte sich dadurch auch in der Größenordnung wenig - nochmals: zwischen Kaiserreich über die Ära Adenauer bis in das erste Jahrzehnt Berliner Republik hinein, christdemokratische Stammwähler blieben hartnäckig in all den Zeiten Stammwähler. Kurzum: Die katholischen Gläubigen bildeten Jahrzehnte lang die große Reservearmee der Christlichen Partei. Episkopat und Ortspfarrer leisteten Mobilisierungshilfe bei Wahlen. Und das christliche Bekenntnis schlug den Integrationsbogen zum Zusammenhalt der heterogenen, weiten Volkspartei.

Zutiefst verunsichert

Seit einigen Jahren aber ist es damit weitgehend vorbei. Denn jetzt haben die Kirchen, die katholische vorneweg, ihre eigenen Probleme, haben daher weder Zeit noch Sinn, weder Ressourcen noch Fußtruppen, der Christdemokratischen Partei Flankenschutz zu geben. In Deutschland summiert sich der jährliche Schwund der Amtskirche seit den späten Sechzigerjahren konstant auf über hunderttausend Gläubige. Zwischen 1990 und 2010 hatten rund 6,5 Millionen katholischer und evangelischer Christen ihre Kirchenmitgliedschaft aufgekündigt - was allein die Einwohnerzahlen von Ländern wie Dänemark, Norwegen oder Finnland übertraf. In zusätzliche Bedrängnis geriet 2010 der Katholizismus, als Fälle von Kindesmissbrauch in seinem Bereich ruchbar wurden und wochenlang ein beherrschendes Thema in den Medien bildeten.

Die katholische Kirche war und ist zutiefst verunsichert, angenagt von Zweifeln, wie viel Zukunft sie selbst noch besitzen mag, da sich das früher so hierarchiegehorsame Kirchenvolk nicht mehr an Gebote und Moralvorstellungen hält, die ihre Institution vorzugeben versucht. Und die Reste des Kernkatholizismus erkennen in ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Randstellung auch in der CDU keinen Adressaten zum Schutz ihrer Position und Einstellungen mehr.

Die Partei erscheint ihnen säkularisiert, der Moderne verfallen, und wo noch Vertreter des Christentums in Spitzenposten erkennbar sind, da handelt es sich überwiegend um Protestanten. Und dies in einer Dominanz, die es in all den Jahrzehnten seit Gründung der Partei zuvor niemals gegeben hatte: die Bundeskanzlerin, der Innenminister, die Ministerin für Arbeit und Soziales, der Finanzminister, der Fraktionsvorsitzende, der Kanzleramtschef - allesamt Protestanten und die christdemokratischen Ministerpräsidenten in den ihnen noch verbliebenen großen Flächenländern Hessen und Niedersachsen ebenso. Gläubige Katholiken, die Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, fremdeln deshalb derzeit mit ihrer Partei, gehen in die innere Emigration, machen nicht mehr mit.

Aber sie wählen gleichwohl nicht die Sozialdemokraten, nicht die Liberalen, auch nicht die Grünen, erst recht nicht die Linken und natürlich auch nicht die ihnen kulturell ganz fremden Piraten. Überwiegend wählen sie, mangels Alternativen und ohne große innere Begeisterung, dann doch ihre angestammte christdemokratische Partei - oder sie haben sich in die Enthaltung zurückgezogen. Bei den Bundestagswahlen 2009 votierten nur noch 44 Prozent der Katholiken für die Union, also acht Prozentpunkte weniger als 2002. An den Sonntagen der Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2011 und Nordrhein-Westfalen 2012 hatte die CDU im katholischen Wahlvolk überproportionale Einbußen zu verzeichnen, im Südwesten mit einem Minus von acht Prozentpunkten, in NRW von sogar zehn Punkten.

Durch Adenauerjahre geformt

Zwar kommen Christdemokraten in einigen verbliebenen Hochburgen des ländlichen Katholizismus zuweilen weiterhin auf Spitzenwerte von rund 50 Prozent und etwas mehr. Aber die Zugehörigen dieser "traditionsverwurzelten Lebenswelten", wie Sozialforscher diese Gruppe nennen, stehen ganz überwiegend in einem Alter, mit dem man das Rentner- oder Pensionärsdasein erreicht hat. Sie gehören einer Generation an, die noch durch die Adenauerjahre geformt wurde. Sie werden bald nicht mehr da sein. Und ihre grundkonservative Einstellung zu Kirche, Religion, weiblicher Erwerbsarbeit oder Sexualität haben sie auch innerfamiliär nicht fortsozialisieren können.

In den Nachkriegskohorten, besonders bei den Baby-Boomern der Fünfziger- und frühen Sechziger-Geburtenjahrgänge, ist die Sozialisierungskette gerissen, welche den Bestand und die Wirkung der Kirche bis dahin reproduzierend gesichert hatte. Die Nachkriegsgeneration nahm die episkopalen und kurialen Gebote, besonders die zur Lebensführung, nicht mehr an. Die Kirche also prägt nicht mehr, deutet den Gläubigen nicht ihr Leben und ihren Alltag. In Deutschland ging diese im Übrigen transnationale Säkularisierung durch den hier besonders scharfen "Clash of generations" Ende der Sechzigerjahre weiter als in allen anderen Ländern. Nirgendwo sonst ist das Vertrauen in die kirchliche Autorität im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts so drastisch zurückgegangen wie in der deutschen Nation. Insgesamt haben sich die nachwachsenden Generationen den institutionellen, kulturellen und normativen Prägungen der christlichen Großkirchen entzogen.

Das wird in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten auch politisch und gesellschaftlich durchschlagen. Unter den 50- bis 59-Jährigen gibt es heute noch 30 Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den 16- bis 25-Jährigen sind es weit unter 10 Prozent. Nur noch 18 Prozent der Katholiken unter dreißig Jahren ordnen sich dem Lager der mindestens mittelbar Kirchenverbundenen zu - bei einem Durchschnitt von immerhin noch 55 Prozent in der katholischen Gesamtbevölkerung.

Jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Im europäischen Religionsvergleich liegt Deutschland gegenwärtig ganz hinten. In Bundesländern wie Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt bezeichnen sich nicht einmal mehr fünf Prozent der repräsentativ befragten Bürger als "gottesgläubig". Insofern muss auch die CDU auf Gebote und Mahnungen des institutionalisierten Christentums nicht mehr besonders viel Rücksicht nehmen - und sie macht es auch nicht. Schon 2011 maßen Forscher nur noch 43 Prozent Sympathisanten für die CDU/CSU im Lager der Katholiken. Roh formuliert: Das Gros der konfessionell Konservativen wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilen.

Kritische Bildungselite

Schließlich: In den Kulturkämpfen der letzten Jahre, ob es um neue Lebensformen, Wertefragen oder die Familien- und Schulpolitik ging, standen konservativ-religiöse Lebenswelten auf ziemlich verlorenem Posten und hatten die neuen Kerngruppen der Gesellschaft gegen sich. Kulturell hat sich die nachgewachsene Mitte Zug um Zug aus der christdemokratischen und altkonservativen Deutungswelt entfernt. Dies gilt insbesondere für einen gewichtigen Teil der Mitte im bürgerlichen Nachwuchs. Die Lebensweltforscher haben für diesen Ausschnitt der Bevölkerung - jung, akademisch, beruflich mobil, urban, in kreativen Jobs tätig und mit Abstand zu den Kirchen - den Begriff der "kritischen Bildungselite" kreiert. Ihre Zugehörigen prägen Trends und Themen der Zeit und verfügen zudem über das höchste Haushaltseinkommen innerhalb der deutschen Bevölkerung.

Aber: In kaum einer anderen Gruppe sind die CDU und auch der institutionalisierte Gottesglaube derart abgemeldet wie hier. Zum politischen Repräsentanten dieser neuen "Bildungselite" sind demgegenüber anfangs auch die Linke, recht kontinuierlich die Grünen und - ganz frisch - die Piraten avanciert.

Mithin: Die neuen Parteien der neuen expandierenden Schichten nährten und nähren sich auffällig stark aus dem Sektor der Konfessionslosen. Das gilt bemerkenswerterweise auch für oft salopp und gewiss nicht ganz korrekt als "Partei der Nichtwähler" bezeichnete Einzelbürger, die den Wahlurnen fernzubleiben pflegen. Rund ein Drittel von ihnen gehört keiner Kirche an. Darin werden sie von den Anhängern der Linken und der extremen Rechten NPD/DVU/Republikaner) noch übertroffen; dort lebt die Hälfte ohne kirchliche Anbindung.

Ein neuer Abwehrkampf?

Und der "typische Piratenwähler", so hat ihn jüngst Daniel Deckers in der FAZ charakterisiert, ist "nicht nur jung und männlich, sondern gehört mit großer Wahrscheinlichkeit keiner Religionsgemeinschaft an". Eine große Affinität zum christlichen Mysterium ist bei den freudigen Bejahern der technischen Moderne und des Cyberspace in der Tat nicht anzutreffen, wenngleich gerade in der Formierungsphase dieser Szene - wie so oft im Entstehungsprozess derartiger Pioniergruppen - semireligiöse Selbst- oder Fremdzuschreibungen, wie etwa "Netzgemeinden" oder "Internetjünger", durch die Foren vagabundierten.

Doch wahrscheinlich lag der Starblogger Sascha Lobo richtig, als er darauf insistierte, dass das Netz mit der Spiritualität nicht recht konveniere, da es "eine von Menschen gemachte Riesenmaschine der Aufklärung" sei. Die politische Piraterie ähnelt eher der Traditionskritik des fundamentalen Liberalismus aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit dem analogen Anspruch auf Selbstermächtigung rational und individuell urteilender Bürger, welche Offenbarungen, Verkündungen und frohen Heilsbotschaften zwingend mit aufklärerischer Skepsis begegnen mussten. Als Träger einer explizit christlich orientierten Politik dürften Piraten ebenso wenig in Frage kommen wie weiland die kulturkämpferischen Liberalen. Doch wer weiß, vielleicht ist das ja abermals das Elixier für einen neuerlichen Abwehrkampf der christlichen Demokratie. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht ...

Franz Walter

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