Entlarvung

Geschichte der Romavölker
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Der Literaturwissenschaftler Bogdal hat ein durch und durch politisches Buch geschrieben, das bei den Beobachtungen über die Ächtung der Romvölker nicht stehen bleiben will.

Eine "Geschichte von Faszination und Verachtung" hat Klaus-Michael Bogdal sein Buch genannt, und dabei doch nicht im klassischen Sinne einen historischen Abriss der Geschichte der Romvölker vorgelegt. Bogdal geht es um etwas anderes: In seiner breit angelegten literaturwissenschaftlichen Untersuchung entlarvt er die Rede vom "Zigeuner" als gesellschaftliches Konstrukt, das durch Legenden, Bilder und Halbwissen über Jahrhunderte hinweg fest- und weitergeschrieben wurde. Er nimmt die Zuschreibungen in den Blick, mit denen Roma und Sinti über Jahrhunderte in der Literatur bedacht wurden. Zuschreibungen freilich auch, die Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit den stets am Rande der Gesellschaft lebenden Romvölkern hatten.

Bogdal will mit seiner Untersuchung dem komplexen Prozess der Erfindung der "Zigeuner" auf die Spur kommen. Seine literaturwissenschaftlichen Recherchen setzen im Spätmittelalter an, von hier ausgehend beschreibt er die Ankunft der Romvölker in Europa, trägt aus Chroniken und Rechtsquellen die Herkunftslegenden zusammen. Der Diskurs umfasst sechs Jahrhunderte bis in die Gegenwart: Viktor Hugos "Glöckner von Notre Dame" oder Georg Büchners "Woyzeck" werden ebenso analysiert wie Werke von E. T. A. Hoffmann, August Strindberg oder Joseph von Eichendorff. Über die Jahrhunderte hinweg entdeckt er in den Quellen eine instinktive Verachtung gegenüber der fremden Kultur.

Zwar geht von dem Fremden - auch das gelingt es Bogdal nachzuweisen - immer wieder auch Faszination aus: Musizierende Zigeuner, der Flamenco oder das Interesse an der Zigeunerfolklore bei der Wallfahrt nach Saintes-Maries-de-la-Mer in der Mitte des 20. Jahrhunderts werden hier als Beispiele genannt. Im Großen und Ganzen haben sich allerdings in der europäischen Literatur negative Zuschreibungen verfestigt: "Zigeuner" werden zu Betrügern, Dieben und Räubern stilisiert, ihnen werden Wahrsagerei, Verschwörung und Verwünschung sowie der Kindsraub unterstellt.

In vielfältiger Weise werden diese Motive über Jahrhunderte weitergeschrieben, kopiert, variiert und zugespitzt. Sie finden in den Erziehungsromanen des 19. Jahrhunderts ihre Anwendung und erleben letztlich in der Rassenlehre der Nationalsozialisten und dem Völkermord an den Sinti und Roma ihren grausamen Höhepunkt. Die Stimme der Roma selbst wird indes in der Literatur kaum gehört. Über Jahrhunderte hinweg fehlen literarische Selbstzeugnisse der Romvölker.

Obgleich Bogdal seiner Untersuchung Werke aus dem gesamten europäischen Sprachraum zugrunde legt, versteift er sich nicht auf eine länderspezifische Untersuchung. Ihm geht es darum aufzuzeigen, wie sich die Vorurteile und Stereotype gegenüber den Romvölkern in Europa wiederholen und verfestigen. Die Ressentiments machen an den nationalen Grenzen nicht Halt.

Der Literaturwissenschaftler Bogdal hat dabei ein durch und durch politisches Buch geschrieben. Ein Buch, das bei den Beobachtungen über die Ächtung der Romvölker nicht stehen bleiben will. "Wissen kann den Aufgeklärten und Gutwilligen zur Selbstbeobachtung ermutigen, wirkliche Veränderung setzt mehr voraus: eine grundlegende Verbesserung der rechtlichen Verhältnisse, der sozialen Lage und der kulturellen Verständigung. Daran zu erinnern ist angesichts der gegenwärtigen Situation der Romvölker in Europa und der langen Geschichte der Verachtung alles andere als banal", schreibt Bogdal im Nachwort. Er endet mit dem Verweis auf die arabischen und afrikanischen Einwanderer an den Küsten Europas und der Warnung vor einer Wiederholung der Geschichte. Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 590 Seiten, Euro 24, 90.

Barbara Schneider

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