"Gott fehlt. Mir"

Theologisch aufregend: Martin Walser über die Rechtfertigung
Foto: Karin Rocholl
Foto: Karin Rocholl
Unsere Gesellschaft löst die Rechtfertigungsproblematik zunehmend durch einen Kampf um das Rechthaben. Martin Walser stellt nun in einem schmalen Buch die Frage nach der Rechtfertigung mit großer Radikalität neu - im Gespräch mit Friedrich Nietzsche und Karl Barth. Ulrich H. J. Körtner, Professor für Systematische Theologie in Wien, hat es gelesen.

Es sind, um mit dem Philosophen Nietzsche (1844-1900) zu sprechen, unzeitgemäße Betrachtungen, die Martin Walser in seinem jüngsten Buch zur religiösen Lage der Gegenwart anstellt. Der kurze Text klingt wie ein Fanfarenstoß, ganz wie die ersten Takte von Richard Strauß' sinfonischer Nachdichtung von Nietzsches "Also sprach Zarathustra", aus dem Walser reichlich zitiert. Hier schreibt ein jung gebliebener Alter mit einer Verve, die man bei den theologischen Buchhaltern der heutigen Professorengeneration vermisst, vergleichbar der Leidenschaft eines Stéphane Hessel, dessen Kampfschrift "Empört Euch!" einen Widerhall auslöste, den man auch Walsers Essay wünscht. Sein Büchlein "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" gehört - im Unterschied zu seinem Roman "Muttersohn" (2011) und der darin enthaltenen, 2010 vorab veröffentlichten Novelle "Mein Jenseits" - zu den aufregendsten theologischen Texten, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Mit ihm können sich jene nicht messen, die uns neue blühende Religionslandschaften versprechen und im Feuilleton die Verbuntung der Religion feiern, als erlebten wir gerade die technische Revolution vom Schwarz-Weiß-zum Farbfernsehen. Wohlgemerkt wende ich mich keineswegs gegen jene, die auf religiöser Sinnsuche sind, sondern gegen jene Mainstreamtheologen und theologischen Dünnbrettbohrer, die ihnen - frei nach Lukas 11,11-12 - Steine statt Brot geben, eine Schlange anstelle eines Fisches und einen Skorpion statt eines Eies. Walsers Essay ist ein rasantes Buch, inspiriert von jener Verwegenheit, ohne die nach Überzeugung des jungen Karl Barth eine Theologie nicht mehr zu begründen ist. Gegen den theologischen Common Sense erinnert hier ausgerechnet ein Nichttheologe an Barth und die Dialektische Theologie, jenen theologischen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg, der die neuprotestantische Synthese von Christentum und moderner Kultur radikal in Frage stellte. Hier wagt es ein Intellektueller, nicht etwa nur über Barths Theologie neu nachzudenken, sondern mit ihm - und Nietzsche - zu denken.

Leidenschaftliche Rede

Leider irrt Walser, wenn er glaubt, Barth gelte inzwischen als Kirchenvater des 20. Jahrhunderts und habe als solcher Friedrich Schleiermacher abgelöst. Für die deutschsprachige Gegenwartstheologie ist vielmehr festzustellen, dass Schleiermacher ungebrochen präsent ist und Theologen wie Adolf Harnack und Ernst Troeltsch wieder zur Ehre neokulturprotestantischer Altäre gelangen, während Barth und das Erbe der Dialektischen Theologie stark ins Hintertreffen geraten sind, wenn sie nicht überhaupt für Irrläufer der Theologiegeschichte gehalten werden. Dem steht allerdings eine starke Barth-Rezeption in der anglo-amerikanischen Theologie gegenüber (zz 7/11). Um so mehr darf man Walser für seine Erinnerung an Barth dankbar sein.

An die Stelle eines wohltemperierten Religionsbegriffs rückte Barth die leidenschaftliche Rede von Gott und seiner Offenbarung, welche der Welt und dem Menschen zur Krisis wird. Auch damals, 1919, als Barth seinen epochemachenden Kommentar zum Römerbrief veröffentlichte, den Walser ausgiebig zu Wort kommen lässt, herrschte eine bunte religiöse Gemengelage, von der Theosophie über die Anthroposophie bis hin diversen Formen des Okkultismus. Barth und seine Mitstreiter aber ließen sich nicht durch die Oberfläche der zeitgenössischen Religionskultur täuschen, sondern stellten sich jener Erschütterung, die von der Rede vom Tode Gottes ausging, die bei Jean Paul und Hegel ihren Anfang nahm und bei Nietzsche ihren Höhepunkt finden sollte. Sie loteten die unmögliche Möglichkeit aus, von jenem Gott zu reden, ohne den alle Theologie ihre Daseinsberechtigung verliert, und dessen Fehl zur Signatur der Moderne geworden ist.

Walsers Streitschrift zeigt, dass eine zeitgeistige Spiritualität und jener neuerdings um sich greifende Atheismus im Grunde aus einem Holze geschnitzt sind. Letzterem schreibt er ins Stammbuch: "Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung." Weiter: "In der Welt der Atheisten hat die Leere keinen Platz. Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen -ismus ersetzt wird. Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt." Und selbst bekennt Walser: "Gott fehlt. Mir." Gemessen an diesem Fehl Gottes ist alles Gerede von neuer Spiritualität ein Oberflächenphänomen.

Recht haben als Ersatz

Und Walser macht zugleich klar, was mit Gott abhanden gekommen ist: die Frage nach Rechtfertigung, welche die Geschichte des Christentums und des Abendlandes bis in das 20. Jahrhundert hinein umgetrieben hat. Bei Jean Paul und Fjodor Dostojewksi, auch bei Nietzsche, Franz Kafka, Thomas Mann und Robert Walser war diese Frage noch lebendig. Die Frage, wie der sündige Mensch vor Gott gerechtfertigt werden kann, war das beherrschende Thema der Reformation im 16. Jahrhundert. In der Moderne wurde Luthers Frage nach dem gnädigen Gott durch die angeblich radikalere nach der Existenz Gottes abgelöst. So dachte selbst der Lutherische Weltbund (LWB) auf seiner Vollversammlung 1963, also zur selben Zeit, in der das Zweite Vatikanische Konzil stattfand. Doch Walser präpariert scharfsinnig heraus, dass die Frage nach der Existenz Gottes keineswegs radikaler als jene nach dem gnädigen Gott ist.

Eine Gesellschaft, der die Rechtfertigungsproblematik in ihrer radikalen religiösen Dimension, wie sie allen voran bei Paulus, dann bei Augustin, Luther und Calvin durchbuchstabiert wird, abhanden gekommen ist, verfällt dem Irrtum, als genüge es zur Rechtfertigung der eigenen Person, Recht zu haben. Das Rechthaben aber gerät zur Rechthaberei. "Recht zu haben", so Walser, "ist der akzeptierte Ersatz für Rechtfertigung. Eine Art Bewusstseinsimperialismus auch. Oft genug verbunden mit Macht und Machtgefühl. Zeitgeistopportunität. Was ist denn political correctness anderes als eine Domestizierung des Gewissens, eine passe partout-Rechtfertigung?" Eben in solcher Selbst-Rechtfertigung aber besteht jene Versuchung, von der Walser im Untertitel seines Essays spricht und gegen die er anschreibt. Wer meint, die religiöse Frage nach der Rechtfertigung des Sünders erledige sich mit der Nichtexistenz eines gerechten Gottes, dem schlägt Walser vor: "Lesen wir's als Roman." Dieselbe fruchtbare Lesestrategie wählt auch Jack Miles in seinem Buch "Gott. Eine Biographie" (1996) und in der Fortsetzung "Jesus. Der Selbstmord des Gottessohnes" (2001).

Walsers Seminar

Lange Zeit galt die Rechtfertigungslehre als der fundamentale Widerspruch zwischen römisch-katholischem und evangelischem Glauben. Heute gilt dieser Streit zwar als überwunden. Doch in Wahrheit war die Gemeinsame Erklärung von LWB und römisch-katholischer Kirche 1999 nur der Schwanengesang der Konsensökumene und zugleich der Beweis, wie wenig die Frage nach der Rechtfertigung die beteiligten Kirchen selbst noch umtreibt. Walser stellt sich vor, ein Seminar über Barth und Nietzsche abzuhalten, immer freitags von 13 bis 15 Uhr. Was Walser umtreibt, ist eine "Hoffnung, die sich kühn anfühlt oder vermessen: Nietzsche, den Pfarrersohn heimzuholen. Also aufzuzählen, nachzuweisen, wie viel evangelische Theologie noch übriggeblieben ist in ihm und in seinem Zarathustra." Das erinnert an Eberhard Jüngels Versuch, die Rede vom Tode Gottes auf den Spuren der Dialektischen Theologie in die Theologie heimzuholen.

Ich möchte mich gern für Walsers Seminar anmelden und auf ein Missing Link zwischen Nietzsche und Barth hinweisen, den Walser nicht erwähnt: Franz Overbeck, Neutestamentler und Kirchenhistoriker in Basel und Freund Nietzsches. Er, der radikal mit der modernen Theologie abrechnete und sich zum Unglauben bekannte, wurde vom jungen Barth als heidnischer Zeuge der Auferstehung interpretiert. Und den Satz, wonach Theologie anders als mit Verwegenheit nicht wieder zu gründen sei, hat Barth bei Overbeck gefunden. Die deutliche Ironie des Satzes, mit der Overbeck, der seinen persönlichen Glauben verloren hatte, seine schroffe Distanz zur modernen Theologie zum Ausdruck brachte, ist Barth möglicherweise entgangen. Oder aber er hat auch an dieser Stelle Overbeck kräftig gegen den Strich gebürstet. Walser wagt den Versuch, das Religiöse im radikalen Sinne Barths, Augustins und Luthers "vor dem Vergessen zu bewahren. An eine Sprache zu erinnern, in der Rechtfertigung noch vorkommt." Wenn es stimmt, dass Gott durch die Sprache zur Welt und uns Menschen kommt, dann ist die Sprachkrise heutiger Theologie und Verkündigung eine Gotteskrise. Walser schließt sein Büchlein in Nietzschescher Manier mit einem Gedicht. Daher erlaube ich mir, auch meinerseits mit einem Gedicht zu schließen, das ich vor mehr als zwei Jahrzehnten meinem Essay "Theologie in dürftiger Zeit" (1990) als Motto vorangestellt habe: Die Sprache schweigt - doch wir brechen das Schweigen und teilen es aus unter Bettlern, die vor den Kirchenportalen im Kehricht nach essbaren Worten wühlen. Literatur: Martin Walser: Über Rechtfertigung, eine Versuchung: Zeugen und Zeugnisse. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012,112 Seiten, Euro 14,95.

Ulrich H. J. Körtner

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