Natürlich ist das Thema eine Provokation. Für beide Seiten. Für die Kirche und für die Kunst - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Was hier zunächst die Theologen und Kirchenleute angeht, einschließlich der Gebildeten unter den Verächtern der neuen Musik, so mag ein paradoxes Thema wie dieses sie daran erinnern, was sie verloren, aber auch nicht mehr gesucht, also preisgegeben haben. Jahrhundertelang, soviel steht fest, gehörte das Komponieren dazu, war Bestandteil der Institution. Natürlich immer, da nun einmal die Reise zum Unbedingten (Paul Tillich) von zwei Polen aus angetreten wurde, in latenter Konfliktstellung zu Theologie und Liturgie. Seit dann die Aufklärung wie die Göttin "Eos im Safrangewand" (Homer) rundum die Erde erleuchtete, hat man sich aus den Augen verloren.
Sicher, auch den Komponisten war es anfangs ganz recht, dass sie aus der Kirche verabschiedet wurden. Man kann auch sagen: sie haben sich, Eigenbrötler, die sie nun einmal sind, von der Herde absentiert, nur ohne dass ihnen auch von Hirtenseite mit gesondertem Eifer nachgeforscht worden wäre. "Ersatz" war ja schnell, billig und vor allem willig zur Hand.
So könnte es denn gut sein, dass eine der letzten "Begegnungen" von "Glauben und Avantgarde", die noch den Namen verdient, ins Jahr 1956 fällt. Die Beteiligten sind von einiger Prominenz: Auf der einen Seite mit Igor Strawinsky die Verkörperung der Musik-Moderne schlechthin. Sein Gegenüber, Angelo Giuseppe Roncalli, Kardinal und Patriarch von Venedig: weltgewandt, kunstinteressiert, kunstverständig und - unbequem. Mit seinen Biennale-Besuchen, seinen Grußadressen an Sozialisten-Kongresse hat er nicht wenige seiner Zeitgenossen überrascht und Rom zur Weißglut gebracht. Ehe er abschwören konnte, hatte man ihn als Johannes XXIII. selber zum Papst gemacht. Noch als Kardinal - Basilica San Marco, 13. September 1956 - wurde er Ohrenzeuge der Uraufführung von Strawinskys "Canticum sacrum", worin der Komponist zwar jede Menge neoklassizistischen Normalton ablieferte, in Gestalt von "Surgo, aquilo" freilich auch serialistisches Neuland betrat.
Murder in the cathedral
Avantgarde auf der Höhe der Zeit. Im Publikum auch der Stellvertreter in spe, der es wissen wollte. Schon im Vorfeld, bei Gelegenheit eines Plauschs mit dem Komponisten, erkundigt sich Roncalli nach dem Wie und Warum der Textwahl aus dem alttestamentlichen Hohen Lied und sorgt im Übrigen dafür, dass die Aufführung aus der Kirche heraus auf die Piazza übertragen wird - damit auch "das Volk" in den Genuss der neuen Klänge komme. Als Strawinsky nach Konzertende heraustritt - empfängt ihn der "Applaus hunderter Menschen". Nur die Presse ist nicht überzeugt - das Time Magazine meckert: "Murder in the Cathedral".
Es gibt darüber keine Erhebungen - und doch scheint es nach Lage der Dinge gut möglich, dass der promovierte Bauernsohn aus dem lombardischen Sotto il Monte der letzte halbwegs neugierige Neue Musik-Hörer unter den (Ober-)Hirten der "einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche" gewesen ist. Anders als ein Kölner Erzbischof unserer Tage, der nach einem für ihn nicht zu umgehenden Neue-Musik-Abend die ausübenden Musiker wissen ließ, er habe sich dabei irgendwo "zwischen Keller und Badezimmer versetzt gefühlt". Schon den römischen Bischof Cyril Franco überkamen ja Zweifel, als er Messekompositionen anhören musste, die auf "L'homme armé", dem profanen Chanson vom bewaffneten Mann aufgebaut waren. "Was zum Teufel", so konnte Franco schimpfen, "hat die Musik mit dem bewaffneten Mann oder dem Herzog von Ferrara zu tun?!" Die Übeltäter: Josquin des Prèz (1450/55-1521), Jacob Obrecht (1457/58-1505), Pierre de la Rue (1460 - 1518).
Bessere Ausreden bei Protestanten
Dass die Lage in Sachen "Begegnung von Glauben und Avantgarde" im Lager der abgespaltenen Brüder und Schwestern anders aussieht, wird niemand erwarten dürfen. Nur die Ausreden der Protestanten waren besser. Dass man den größten Kirchenkomponisten aller Zeiten in den eigenen Reihen wusste und weiß, hat die Bachpflege trotzdem keinen Millimeter an das zeitgenössische Komponieren herangebracht. Namhafte Komponisten wie Hans-Joachim Hespos, Jörg Herchet, Dieter Schnebel (Letzterer als Komponist neuer Musik zugleich Theologe) sind in evangelischen Kreisen weitgehend unbekannt geblieben. Was andererseits nun auch kein allzu großes Wunder ist, verstehen sich die Genannten ja gerade nicht als Lieferanten von Musical und Gospelopern, was hierzulande ziemlich notorisch mit "Neuer Kirchenmusik" respektive "Neuer Musik in der Kirche" verwechselt wird.
Ein Missverständnis mit Methode. Spätestens nämlich, als auch in den Kirchen die Steckdosen installiert und die Pfarrer bestrebt waren, nur ja keinen Trend zu verpassen, war die Sache entschieden. Seitdem durften und dürfen ängstliche Bemühtheit und anbiedernde Halbherzigkeit einander die Hände reichen. Den Segen dazu gab eine windelweiche EKD-Denkschrift zu "Religion und Kultur in evangelischer Perspektive", die zu den "Räumen der Begegnung" ausdrücklich die vormaligen Sündenpfuhle Kino und Disco rechnete, neuerdings durch "Chatroom" und "Shopping Mall" ergänzt. Kurz, alle nur denkbaren Niveaus wurden so weit unterschritten, dass der Gedanke an "Kritik" hier völlig hoffnungslos ist.
Auf der Höhe von Brahms
Auf der anderen Seite die Welt derjenigen, die sich das Komponieren zum Beruf erwählt haben. Nur - was heißt hier schon Welt? Seit Arnold Schönbergs legendärem "Verein für musikalische Privataufführungen" war der Anspruch, die Musik auch künftig als kreative Kunst zu verstehen, an Enklaven, an Inseln des aufrechten kompositorischen Ganges gebunden. Gebraucht wurden sie, um einer prekären Lage zu entkommen: der Zwickmühle zwischen Vermarktung und Kulturindustrie hier und Musikmuseum dort - auch ein Erbe der "Moderne". Also lautet(e) die Aufgabe: Wie lässt sich Kunst-Musik auf der Höhe von Brahms schreiben, ohne dass diese als schlechte Brahms-Kopie durch die Welt laufen muss? Ein Anspruch, der nur mit partiellem Öffentlichkeitsverlust umsetzbar war und ist. Eine Geschichte der Neuen Musik seit der Gründung der zweiten Republik ist eine, die sich um wenige Punkte herum erzählen lässt: Die Festivalorte in Mittel- und Kleinstädten, die Konzertreihen der Rundfunk-Sinfonieorchester - alles dies bequem an zwei Händen abzuzählen. Und doch: Was Komponieren hieß und heißt - das musste und muss sich immer noch dort bewähren.
Dann noch dies: Zum Selbstverständnis der jungen Tonkünstler gehörte in den Aufbruchsjahren nach dem Krieg die Skepsis gegenüber jedweden Inhalten. Neue Musik sollte ganz neu sein, sollte nichts aus der Vergangenheit mitschleppen müssen. Und was aus der Vergangenheit übernommen wurde, musste sich seinerseits dem serialistischen Reihenprinzip unterwerfen - wie im "Gesang der Jünglinge". Für diese erste mit Kunsternst auftretende Tonbandarbeit der Geschichte nahm Stockhausen die Worte (ohne sich groß um "Glauben und Avantgarde" zu scheren) aus dem Buch Daniel, um sie verhäckselt, verfremdet im elektronischen Material unterzupflügen. Dass schließlich Luigi Nono, ein anderer Heros der Avantgarde, wegen seines "Epitaffio per García Lorca" in die Kritik geraten konnte, weil darin "zu viel Inhalt" vorkam, löst heute nur mehr Kopfschütteln aus. Und doch - wer den Standpunkt der Kunst-Musik zur Frage des Verhältnisses von "Glauben und Avantgarde" verstehen will, wird am sensiblen Verhältnis von Musik und Sprache nicht vorbeikommen. Zonen der Unberührbarkeit jedenfalls kann es von Kunst-Seiten nicht geben. Alles, was vorstellbar ist, ist Material, geht ein, muss in den Schmelztiegel eingehen, der in jeder Komponistenwerkstatt unter Feuer steht. Was dann aber auch vom Fixpunkt des Glaubens gilt - so jedenfalls die Verabredung unter Künstlern. Denn, wie sollte man "Gott" auch komponieren?
Murkes Schweigen
Was man nicht komponieren kann, darüber muss man schweigen. Den von Ludwig Wittgenstein geborgten Satz hätte ein Dr. Murke jedenfalls bequem unterschrieben. Die Skepsis jenes Kölner Rundfunkredakteurs ("jung, intelligent und liebenswürdig"), den Heinrich Böll in der Kurzgeschichte "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" dem philosophisch haltlosen, politisch reaktionären Treiben der Bur-Malottkes dieser Welt entgegengestellt hat - diese Skepsis ist den Nachkriegs(ton)künstlern in Fleisch und Blut übergegangen. Sicher: Das Weiterleben der NS-Ideologie in der Kultur der Nachkriegszeit, was die Intellektuellen der jungen Republik umgetrieben hat, ist mittlerweile selbst Geschichte geworden. Und auch die "religiösen Bedenken" Bur-Malottkes gehen uns nichts mehr an, wenn dieser etwa darauf besteht, in seinen "im Eifer des fünfundvierziger Jahres" produzierten Rundfunkvorträgen nachträglich das Wort "Gott" herauszuschneiden und durch "jenes höhere Wesen, das wir verehren" zu ersetzen.
Eben dafür musste Murke zu seinem großen Unwillen den Helfershelfer spielen, weshalb er, ausgerechnet als Redakteur in der Abteilung "Kulturelles Wort", das Schweigen liebt. So sehr, dass er die herausoperierte(n) "höchste(n) Wesen" in einer "blechernen Zigarettenschachtel" deponiert. "Gott"? - Eine Tonbandschnipsel-Sammlung. Jedenfalls, wenn es nach Murke geht, diesem Konzeptkünstler von John Cage's Gnaden.
"Siebenundzwanzigmal Gott, von Ihnen gesprochen. Wollen Sie sie haben?" Bur-Malottke, dem die Frage gilt, lehnt dankend ab. Dann, als das Band glücklich zu Ende frisiert ist, als "Gott" siebenundzwanzigmal herausgeschnitten und unter Beachtung des jeweiligen kasualen Bezugs durch das "höhere Wesen, das wir verehren", ersetzt ist, ist es am assistierenden Techniker, seinem Redakteur mit der am naheliegensten aller naheliegenden Fragen zu konfrontieren. "'Was machen wir mit der Dose?´ Er zeigte auf die Zigarettenschachtel, die oben im Regal zwischen den Kartons mit neuen Bändern stand. 'Lassen Sie sie stehen', sagte Murke."
Eine Antwort, die bis heute von einiger Weisheit ist: Nichts damit machen. Aber auch, so die Empfehlung Murkes, dieses Anhängers einer Negativen Theologie: Nicht wegwerfen. Will sagen: Nichts ausschließen. Im Dialog bleiben.
Georg Beck