Finsternis des Herzens

William Golding, vor hundert Jahren geboren, schrieb sein Leben lang
William Golding (1911-1993). Foto: dpa/Pressensbild
William Golding (1911-1993). Foto: dpa/Pressensbild
Am 19. September 1911 wurde der Schriftsteller William Golding geboren. Der größte Erfolg des Literaturnobelpreisträgers, Herr der Fliegen, wurde zunächst von zwanzig Verlagen abgelehnt. Der Journalist Roland Mörchen porträtiert den Engländer.

Als 23-Jähriger veröffentlichte William Golding einen Gedichtband, von dem er später so wenig hielt, dass er nicht einmal mehr ein Exemplar behielt. Berühmt wurde er tatsächlich nicht mit Lyrik, sondern mit zwölf Romanen - darunter einer, den fast jedes Kind kennt, weil er zur Schullektüre wurde: Herr der Fliegen. Golding, selbst jahrelang Lehrer, beherrschte es meisterhaft, auch für Kinder verständlich zu schreiben. Dass mehr als zwanzig Verlage dieses erste Romanmanuskript ablehnten, bevor es Faber and Faber 1954 nach gravierender Umarbeitung druckte, will man heute kaum glauben.

Aber seit dieser Veröffentlichung ist der Name "Golding" ein Begriff. Für Schüler eignet sich der Roman, weil sie teilweise im Alter der Protagonisten sind und ähnliche Methoden des kollektiven Mobbings vielleicht schon erfahren haben. Das brutale Überlebenstraining erscheint im Roman so spannungsgeladen wie eine Abenteuergeschichte. Doch Goldings Buch ist mehr als das: eine vortreffliche Parabel über die Gesellschaft und ihre falschen Sicherheiten. Dass es sich um Kinder handelt, die da übereinander herfallen, macht die Sache nur brisanter.

Das Böse in uns allen

Zwei Verfilmungen zeugen bis heute von der Popularität des Romans. Die Adaption des Theaterregisseurs Peter Brook aus dem Jahr 1963 gilt noch immer als die Version, die der Psychologie der Vorlage nichts schuldig bleibt. Brooks realistische Inszenierung ließ sich ganz auf die von Golding geschilderte Regression ein und erlaubte den jungen Protagonisten sogar die Improvisation. Harry Hooks aktualisierte US-Produktion von 1988 schielte dagegen stärker nach den Konventionen des veräußerlichten Action-Kinos.

Reduziert man das Leben des Literaten auf die Fakten, ahnt man nichts von den Erschütterungen, gegen die er hellsichtig anschrieb: Geboren in Cornwall, Studium der Naturwissenschaften und Anglistik in Oxford, Marineoffizier im Zweiten Weltkrieg, 1983 Nobelpreis, fünf Jahre vor seinem Tod am 19. Juni 1993 von der Queen geadelt.

Goldings Kriegserfahrungen legen sich in etlichen Romanen aus. "Das Böse steckt in uns allen", schärfte er seinen Landsleuten ein, die sich für anständige Menschen hielten, nur weil sie gegen die Nazis gewonnen hatten. Der Satz richtete sich gleichzeitig an alle Erdenbürger, denn die Auswüchse des Bösen waren Goldings großes Thema. Er entwarf seine Romane jedoch eher intuitiv und schrieb nicht, um "Botschaften" zu vermitteln. Eine Aussage, die nicht immer eindeutig zu sein brauchte, stellte sich von selbst ein. Golding behauptete sogar, seine Intentionen nach Abschluss einer Arbeit sofort wieder zu vergessen.

Verbohrte Menschheit

Das klingt absurd, aber jedes Buch bekommt ein Eigenleben und muss ohne den "Schöpfer" bestehen können. Der eigenbrötlerische Literat sah sich als Berühmtheit dem öffentlichen Interesse ausgesetzt. Neugierigen Briefschreibern wich er am liebsten mit dem Hinweis aus, dass er zu nichts anderem mehr käme, wolle er jede Anfrage beantworten. Was es heißt, Objekt der Begierde zu sein, thematisierte er 1984 im Roman Papier-Männer, als er vom absurden Verhältnis zwischen einem Autor und seinem Biographen erzählte. Vor allem aber reflektieren seine Werke die politischen Ideologien und weltweiten Krisen des 20. Jahrhunderts. Laut Golding hatten die popularisierten Ideen von Marx, Darwin und Freud die ganze Welt in eine "mentale Zwangsjacke" gesteckt. Er zeigte, wie verbohrt die Menschheit Denkgebäude zimmert, die Ratio zum Gott erhebt und doch in völliger Irrationalität bereit ist, den Globus in die Luft zu sprengen.

In Herr der Fliegen droht der ultimative Krieg. Doch das Flugzeug, das seine Passagiere an einen sicheren Ort bringen soll, stürzt ab. Eine Insel wird für die überlebenden Kinder zur kleinen Welt, in der sie ohne die Erwachsenen nach und nach die gute Erziehung vergessen und in barbarische Urtriebe zurückfallen. Macht und Unterdrückung, Gruppenzwang und Jagdinstinkte gewinnen die Oberhand. Die oft so gepriesene Hochkultur ist nur eine Fassade, hinter der ein gefährliches Tier lauert. Einmal entfesselt, frisst es seine Kinder. Sie verfallen auf das Böse in Gestalt eines Schweinekopfs, auf den "Herrn der Fliegen", den Beelzebub - und doch gibt es auch in diesem apokalyptischen Insel-Inferno immer noch einige Wenige, die das Zepter der Humanität hochhalten. Goldings Analyse versteht das (Fehl-) Verhalten weder biologistisch noch deterministisch. Auch wenn die Veranlagung zur Sünde der menschlichen Natur und Freiheit nicht abzusprechen ist, muss niemand zwangsläufig dem Bösen erliegen. Golding sieht die Verführbarkeit des Homo sapiens, die dünne Wand, die den zivilisierten Menschen von der Barbarei trennt.

Über kreatürliche Grenzen hinaus

Als Motto stellt er seinem Roman ein längeres Zitat aus Goethes Faust voran, in dem Mephisto die Sünde, die Zerstörung, "kurz das Böse", als sein "eigentliches Element" bezeichnet. Was der Junge Ralph am Schluss des Buches beweint, sind nicht nur die Toten, es ist auch "das Ende der Unschuld, die Finsternis in des Menschen Herz". Herrschsüchtiger Egoismus sabotiert sowohl die Gemeinschaft als auch die göttliche Ordnung. Golding erkennt ein Ur-Böses im Menschen, dessen "erbsündige" Konstitution er literarisch verdichtet.

Oberflächlich betrachtet würde man den Autor wohl kaum für einen großen Metaphysiker des 20. Jahrhunderts halten. Zu illusionslos, zu sehr dem Gewühl des irdischen Lebens verhaftet scheinen seine Romane vom Krieg und vom Tod zu sein. Dennoch greift Golding über die kreatürlichen Grenzen hinaus, indem er sich tief in die menschliche Existenz vergräbt und bis zu ihrem Kern vorstößt, um darin freizulegen, was niemand gern sehen mag: dass nämlich in der Seele, die doch zum Guten berufen ist, ein Hort des Bösen schlummert, der nur darauf wartet, wie die Büchse der Pandora geöffnet zu werden, damit alle Schrecknisse in die Welt entlassen werden können.

Anspielungen auf das Kulturgut des christlichen Abendlandes sind bei Golding an der Tagesordnung. In Freier Fall dient die autobiographische Rückschau des Ich-Erzählers der Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit, mit der ihm der Verlust personaler Freiheit und die Selbstverfehlungen klar werden. Sammy Mountjoy verliert sich durch Hochmut selbst. Er ist wie ein gefallener Engel, der sich gegen den Schöpfer gewendet hat. In Der Turm der Kathedrale lässt Dechant Jocelin einen Kirchturm zur Ehre Gottes (und seiner selbst) himmelhoch errichten. Doch dieses steingewordene Gebet wächst sich zu einem Sündenbabel aus, bei dem das fromme Anliegen in einem wahnsinnigen Strudel aus Niedertracht, Hybris, Fleischeslust, Gewalt und Aberglauben versinkt. Am Ende steht der Turm vielleicht doch wie ein neuer Baum der Erkenntnis von Gut und Böse da.

Christlicher Mystizismus

In "Das Feuer der Finsternis" sind die visionären und soteriologischen Bezüge nicht weniger deutlich. John Miltons Paradise Lost scheint im Hintergrund genauso auf wie die Bibel, aus der Golding die apokalyptischen Texte herbeizitiert, um sie als Sinnbilder einer modernen Welt zu nutzen, in der das Böse durch "Sex and Crime", Terror und Tod vollends entfesselt wird. Literaturwissenschaftler sahen in diesem Höllen-Furioso einen christlichen Mystizismus, der sich etwa in dem kriegsversehrten Außenseiter Matty äußert. Ganz naiv nimmt er die christologische Botschaft des Neuen Testaments beim Wort, zumal er zu bildhaftem Denken nicht mehr fähig ist. Trotz seiner Fehlbarkeit sieht Golding ihn als integere Person, begabt mit dem Willen zur Vergebung. Wenn überhaupt, dann lässt Mattys Existenz spüren, dass die Welt ohne Transzendenz wie das Paradies verloren ist.

Besonders das Schiff, das um 1800 zu den australischen Kolonien der britischen Krone segelt, funktioniert im Roman Äquatortaufe als Spiegelbild der Gesellschaft. Dieser Seelenverkäufer ist keine rettende Arche. Höhergestellte und niedere Klassen sind genau unterschieden. Mittendrin befindet sich der unscheinbare Priester Robert James Colley, der von den Seeleuten gezwungen wird, seinem christlichen Gott abzuschwören und vor Neptun in die Knie zu gehen. Diese Erniedrigung wirft den armen Kerl, der sich nur noch mehr zum Narren macht, völlig aus der Bahn und bringt ihn um den Seelenfrieden. Macht und Größe Gottes, an die Colley glaubt, drücken sich aus in der ehrfürchtigen Großschreibung: "Ja, auf diesem Schiff mit seinen unzähligen Menschen an Bord war ich allein an einem Ort, an dem ich plötzlich das Gericht GOTTES fürchtete, ungemildert von Seiner Gnade. Ich fürchtete plötzlich GOTT und den Menschen!" Colley scheitert wie Dechant Jocelin in "Der Turm der Kathedrale" nicht zuletzt an den allzu hohen Ansprüchen an sich selbst. Für Golding ist kein Ereignis nur schwarz oder weiß, was sich formal in den Romanfiguren äußert, die von den Geschehnissen aus ihrer jeweiligen Sicht berichten.

Spätestens die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs raubte ihm alle Illusionen, die er sich bis dahin vielleicht noch über die Menschen gemacht hatte. Golding, der sich auch als Bühnenautor versuchte, fühlte sich nicht umsonst von Euripides beeinflusst. Auch der griechische Tragödiendichter stellte die Menschen dar, wie sie sind, und nicht so, wie sie sein sollten. Golding sah das Erdenrund als Hölle, hoffte aber, dass es noch etwas anderes als "Verdammnis" geben würde. Als sein Verständnis von einer zerrütteten conditio humana literarisch immer häufiger Gestalt annahm, musste er sich damit abfinden, von Kritikern zum ewigen Pessimisten abgestempelt zu werden. Golding lehnte dieses zweifelhafte Prädikat jedoch lebenslang ab. Wer Romane publiziert, hat längst nicht aufgegeben.

Provozieren zur Selbsterkenntnis

Golding schrieb gegen die Hölle an, indem er weder sich selbst noch seinen Lesern etwas vormachte. Er stellte die Personen und die von ihnen teils selbst geschaffenen Situationen ungeschminkt dar, um wenigstens zeitweise eine Selbsterkenntnis provozieren zu können. Golding gewährte seinen Lesern keine fadenscheinigen Tröstungen. Auch wenn es wie in Herr der Fliegen ein quasi erlösendes Ende gibt, bleibt es fragwürdig, weil oft Tote zu beklagen sind und der Mensch wieder einmal gezeigt hat, zu welchen Rasereien er fähig ist.

Golding zeichnete ihn keineswegs als unfreies Geschöpf, das bloß zum Spielball innerer und äußerer Bedingungen wird. Jeder kann widerstehen und allen Verlockungen ein "Nein" entgegensetzen, auch dann noch, wenn er zu schwächeln droht. So ist in Das Feuer der Finsternis der wohlmeinende Matty im Gegensatz zur kriminellen Sophy derjenige, der nicht nur sich selbst sieht und darum keineswegs auf Moral pfeift. Zu allen Zeiten lockt der Stachel des Bösen und sticht die Menschenkinder so lange, bis sie alle freiheitliche Verantwortung über Bord werfen und Jagd auf ihre Opfer machen. Für Golding mag die Welt von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Aber er erzählte von schuldigen Geschöpfen, die ohne Sühne, Erlösung und Vergebung noch weniger als nichts wären.

Roland Mörchen

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