Chance nicht verspielen

Die EU muss Wort halten und einen Beitritt der Türkei ermöglichen
Europaabgeordnete stimmen für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Foto: dpa
Europaabgeordnete stimmen für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Foto: dpa
Für den europapolitischen Sprecher der Grünen, Manuel Sarrazin, ist schon der Beitrittsprozess eine Erfolgsgeschichte.

Die Türkei gehört in die EU. Ja, auf eine modernisierte Türkei, die die politischen und wirtschaftlichen Kriterien für eine Mitgliedschaft erfüllt, kann die EU nicht verzichten. Eine europäische Perspektive ist der Türkei bereits 1963 gegeben und mit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 erneuert worden. Und es gibt keinen Grund, dass Europa sein Wort bricht.

Der bisherige Beitrittsprozess ist eine Erfolgsgeschichte. Der Einfluss des Militärs wurde beschnitten, und die Kurdenfrage wird offen debattiert. Ebenso hat sich die Lage der Menschenrechte insgesamt verbessert, auch wenn weitere Reformen notwendig sind. Wirtschaftlich hat die Türkei in den vergangenen Jahren ein enormes Tempo vorgelegt: Sie hatte im Jahr 2010 die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft Europas. Und außenpolitisch übernimmt die Türkei immer mehr Verantwortung, sie ist zur wichtigsten und einflussreichsten Akteurin der Region geworden. Das hat nicht zuletzt die stabilisierende Rolle der Türkei im arabischen Frühling gezeigt. Die EU steht also vor der Wahl, ob sie eine moderne, demokratische und gleichzeitig islamisch geprägte Akteurin in ihre Gemeinschaft aufnehmen oder sich - aus rückwärtsgewandten kulturdeterministischen Gründen - in ihrem christlichen Club einmotten will.

Zu Recht gibt es an der Beitrittsfähigkeit der Türkei große Zweifel. Denn sie hat immer noch mit erheblichen Demokratiedefiziten zu kämpfen. Das betrifft vor allem die Meinungs- und Pressefreiheit, den Minderheitenschutz und die Verwaltung und Justiz. Die Festnahmen renommierter Medienleute haben diesen Eindruck jüngst bestätigt. Auch die Parlamentskrise und die Äußerungen zum Zypernkonflikt werfen die Frage auf, in welche Richtung Ministerpräsident Tayyip Erdogan steuert. Diese Irritationen muss er ausräumen und an die Reformen der vergangenen Jahre anknüpfen. Bei der Verfassungsreform muss Erdogan zeigen, ob er auf Europakurs bleibt und die Demokratiedefizite seines Landes angeht oder ob es ihm allein um die Zementierung seiner Macht geht. Die Generalsanierung der Justiz, eine Änderung der Zehn-Prozent-Klausel bei Parlamentswahlen, die Meinungs- und Pressefreiheit und der Umgang mit ethnischen Minderheiten im Sinne der politischen EU-Kriterien gehören zu den drängendsten Aufgaben.

Populismus pur

Das nachlassende Tempo bei den innenpolitischen Reformen ist aber auch durch die stagnierenden Beitrittsverhandlungen bedingt. Sie sind mangels Verhandlungsmasse de facto zum Stillstand gekommen. Acht Verhandlungskapitel sind an die vollständige Umsetzung des Ankara-Protokolls geknüpft. Die Umsetzung und die Lösung des Zypernkonflikts gehören neben den innenpolitischen Herausforderungen zu den dringend notwendigen Schritten, die Erdogan auf dem Weg in die EU beschreiten muss. Aber auch die Union ist für den Stillstand mitverantwortlich. Vor allem die Politik Deutschlands und Frankreichs lässt immer wieder deutlich erkennen, dass die Türkei in der EU nicht erwünscht ist. Diese Blockadehaltung ist für den Reformprozess in der Türkei schädlich. Sie muss endlich aufgegeben werden. Eine glaubwürdige europäische Perspektive würde dagegen die Kräfte stärken, die in dieser Situation der Regierungspartei AKP innenpolitisch etwas entgegensetzen können. Diese Unterstützung brauchen die proeuropäischen Kräfte in der Türkei heute stärker denn je.

Stattdessen beschwören Beitrittsgegner die Gefahr, dass die EU ihre rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien auf dem Beitrittsaltar der Türkei opfere. Doch das ist Populismus pur. Denn die Frage der Mitgliedschaft stellt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 haben die EU und die Türkei vielmehr einen Prozess in Gang gesetzt, an dessen Ende eine Mitgliedschaft der Türkei stehen kann. Diese ist und bleibt an klare Konditionen geknüpft: Die politischen und wirtschaftlichen "Kopenhagen-Kriterien" und die Werte der Union sind nicht verhandelbar. Vor der Öffnung und dem Abschluss jedes einzelnen Verhandlungskapitels muss die Türkei außerdem Zielmarken erfüllen, die im Vorfeld gemeinsam festgelegt werden. Der EU-Rat muss der Öffnung und dem Abschluss jedes Kapitels zustimmen. Von einem Beitrittsautomatismus kann daher keine Rede sein. Als EU-Mitglied kommt also nur eine Türkei in Frage, die die Werte und Kriterien der Union erfüllt. Und dass dafür noch grundlegende Staats- und Rechtsreformen notwendig sind, hat die türkische Regierung selber deutlich gemacht.

Die bremsenden Kräfte in der EU müssen ihren Widerstand jetzt aufgeben und den Beitritt der Türkei als Chance begreifen, die nicht verspielt werden darf. Wenn die Union ihre eigenen Werte glaubwürdig vertreten will und Rechtsstaat, Menschenrechte, individuelle Freiheit und Demokratie unabhängig von der religiösen Prägung einer Gesellschaft als Maßstab anlegt, muss sie den Beitrittsverhandlungen neues Leben einhauchen und der Türkei eine faire Chance geben, nach Erfüllung aller Kriterien der EU beizutreten.

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Manuel Sarrazin

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