Zeit der Umkehr

Warum viele Palästinenser auf die Anerkennung eines unabhängigen Staates hoffen
Eine bis zu acht Meter hohe Betonmauer zerschneidet palästinensische Ortschaften. Foto: Bettina von Clausewitz
Eine bis zu acht Meter hohe Betonmauer zerschneidet palästinensische Ortschaften. Foto: Bettina von Clausewitz
Bei der UN-Vollversammlung in diesem Monat will die Palästinenserführung die Anerkennung eines eigenen Staates beantragen. Die Journalistin Bettina von Clausewitz war im Westjordanland unterwegs.

Ohne seine Armee wäre Israel längst von der Landkarte verschwunden, sie gehört zum Straßenbild dazu. Sogar im Dienst lassen sich die jungen Wehrpflichtigen an manchen Orten freundlich lächelnd mit dem Gewehr im Anschlag fotografieren. Andernorts dagegen sind sie nicht zum Spaßen aufgelegt. Am tristen Fußgänger-Checkpoint zum palästinensischen Dorf Al'Numan etwa, das durch militärische Sperranlagen zur No-Go-Area geworden ist, unsichtbar hinter Hügeln und Stacheldraht. "Das Dorf ist seit dem Mauerbau völlig isoliert, weil es verwaltungstechnisch zu Jerusalem und damit zu Israel gehört. Die Menschen haben aber palästinensische Ausweise, und dadurch sind sie praktisch illegal im eigenen Land", erklärt Ben Meystre. Der junge Schweizer hat in Genf Jura studiert und jetzt drei Monate für das Ökumenische Begleitprogramm in Israel und Palästina (EAPPI) gearbeitet, als freiwilliger Beobachter der Menschenrechtslage in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten.

Die Trennmauer zwischen Israel und Palästina "hat unsere Städte und Dörfer in Gefängnisse verwandelt", heißt in dem umstrittenen Kairos-Papier "Stunde der Wahrheit", das palästinensische Christen aus dem Westjordanland im Dezember 2009 in die Welt schickten. Es ist ein eindringlicher Appell, Menschenrechtsverletzungen, Enteignungen durch jüdische Siedlungen und alltägliche Demütigungen an den Checkpoints in dem seit 1967 von Israel besetzten Gebiet nicht länger zu ignorieren: "Wir bitten unsere Schwesterkirchen, keinen theologischen Deckmantel für das Unrecht anzubieten, unter dem wir leiden, oder über die Sünde der Besetzung." Das sind starke Worte. Aber sie füllen sich vor Ort mit Leben und offenbaren die Komplexität des Nahostkonflikts.

Die Menschen in Al'Numan freuen sich über Besuch, denn nur selten kommt hier jemand vorbei. Der Taxifahrer weigert sich, uns direkt bis zum Kontrollposten zu fahren. Er will zu den Soldaten lieber Abstand halten. Und so gehen wir zu Fuß unter einem Wachturm durch einen Käfigverhau zu dem grauen Container, der hier als Kontrollposten dient. Klingeln an der Tür, unsichtbare Blicke durch die Kontrollkamera und ein lädiertes Panzerglasfester, auf dem wohl mal ein dicker Stein gelandet ist.

Tägliche Demütigung

Nach einer Weile des Wartens in der prallen Sonne öffnet sich die Tür in einen stickigen Raum. Ein Metalldetektor, ein dreckiger Plastiktisch für die Gepäckkontrolle und ein verschmutzter Betonboden. Hier müssen die Kinder von Al'Numan jeden Tag durch, wenn sie zur Schule wollen - morgens und nachmittags. Alleine mit den Soldaten. Mit deren Langeweile und Willkür. Es soll vorgekommen sein, dass sich einzelne Kinder nackt ausziehen mussten, und alle anderen sind an ihnen vorbeimarschiert, hat EAPPI-Chefin Pauline Nunu kurz zuvor erzählt. Ein Junge soll gezwungen worden sein, seine Eltern zu beschimpfen - während ein Soldat ihm sein Gewehr an den Kopf hielt.

Jetzt ist nur ein einzelner Wachposten da und kontrolliert unsere Pässe. "Kein Problem", sagt Ben Meystre, der normalerweise ab morgens um vier als Beobachter an dem großen Checkpoint 300 in Bethlehem steht. Auch hier war er schon häufiger und kennt sich aus. Aber heute gelten neue Regeln. Kein Diskutieren durch die Panzerglasscheibe hilft. "Nur Botschaftspersonal und Bewohner", sagt der gelangweilte Soldat in gebrochenem Englisch und schickt uns wieder weg - kein Besuch in Al'Numan. Willkür gehört im besetzten Gebiet zum Alltag der vielen Bewohner, die täglich einen der rund fünfhundert Checkpoints passieren: Man weiß nie, was geschieht. Jeder Weg ein Risiko. Und so gehen manche Kinder nicht mehr zur Schule, manche Bauern nicht mehr auf ihre Felder, manche Eltern nicht mehr zur Arbeit, zum Arzt oder zu Verwandten.

"Alle die vielen Checkpoints im Land sind eine tägliche Demütigung für die Menschen. Wir versuchen, Zeugen zu sein und die Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen", sagt Pauline Nunu, eine christliche Palästinenserin, die seit acht Jahren für das EAPPI-Programm des Weltkirchenrates in einem modernen Büro in der Altstadt Jerusalems arbeitet. Das Kairos-Dokument, das mit seinem Namen bewusst die Assoziation an ein ähnliches Papier aus Apartheid-Zeiten in Südafrika wecken will, spiegelt auch ihre Erfahrungen. "Wir sind doch keine Terroristen, sondern gebildete Menschen, die das Recht auf Freiheit und einen eigenen Staat haben", meint die 37-Jährige selbstbewusst. "Ich hoffe, dass die UN-Vollversammlung im September Palästina als Staat anerkennt."

Eine Zweiklassengesellschaft

Verbunden damit ist auch die Hoffnung, dass die UN dann die Schirmherrschaft für ein Friedensabkommen und ein Ende der Besetzung im Westjordanland übernehmen wird, ein Flickenteppich mit zahllosen Militärposten zwischen palästinensischem und israelischem Gebiet.

Tausende von Bauarbeitern aus Bethlehem müssen jeden Morgen stundenlang im großen Terminal am Checkpoint 300 Schlange stehen, um nach Jerusalem zu kommen. "Wir haben oft gesehen, dass jemandem die Papiere weggenommen werden, dann steht er da und kommt zu spät zur Arbeit oder verliert sie sogar", erzählt Ben Meystre von seinem Beobachterjob. Wenige Meter entfernt werden unterdessen die klimatisierten israelischen Touristenbusse einfach durchgewinkt. Für die Palästinenser dagegen ist die Welt klein und voller Grenzen, das Meer in Haifa und der Flughafen von Tel Aviv sind mit ihrem Ausweis unerreichbar. Die Bevölkerung im Heiligen Land ist eben eine Zweiklassengesellschaft.

Grund dafür ist auch die zweite Intifada in den Jahren 2000 bis 2005 nach dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses, bei der palästinensische Selbstmordattentäter und Anhänger der radikalen Hamas zahllose Anschläge auf Busse, Restaurants und zivile Einrichtungen verübten. Mehr als tausend Israelis starben, darunter über siebenhundert Zivilisten, mehr als siebentausend wurden verletzt. Und die israelische Armee schlug mit aller Härte zurück: Fast 3600 Palästinenser kamen dabei ums Leben, darunter ebenfalls viele Zivilisten. Um den Terror zu beenden, begann Israel 2002 mit dem Bau von gut 700 Kilometern Sperranlage, die sich heute wie ein Ungetüm aus Metall, Stacheldraht, Graben und Patrouillenwegen durchs Land schlängeln. Und dort, wo die siebzig Meter Breite dafür fehlt, zerschneidet eine bis zu acht Meter hohe Betonmauer Ortschaften. Seitdem haben die Anschläge weitgehend aufgehört. Ein Erfolg mit hohem humanitärem Preis. Die Besetzung des Westjordanlandes "entstellt das Ebenbild Gottes in dem Israeli, der zum Besatzer geworden ist, und sie entstellt das Ebenbild Gottes in dem Palästinenser, der unter der Besetzung leben muss", heißt es im Kairos-Dokument.

"Wir brauchen Sicherheit"

"Natürlich ist die Mauer eine Tragödie", sagt der orthodoxe Rabbi Avi Gisser aus der Siedlung Ofra im Westjordanland, "aber sie wurde auf anderen Tragödien errichtet. Wir brauchen Sicherheit, und die haben wir jetzt, sie ist ein Erfolg. Trotzdem hoffe ich, dass sie eines Tages zerstört werden kann, so wie die Mauer in Berlin." Rabbi Gisser ist ein gesprächsbereiter Mann. Geduldig erklärt er seinen Besuchern, wieso er das Recht hat, in Palästina zu leben. Geschützt von einer Sperranlage, die der Internationale Gerichtshof 2004 als "illegal" bezeichnete, ebenso wie die jüdischen Siedlungen mit gut 300.000 Bewohnern. Denn besetztes Gebiet darf laut Völkerrecht nicht vom Besatzer besiedelt werden. "Es hat hier niemals einen palästinensischen Staat gegeben, wir haben niemandem das Land weggenommen, sondern es ganz legal vom Staat bekommen", sagt Rabbi Gisser. Hier will er bleiben, selbst als Angehöriger einer Minderheit in einem palästinensischen Staat, falls es jemals zur Zwei-Staaten-Lösung kommen sollte.

Rund 85 Prozent der Sperranlagen verlaufen über palästinensisches Land und nicht entlang der "Grünen Linie", der ehemaligen Waffenstillstandlinie von 1949, hat die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem in Jerusalem errechnet, die vom Evangelischen Entwicklungsdienst in Bonn unterstützt wird. Die Grenzanlagen zerschneiden ganze Dörfer und machen es vielen Bauern unmöglich, zu ihren Feldern, Olivenhainen oder Wasserstellen zu gelangen. "Das Hauptziel des Routenverlaufs ist die Annexion von Land. Wenn die Sperranlage fertig ist, gehören 9,5 Prozent des Westjordanlandes, wo 60 jüdische Siedlungen liegen, zur israelischen Seite", sagt Daniel Sherman, der israelische Direktor von B'Tselem. Ein möglicher späterer Grenzverlauf sei damit vorweg genommen.

Aufruf zum Widerstand

Angesichts dieser Situation rufen palästinensische Christen im Kairos-Dokument zum Widerstand auf, einem kreativen, gewaltfreien Widerstand. International hat das Papier bisher vor allem für Furore gesorgt, weil es auch zum Boykott israelischer Waren aufruft. "Wir arbeiten dafür, unsere Feinde und uns selbst von der Gewalt zu befreien. Das nennen wir 'liebevollen Widerstand'. Je länger der Konflikt dauert, desto blutiger wird er, und beide Seiten verlieren", sagt der Menschenrechtsaktivist Rifat Kassis in Bethlehem, Co-Autor und Koordinator des Kairos-Papiers. Er selbst war mehrmals in israelischer Haft, einmal sogar ein Jahr lang. "Von diesem Trauma bin ich immer noch nicht geheilt", erzählt der studierte Psychologe. Gleichzeitig beobachtet er, dass viele Menschen in Palästina vom Aufbruch in der arabischen Welt inspiriert sind: "Seit dem arabischen Frühling sind wir selbstbewusster geworden und hoffen, dass Veränderungen auch für uns möglich sind."

Dass kreativer, friedlicher Widerstand nicht nur Zukunftsmusik ist, zeigt das Beispiel des palästinensischen Dorfes Bilin nahe Ramallah. Es herrscht Festtagsstimmung bei der Freitagsdemo, die seit fast sechs Jahren jede Woche stattfindet: Dorfbewohner, Medienvertreter, Aktivisten aus Jerusalem und Tel Aviv - sie alle protestieren gegen die Sperranlagen, die Bilin einen Großteil seines Farmlandes gekostet haben. Zugunsten der neu errichteten jüdischen Siedlung Modein Ilit auf den nahen Hügeln. Der Grenzverlauf ist illegal, hat der Oberste Israelische Gerichtshof schon 2007 geurteilt. Aber erst jetzt wurde die alte Sperranlage von Bulldozern niedergerissen, und Bilin hat ein Drittel seiner Felder zurück bekommen. "From Berlin to Bilin. The Wall Shall Fall", steht auf einem T-Shirt geschrieben, das eine Frau trägt.

Leere Tränengaspatronen liegen in den Gräben, und die Stinkgranaten der Militärs vom vergangenen Freitag verbreiten sich weiter. "Normalerweise zerstreuen sie die Menge immer mit Tränengas und Wasserwerfern", erzählt die israelische Studentin Leehee Rothschild, die mit ihren Freunden von der Gruppe "Anarchisten gegen die Mauer" freitags schon oft in Bilin war. Dabei wurde Anfang des Jahres eine Frau getötet. Aber heute ist in Bilin Feiertag, und sogar die Soldaten mit ihren Panzerfahrzeugen hinter der neu errichteten Mauer von Modein Ilit bleiben friedlich, trotz der provozierenden Jugendlichen "Dies ist der schönste Tag in meinem Leben", meint eine Bäuerin im Schatten eines Olivenbaums, "aber wir machen weiter, bis wir unser Recht bekommen." Bilin ist zum Symbol des friedlichen Widerstandes in Palästina geworden, eine Ahnung davon, wie eine dritte, diesmal friedliche Intifada aussehen könnte. Noch mehr aber hoffen derzeit viele Palästinenser auf die Anerkennung eines unabhängigen Staates durch die UN in diesem Monat - während Israel sich auf Gewalt und Massendemonstrationen im ganzen Land vorbereitet. "Entweder wird der Zyklus der Gewalt beide Seiten vernichten oder der Friede wird beiden Seiten zugute kommen", lautet die Analyse des Kairos-Dokuments. "Dies ist eine Zeit der Umkehr."

Informationen Kairo Palästina
Informationen EAPPI
Informationen Bilin Village

Bettina von Clausewitz

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