Biologie statt Poesie

Was die Reformer des Gesangbuchs uns vorenthalten
Brauchen ein neues Evangelisches Gesangbuch? Foto: epd/Jens Schulze
Brauchen ein neues Evangelisches Gesangbuch? Foto: epd/Jens Schulze
In zz 8/11 forderte Gerhard Isermann eine Überarbeitung des Evangelischen Gesangbuchs. Das hat Tobias Kaspari, promovierter Theologe und Pfarrer im Saarland, provoziert.

Gerhard Isermanns engagierter Aufruf nach einem neuen Gesangbuch hat meine Neugierde geweckt. Da ich gerne singe, auch liturgisch, und auf die musikalische Gestaltung von Gottesdiensten Wert lege, setzte ich mich den Ausführungen des Kollegen aus. Doch dabei kamen schnell Ärger und Fragen in mir hoch. Warum werden nur ältere Lieder kritisiert? Wo bleibt die musikalische Einordnung der Lieder als Singen? Und warum soll mir vorenthalten werden, was einem Liturgen nicht passt? Bin ich als Gottesdienstbesucher zu dumm, um mir beim Singen ein eigenes Bild zu machen? Und: Warum wird der unverzeihlichste Fehltritt des Gesangbuches einer Kirche des Wortes verschwiegen: das Zurechtstutzen der Psalmen?

Ist der Autor ein Freund dieser Machart, nach der aus den Psalmen nette Liedchen gemacht werden, indem man unliebsame Verse von Gottes Zorn und menschlichen Rachegelüsten zensiert? Das alles ist höchst unreformatorisch! Aber eins nach dem anderen ...

Schatz der reformatorischen Kirche

Zunächst möchte ich Gerhard Isermann danken, dass er sein Anliegen offenlegt, das sicherlich ein Anliegen vieler Gottesdienstbesucher ist. Denn die singende Gemeinde ist ein Schatz der reformatorischen Kirche, den es in keiner anderen Konfession so gibt.

Auch ich denke, dass es eine Überarbeitung des Gesangbuches geben wird und muss, die hoffentlich nicht wieder in Verschlimmbesserungen durch Gremien endet, wo jeder ohne Sachverstand und Rücksicht auf eine gemeinsame Linie seine Interessen unterbringen darf. Aber muss es gleich in Zensur enden - müssen Paul Gerhard und Martin Luther wirklich mit jovialem Gestus vor sich selbst gerettet werden? Zu den unsingbaren Behauptungen und theologischen Ungenauigkeiten wäre vieles zu sagen. Wir wissen, wie breit die Spanne der Auslegungen bei Theologen ist. Darum nur einiges, was mir auf den Nägeln brennt:

Was ist gegen den Reformationschoral "Ein feste Burg" einzuwenden, gerade gegen Strophe vier? "Lass fahren dahin" ist mitnichten zynisch. Für die wohlgenährte Gemeinde ist es vielmehr Mahnung, nicht alles auf ihren Wohlstand zu setzen: das Reich Gottes ist höchstes Ziel, nicht der eigene Geldbeutel. Und den Christen in Ägypten, Nigeria und im Nahen Osten ist es ein Trost: Auch wenn ihnen alles genommen würde, das Reich Gottes bleibt ihnen gewiss.

Die Ästhetik dichterischen Schaffens

Der Choral von Decius "Allein Gott in der Höh' sei Ehr'" klärt sich, wenn er im Kontext seiner vier Strophen gesungen wird. Es rächt sich, wenn man stets nur einige Strophen aussucht und die Ganzheit des Dichters musikalisch blind zerstört. Decius hat seine eigene Poesie, er verdoppelt nicht die Bibel. Dem aufgeklärten Gestus, einen spezialisierten Blick in den biblischen Urtext zu werfen, entgeht die Ästhetik dichterischen Schaffens. Poesie macht im Gesagten Platz für das, was nicht gesagt werden kann. Gleiches gilt für Isermanns Kritik an Luther, der in der Tat manchmal holprig dichtet. Fällt auch das unter die Zensur? Natürlich ist Luther nicht sakrosankt und muss an vielen Stellen selbst nach dem befragt werden, was er verlangt: "Christum zu treiben".

Isermanns Kritik an Paul Gerhard ist wieder typisch: zuviel dichterische Freiheit? Auch hier lohnt bei den vielstrophigen Klassikern der Blick aufs Ganze. In "Die güldne Sonne" und "Geh aus mein Herz" geht es nicht um Naturbewunderung, die durch biologische Erkenntnisse korrigiert werden müsste. Gerhard erblickt in der Natur die Präsenz des Schöpfers. Inmitten des Schönen, das in der friedlos-grausamen Welt aufleuchtet, macht sich das Paradies gegenwärtig als etwas Unsichtbares und Letztgültiges, das im Sichtbaren singend geschaut werden kann. Die Lieder als Ganzes sind Bekenntnis zum Schöpfer und Vollender der Welt. Sie sind Poesie, nicht Biologie.

Weshalb wird Paul Gerhard so hart angegangen? Warum regt sich denn niemand über die Plattheit des Steins, der ins Wasser fällt, auf? Reicht der Psychojargon von "des Herrn Liebe wie Gras und Ufer" im Verbund mit "unserem versklavten Ich im Gefängnis der Steine unserer Angst" nur im Entferntesten an Gerhard heran? Wieso wird nicht das so viel gesungene "Kind du bist uns anvertraut" kritisiert, dass Taufe auf den Hoffnungsträger Jesus theologisch mangelhaft reduziert und dem Täufling dafür das Heil der Welt großspurig aufbürdet? Haben wir uns an den moralisierten und selbstbanalisierten Protestantismus schon so gewöhnt?

Den Toten im Singen begegnen

Ich lasse es hier bewenden, denn die entscheidende Frage steht im Raum: Was haben wir eigentlich am Gesangbuch? Es ist zu Recht ein Ort von Gesangskultur unterschiedlicher Epochen, damit wir nicht bei biederer Zeitgeistigkeit enden. Zur Gemeinde gehört immer neues Liedgut, das den angeblichen Graben zwischen den Zeiten im Singen aber immer schon überwunden hat. Das Gesangbuch ist eben keine archäologische Stätte, sondern Raum der Gottesbegegnung. Im Singen kommen uns die Toten mit ihrem Glauben entgegen. Das macht die eine Kirche aller Zeiten leiblich präsent und lässt Fremdes wahrnehmen. Authentisch ist das christliche Singen, nicht Ausdruck eigenen Bewusstseins oder persönlicher Betroffenheit. Ich singe nicht mein eigenes Leben, sondern ich singe das fremde Evangelium herbei, damit ich glaube. Fremd, weil ich es mir selbst nicht sagen kann, weil der rechtfertigende Zuspruch der Gerechtigkeit Gottes quer zur alltäglichen Welterfahrung liegt.

Denn im Singen öffnet sich ein leiblicher Klangraum, in dem Gott allererst wahrnehmbar wird. Und die dominante Stellung des Denkens tritt hinter das Wahrnehmen des Leibes zurück. Ich leihe, wie beim Lesen der Heiligen Schrift, fremden Klängen meine Stimme, damit ich etwas höre, was sonst unhörbar bliebe: das Evangelium. Singen schafft damit den Übergang von der Erfahrung von Gottes leidvoller Abwesenheit hin zu seiner liebenden Zuwendung. Deshalb ist es entscheidend, den Wahrnehmungsraum des Singens nicht auf Strophen banaler Zeitgemäßheit zu verkürzen: Gott ist der dreieinige Gott in seiner Gleichzeitigkeit als allmächtiger, unsagbarer, ferner und als barmherziger, ansprechbarer und liebevoller Gott. Diese Gleichzeitigkeit wird im Kreuz Jesu präsent. In der Kunst leiblichen Klanggeschehens wird dieser Gott im Heiligen Geist Gegenwart, nicht damit wir uns wohl fühlen, sondern zu unserem Heil. Um der Not des Menschen willen: Liebe Reformer, verkürzt die christliche Religion nicht auf belanglose Moralappelle und allgegenwärtige Liebesrhetorik.

Ich muss nicht alles gut finden, was im Gesangbuch steht, aber ich darf es auch nicht nach Belieben wegschieben. Ich stimme im Singen ein und bleibe damit nicht nur bei mir. Ich lasse mich ein auf Neues und Überraschendes. Ich halte singend Ausschau nach dem, was sich mir an heilsamer und befremdlicher Gottespräsenz zeigt.

Theologischer Kolonialismus

Die singende Gemeinde ist mehr als eine bloß kommunizierende Gemeinde. Wenn ich es recht besehe: Mit Gott kann man überhaupt nicht kommunizieren, das Evangelium kann man auch nicht kommunizieren. Immer wenn dieses abgekaute Programm wieder dran ist, treten Reformer auf, die die Kommunikation zurechtbiegen, weil sich das Evangelium gegen dieses Unterfangen wehrt: Lieder kürzen, Kirchenjahr zusammenstreichen, Liturgie verzwecken, Psalmen verstümmeln - um der lieben Verständlichkeit willen. Die vielbeschworene Zeitgenossenschaft des angeblichen Pluralismus wird unter der Hand zum Maß theologischer Zensur und entpuppt ihre gleichmacherische, das Fremde zerstörende Fratze.

Mit Gott und seinem Evangelium kann ich hingegen nur in leibliche Gemeinschaft, in Kommunion wie beim Heiligen Abendmahl treten. Mein Leib wird im Singen Ort von Gottes fremder Präsenz. Und diese ist mehr als das nur Gesagte und übersteigt alle Logik von Absender, Empfänger und Botschaft, weil das Unsagbare und Unsichtbare sich einspielt. Im Singen predigt die Gemeinde. Hierin zeigt sich das viel beschworene mündige Christsein und nicht darin, dass alle zu allem etwas von sich geben.

Der Vorgang, bestimmtes Lied- und Psalmengut eliminieren zu wollen, scheint mir eine Art von theologischem Kolonialismus zu sein. Alles ist erlaubt, nur das Fremde, das Verstörende darf nicht vorkommen und wird vom Eigenen belagert. Notwendige Abschiede um der Zukunft willen zu propagieren, ist eine Strategie der kolonialen Immunisierung dem Fremden gegenüber.

Ein banales, unreligiöses, nicht mehr überraschendes Christentum ist die Folge: eines ohne verändernde Kraft. In diese Lücke springt dann die Moral. Aber Moralisierung lockt keine Katze hinterm Ofen hervor. Christentum ist nicht Moral und Metaphysik, um es mit dem Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, Friedrich Schleiermacher, zu sagen, sondern Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Christentum ist weder zu reduzieren auf einen ethischen Leitsatz noch auf die Summe unwahrscheinlicher Behauptungen - Christentum ist Bewegung, das heißt Singen: das Herbeissingen des Evangeliums mit allen Schattierungen. Also bitte: Keine halben Sachen!

Tobias Kaspari

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