Klein aber fein

Istanbul passt in die EU, aber nicht die Türkei
Brücke über den Bosporus Foto: picture alliance/augenklick
Brücke über den Bosporus Foto: picture alliance/augenklick
Die Größe und Mentalität des Landes sprechen gegen einen EU-Beitritt der Türkei.

Jeder, der im Erdkundeunterricht aufgepasst hat, weiß: Am Bosporus verläuft die Grenze zwischen Europa und (Klein-)Asien. Und wer die Türkei aufmerksam bereist, merkt, dass die geographische Grenze mehr oder weniger auch eine kulturelle ist.

Istanbul ähnelt in manchem einer europäischen Metropole. Dort begegnet man Menschen, deren Kleidung und deren Gedanken eine Nähe zum Westen erkennen lassen. In Anatolien, sagen wir in Mardin, rund 1500 Kilometer östlich von Istanbul, bestimmen dagegen archaische, feudale und patriarchale Traditionen und Strukturen das Leben. Dass Männer fremden Frauen den Handschlag verweigern, ist dafür nur ein kleines Beispiel.

Nun könnte man sich damit beruhigen, dass die Türkei ja erst dann in die EU aufgenommen wird, wenn sie die "Kopenhagener Kriterien" erfüllt hat. Mit ihnen fordert die EU von Beitrittskandidaten unter anderem eine "institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechstaatliche Ordnung". Außerdem müsste die Türkei als EU-Mitglied den Lissabon-Vertrag akzeptieren, der die "Gleichheit von Frauen und Männern" zu den Werten der Union zählt.

Natürlich wäre die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien gerade für die Christen und Kirchen der Türkei ein Fortschritt. Doch so wichtig Institutionen und Gesetze für Aufbau und Funktionieren eines demokratischen Rechtsstaates sind, so wichtig, noch wichtiger, sind Mentalität, Werte, Einstellungen und Gepflogenheiten seiner Bürger. Diese sollten vor Aufnahme eines Landes in die EU untersucht und bewertet werden, auch wenn das die EU-Regularien nicht vorsehen.

Tradition der Zivilgesellschaft

Eine Grundlage der Demokratie, ja ihre Bedingung, ist das, was heute "Zivilgesellschaft" genannt und mit dem Begriff "Bürgergesellschaft" noch deutlicher bezeichnet wird. Dass sich Bürger - und Bürgerinnen - in Vereinen und Verbänden zusammenschließen, nicht nur das allgemeine Wahlrecht zeichnet eine wahre Demokratie aus. Doch diese Tradition fehlt in der Türkei, und es ist nicht zu sehen, wie sich das grundlegend ändern kann.

Sicher können sich Völker wie Einzelne ändern. Im Mai stimmten die Malteser, die fast alle römisch-katholisch sind, gegen den heftigen Widerstand ihrer Bischöfe für die Ermöglichung der Ehescheidung. Und 1985 hatte das irische Parlament gegen den heftigen Widerstand des römisch-katholischen Klerus das gesetzliche Verbot von Pille und Kondomen aufgehoben. Das zeigt: Die Mitgliedschaft in der EU, der damit verbundene Wandel der Ökonomie und die Erweiterung des nationalen Horizonts, kann Traditionen und Mentalitäten aufbrechen und verändern.

Das klingt zunächst wie ein Argument dafür, die Türkei in die EU aufzunehmen, wenn sie die Kopenhagener Kriterien erfüllt und die Werte der Union akzeptiert hat. Nur gibt es da einen kleinen, feinen Unterschied: Die Mentalität von 74 Millionen Türken zu ändern, dauert - wenn es überhaupt möglich ist - wesentlich länger, als das bei vierhunderttausend Maltesern und vier Millionen Iren der Fall war. Wie schwierig es ist, selbst innerhalb einer Nation und eines Rechtsstaates tief verwurzelte Traditionen und Verhaltensweisen zu ändern und archaische Strukturen zu beseitigen, zeigt Italien. Im Süden des Landes ist das seit der Gründung des Nationalstaates vor 150 Jahren nicht gelungen.

Dass ausgerechnet Grüne und Sozialdemokraten einen EU-Beitritt der Türkei befürworten, überrascht. Vor sieben Jahren brachten ihre Europaparlamentarier den designierten Justizkommissar Rocco Buttiglione zu Fall, einen konservativen Christdemokraten, der Homosexualität als "Sünde" bezeichnet und das traditionelle Familienbild des Vatikan verteidigt hatte. Doch die türkischen Wähler, zumindest die in Anatolien, würden sicher viele Buttigliones, wenn auch muslimische, in das Europaparlament entsenden.

Die Religion ist nicht entscheidend

Mit der Aufnahme der Türkei wäre die EU überdimensioniert. Die Grünen, aber nicht nur sie, sollten sich gelegentlich an das erinnern, was der deutschbritische Wirtschaftswissenschaftler Ernst Friedrich Schumacher (1911-1977) festgestellt hat: "Small is beautiful", klein ist fein, menschengerecht und effizient.

Gute Gründe sprechen - wie gezeigt - gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Doch um eines klarzustellen: Anstand und Vernunft, von Nächstenliebe ganz zu schweigen, gebieten, die in Deutschland lebenden türkischen Einwanderer und ihre Kinder so zu integrieren, dass sie sich daheim fühlen und ihre Fähigkeiten einbringen (können). Dass und wie das möglich ist, zeigen Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD), der Grünenvorsitzende Cem Özdemir und Niedersachsens Sozialministerin Aygül Özkan (CDU), um nur drei Beispiele zu nennen. Die Bundesrepublik sollte auch künftig Einwanderer anwerben, die hochqualifiziert sind und die Werte des Westens bejahen, egal, ob sie Atheisten, Christen, Juden oder Muslime sind.

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Jürgen Wandel

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