Aus Feinden wurden Freunde

Es war der dritte Sonntag im September, der Gedenktag an die Luftschlacht um England: Battle of Britain Day. Wie jedes Jahr feierte in London nicht nur die Luftwaffe öffentlichkeitswirksam auf dem Areal vor dem Buckingham Palast den erfolgreichen Widerstand gegen die deutschen Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg. Zu gleicher Zeit predigte der Bischof von Bradford, Nick Baines, in der deutschen Gemeinde in London anlässlich des 20. Jahrestages der Unterzeichnung der Meißen-Erklärung. Auch wenn auf den ersten Blick zwei Ereignisse kaum unterschiedlicher sein können, ist es nicht schwierig, zwischen beiden einen Zusammenhang herzustellen. Das geschah dann auch offiziell am Nachmittag, in einem Gottesdienst in der Westminster-Abbey. Ein wesentliches Motiv für die Erarbeitung der Meißen-Erklärung (das war schon 1988) war die öffentliche Besiegelung der Versöhnung zwischen der anglikanischen Church of England und den beiden evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und der DDR.
Bischof Friedrich Weber als der deutsche Co-Vorsitzende der Meißen-Kommission der EKD brachte in einem Seminar, zu dem die Deutsche Botschaft in London anlässlich dieses Jubiläums eingeladen hatte, den Symbolgehalt der Meißen-Erklärung auf die Formel: "Aus Feinden werden Freunde". Und dass dies nicht nur eine freundlich gemeinte Formel, sondern auch tatsächlich gelebte Wirklichkeit ist, hat sich nicht erst jetzt, in den jüngsten Begegnungen in London gezeigt.
Positive Spannung
Ökumenisch bedeutet die Meißen-Erklärung die gegenseitige Anerkennung der Kirchen einschließlich Kanzel- und Abendmahls-Gemeinschaft. Damit geht sie aber noch nicht so weit wie die Leuenberger Konkordie (1973), welche die volle Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern, unierten und reformierten Kirchen statuiert. Wohl aber wird ausdrücklich als Orientierung für die weitere Zusammenarbeit die Aufgabe annonciert, "nach der vollen, sichtbaren Einheit zu streben". Es ist mein Eindruck, dass die positive Spannung zwischen gegenseitiger Anerkennung und der mit ihr verbundenen Selbstverpflichtung zu weiterer Vertiefung der Beziehung das Erfolgsrezept für die Meißen-Ökumene ist. Die Basis der Erklärung ist tragfähig genug, um der gegenseitigen Verpflichtung den notwendigen Elan zu ernsthafter Weiterarbeit zu erhalten. Es scheint mir nicht zufällig zu sein, dass es in der ökumenischen Arbeit der EKD wohl keinen die Grenzen Deutschlands überschreitenden Bereich gibt, dem eine vergleichbare regelmäßige und institutionell flankierte Aufmerksamkeit gewidmet ist, wie der im allgemeinen Bewusstsein immer noch eher randständigen Meißen-Ökumene; aber nur so kann eine lebendige Beziehung erhalten und intensiviert werden. In der Ökumene mangelt es nicht an offiziellen Erklärungen, aber sie krankt dramatisch an der Rezeption.
Reger Austausch
Von dieser Krankheit ist die Meißen-Ökumene bisher nicht befallen. Die Church of England unterhält ebenso wie die EKD eine mehrmals im Jahr tagende Kommission, die sich wechselseitig einmal jährlich auch zu einer gemeinsamen mehrtägigen Sitzung einladen. Daneben gibt es regelmäßig gemeinsame theologische Konferenzen, auf denen gemeinsame Themen aus den jeweils unterschiedlichen Perspektiven erörtert werden. Gegenseitige Delegationsbesuche, vor allem von kirchenleitenden Repräsentanten, sensibilisieren für die unterschiedlichen konkreten Probleme in den Kirchen. Nicht zuletzt gibt eine breit gestreute Partnerschaftsarbeit zwischen Gemeinden oder Kirchenkreisen der Beziehung eine lebendige Basis.
Gewiss muss man auch hier auf dem Boden bleiben. Nüchtern mag gefragt werden, ob in den zwanzig Jahren das selbstgesteckte Ziel greifbarer geworden ist. Auch könnte gefragt werden, ob sich ein signifikantes Wachstum in den, aufs Ganze gesehen, dann doch bescheidenen Beziehungen verzeichnen lässt? Ich möchte allerdings davor warnen, den an dieser Stelle kaum demonstrierbaren Erfolg gleich als Stillstand zu stigmatisieren, wie es allseits bedauerlicherweise unter dem meist selbstverordneten Diktat von Zielvereinbarungen gern geschieht, wenn Fortschritte nicht permanent aufgewiesen werden können.
Eine solche Bewertung wird weder der gewachsenen und wachsenden Lebendigkeit noch den tatsächlichen Bedürfnissen einer solchen Beziehung gerecht. Vielleicht hat die Beziehung inzwischen den komfortablen Stand erreicht, auf dem man ohne ihre Gefährdung neu zu entdecken beginnt, wie verschieden auch beide Seiten sind. Sensibilisierungen solcher Art gehören auch zur Vertiefung und Intensivierung belastbarer Beziehungen. Dagegen ist das Drängen auf weitere Schritte mehr eine Belastung, weil diese Schritte nicht von allen mühelos gegangen werden können. Gewiss ist Ökumene auch eine Willenssache, aber bedrängtes Wollen entzöge ihr die Ernsthaftigkeit und lieferte sie somit dem schleichenden Zerfall aus.
Lebendige Ökumene
Die eigentliche Feier des Jubiläums wurde erst im Oktober in Meißen im Zusammenhang mit einem Delegationsbesuch begangen. Die Lebendigkeit dieser Ökumene hat sich dabei einmal mehr bestätigt.
Auf dem Weg zu sichtbarer Einheit Auszug aus der gemeinsamen Feststellung zur Meißener Erklärung, 18. März 1988:
„Um ihre Sendung zu erfüllen, muß die Kirche selbst geeint sein. Es ist die missionarische Perspektive, in der wir beginnen können, die Teilungen zu überwinden, welche uns getrennt gehalten haben. So wie unsere Kirchen im Glauben in die Fülle Christi hineinwachsen, so werden sie selber in der Einheit zusammenwachsen. Diese Einheit wird die verschiedenen Gaben widerspiegeln, die Gott seiner Kirche in vielen Völkern, Sprachen, Kulturen und Traditionen gegeben hat. Die Einheit, die wir suchen, muß gleichzeitig diese verschiedenen Gaben berück sichtigen und die Sichtbarkeit der einen Kirche Jesu Christi immer umfassender offenbar werden lassen.“
Michael Weinrich
Michael Weinrich
Michel Weinrich ist Professor em. für Systematische Theologie in Bochum und Herausgeber von Zeitzeichen.