Unerhörter Schrei

Wo seid ihr eigentlich?
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Schreie sind in unserer Kultur eigentlich nicht vorgesehen. Oder nur an ausgewählten Orten. Und dann so ein Schrei. Mitten in einer Debatte.

Es war ein azurblauer Schrei. So habe ich ihn gehört. Ein Schrei, von ganz tief unten, von irgendwoher, wo die Eingeweide energetisch verbunden sein mögen. Wie ein Drache, der Feuer spuckt. Blaues Feuer. Die Runde saß für Sekunden wie erstarrt. Es waren vielleicht zwanzig Menschen, ein Stuhlkreis, Kongressteilnehmer, Männer und Frauen aus Welten des Theaters, der Kirche, der Universität. Anzugträger und existenziell schwarz Gewandete, Studentinnen in Jeans mit demonstrativer intellektueller Lässigkeit, randlose Brillen und rote Stiefel zum Kostüm. Eine heterogene Gruppe. Man kennt sich erst seit zwei Tagen.

Das Gesprächsniveau: anspruchsvoll. Sprache der Definition, der klärenden Begriffe, der theoretischen Einkreisung. Was hat die Theologie vom Theater? Was das Theater von der Theologie? Lange Redebeiträge. Gegenrede. Müdigkeit zwischen den Worten. Etwas Bleiernes legt sich mir auf den Geist.

Und dann meldet sich dieser Mann zu Wort, der bislang schweigend zugehört hat. Vormittags hatte er einen Workshop geleitet. Er gehört zur Welt der Bühne. Alle sehen ihn an. Und der Mann beugt sich vor auf seinem Stuhl, er stützt die Hände auf die Knie, er atmet ein, den ganzen Raum scheint er einzuatmen, die Wendung "Luft holen" bekommt einen ganz neuen Sinn, und dann schreit er. Tief aus dem Bauch. Lange. Länger. Immer noch. Aufgerissener Mund. Geschlossene Augen. Was für ein Schrei. Als er fertig ist, lächelt er, sagt noch ein paar Sätze in das erstarrte Schweigen, in dem ein nervöses Gekicher herumperlt.

Die Erinnerung daran, was genau er sagte, ist unscharf. Meine Sinne waren noch nicht wieder auf Worte justiert. Aber er fragte wohl: "Wo seid ihr eigentlich? Ihr seid nur in eurem Kopf! Worüber redet ihr eigentlich? Es ist doch alles schon da!" So in etwa. Dann schrie er erneut einen sehr großen Schrei, erhob sich, verabschiedete sich freundlich und ging.

Das liegt einige Wochen zurück. Aber dieser Schrei beschäftigt mich immer noch. Dieses Natur- oder doch eher Kulturereignis. Schreie gehören ja nicht ins diskursive Repertoire. Schreie sind in unserer Kultur eigentlich gar nicht vorgesehen. Oder nur an ausgewählten Orten: Im Kreißsaal, auf dem Kinderspielplatz, im Theater. Nicht mal am Grab wird geschrien. Die Totenklage ist still. Und dann so ein Schrei. Mitten in einer Debatte. "Unerhört", sagen manche, wenn etwas ungehörig ist. Unerhört fanden wohl auch einige der Diskutanten das Geschehen. Unerhört blieb auch dieser Schrei, der seinerseits etwas bis dahin Unerhörtes ausdrücken wollte. Im weiteren Debattieren, von dem ich fast alles vergessen habe, kam er leider nicht mehr vor. Jedenfalls nicht in den Redebeiträgen.

Vermutlich hat er anders gewirkt. In mir hallt er immer noch nach. Ich kann so nicht schreien. Kann sein, ich will es auch gar nicht. Jedenfalls tue ich es nicht.

Aber unzweifelhaft braucht es die Kraft derer, die so schreien können. Sie weiten den Raum der Wahrnehmung. Vor allem für die, die in den Worten so zuhause sind, dass sie vergessen, dass Worte nicht mehr als Zeichen sind, für das, was jenseits der Worte ist. Das Leben. Das Ungehörte. Das Nichtsagbare. Der Schrei steht vor allem Begriff. Der Schrei öffnet für das, was jenseits der Worte wartet. Für den Atem etwa, ohne den kein Leben ist. Die Frage ist, redet man anders, wenn man so zu schreien versteht?

Ich trage diesen Schrei jetzt immer bei mir, diese unerhörte Szene. Und wenn der Geist bleiern wird von zu viel oder den falschen Worten, dann "copy-paste" ich diesen Schrei in Debatten, Konferenzen, Talkshows hinein. Nur in Gedanken. Aber was soll ich sagen: Es hilft.

Evamaria Bohle

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