Öffentlich und nicht geheim

Theologische Anmerkungen zur evangelischen Bestattungskultur
"Seelsorgerliche Begleitung, würdige Trauerfeiern": Was ist das Besondere einer kirchlichen Bestattung? Foto: dpa/Jörg Bergmann
"Seelsorgerliche Begleitung, würdige Trauerfeiern": Was ist das Besondere einer kirchlichen Bestattung? Foto: dpa/Jörg Bergmann
Die Bestattungskultur wandelt sich. Und Pfarrerinnen und Pfarrer müssen bei ihren Amtshandlungen darauf reagieren. Was eine evangelische Bestattung ausmacht, erläutert Reiner Sörries, Theologe und Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel.

Bis in die Achtzigerjahre hinein galt die Bestattung als die stabilste Amtshandlung der Kirche. Noch 2007 äußerte Axel Noack, der ehemalige Magdeburger Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, diese Überzeugung auf einer Tagung in Tutzing, die über das von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorgelegte Reform- und Impulspapier "Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert" diskutierte. In eben jenem Papier konnte man allerdings auch lesen, dass die Zahl der kirchlichen Bestattungen im Zeitraum 1991 bis 2003 um 17 Prozent zurückgegangen ist. Ob man angesichts dieser Entwicklung von Stabilität sprechen will oder nicht, sei dahingestellt. Aber es ist offenkundig, dass man innerhalb der Kirchen und unter Theologinnen und Theologen wieder über die Bestattungskultur spricht. Schließlich erlebt diese heutzutage einen beachtlichen Wandel. Pfarrerinnen und Pfarrer sehen sich veränderten Bestattungswünschen gegenüber, und es stellt sich die Frage, was eine kirchliche Bestattung ausmacht.

Doch zunächst ein Blick zurück: Bis weit ins 19. Jahrhundert kam in manchen evangelischen Landeskirchen der Anteil der kirchlichen Amtshandlungen bei Beerdigungen nicht über 20 Prozent. Erst in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg habe der Anteil kirchlicher Bestattungen nahezu die Hundertprozentmarke erreicht, erläutert der Historiker Lucian Hölscher. Es war also nicht zu allen Zeiten so, dass man die Bestattung zu den zentralen kirchlichen Aufgaben zählte. Mit dieser Sicht der Dinge hatten bereits die Reformatoren im 16. Jahrhundert begonnen und die Fragen rund um die Beerdigung zu den Adiaphora gerechnet, also zu den Dingen, die sich einer ethischen Bewertung nach Gut oder Böse entziehen. Die kirchliche Bestattung war weder heilsnotwendig noch allgemein üblich, stattdessen genügte ein Begräbnis auf dem Friedhof. Vielleicht war der Lehrer mit seinen Singschülern anwesend, der Pfarrer aber war die Ausnahme. In der Folge geriet das Begräbnis eher zu einem Oberschichtprivileg und die Grabstätte wurde zu einem Ort sozialer Selbstdarstellung.

Keine Glaubenssätze

Damit soll nicht die Bedeutung der Amtshandlung Bestattung herabgewürdigt werden, doch mit dem Hinweis auf die Beerdigung als Adiaphoron muss in reformatorischer Tradition festgestellt werden, dass es hierfür keine unumstößlichen Glaubenssätze gibt, die eingehalten werden müssten. Daraus könnte man wiederum den Schluss ziehen, die Kirche(n) könnten sich in der Gestaltung der Bestattung uneingeschränkt den Strömungen der Zeit anpassen. So verfahren viele Geistliche im Falle der Naturbestattungen, bei denen es längst gang und gäbe ist, dass sie zur Urnenbeisetzung in den Wald mitgehen.

In der reformatorischen Tradition steht auch das 2004 von der EKD veröffentlichte Diskussionspapier "Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur", das in seinem theologischen Teil die Bestattung explizit zu den Adiaphora zählt, "... insofern das Evangelium die Zusage ist, dass kein Leben verloren gehe, unabhängig von aller innerweltlichen Erinnerungskultur". Eigens verweist das Papier auf den Kirchenvater Augustin, demzufolge "die Bestattung oder Nichtbestattung für das künftige Ergehen an sich ohne Bedeutung" sei.

Konsequent folgert das EKD-Papier für das heute viel diskutierte Beispiel der Naturbestattungen, dass unter bestimmten "Bedingungen ... die Friedwald-Konzeption mit den christlichen Grundüberzeugungen zur Würde des Toten(-Gedenkens) jedenfalls nicht vollkommen inkompatibel (ist)". Trotz dieser Einschätzung hält das Diskussionspapier gleichzeitig fest, dass Pfarrerinnen und Pfarrer an wenig an deren Stellen "dem 'kirchlichen Kerngeschäft' so nahe (sind) wie bei der Bestattung", und leitet daraus die Notwendigkeit der "seelsorgerlichen Begleitung und würdiger Trauerfeiern" ab.

Theologisch wird diese Forderung dann aus der kirchlichen Tradition abgeleitet, die seit der Alten Kirche der Bestattung ihrer Gemeindeglieder einen hohen Stellenwert ein räumte und sie schließlich unter die sieben Werke der Barmherzigkeit zählte.

Umkämpfter Markt der Angebote

Nimmt man die Beurteilung der EKD ernst, dass "Pastorinnen und Pastoren der evangelischen Kirche an ... dieser Stelle (auf einem) umkämpften Markt der Angebote und Werte" agieren, wird es nicht nur auf den seelsorgerlichen Aspekt ankommen, sondern man wird ebenso nach der Originalität christlichen beziehungsweise evangelischen Handelns auf diesem Feld fragen müssen.

Der Markt hält heute alles bereit, was Menschen sich in ihren Wertvorstellungen wünschen, und dieses Spektrum reicht von synkretistisch-diffusen Anschauungen bis zu weltanschaulich ausgeprägten Ansichten, wenn Atheisten oder Neuheiden ihre spezifischen Glaubensvorstellungen in der Bestattung zum Ausdruck bringen. Daraus könnte man theologisch den Schluss ziehen, dass die kirchliche Bestattung ein eigenes, erkennbar christliches Profil besitzen muss. Allerdings kann diese Folgerung mit der Vorstellung von der Volkskirche kollidieren, in der es darum geht, von der Kerngemeinde bis zu den Randsiedlern der Kirche allen Menschen gerecht zu werden. Auf "selbst der Kirche sehr entfremdete Menschen", die "in der Situation des Abschiedes die Nähe der 'fremden Heimat Kirche' suchen", weist das EKD-Papier ausdrücklich hin. Vielen von ihnen werden die Grundsätze evangelischer Bestattungstradition aber nur schwer zu vermitteln sein.

Welche theologische Position man bezieht, hängt davon ab, ob man am volkskirchlichen Modell festhält oder eher zur Bekenntniskirche neigt. Dies ist durchaus davon abhängig, wie stark Kirchlichkeit in der Bevölkerung verankert ist. In manchen ostdeutschen Regionen mit einem Anteil der Kirchenchristen unter zehn Prozent der Bevölkerung wird man sich eher mit dem Gedanken der Bekenntniskirche befassen als in Gebieten mit einem starken evangelischen Bevölkerungsanteil.

Eine öffentliche Angelegenheit

Geht man realistisch von einem Schrumpfungsprozess in der Kirchenzugehörigkeit aus, wird man in der Tendenz nach theologischen Positionen in der Bestattung suchen, die gegenüber konkurrierenden Weltanschauungen oder Verhaltensweisen ein klares christliches Profil erkennen lassen. Dann gilt es, nach dem Besonderen einer kirchlichen (evangelischen) Bestattung zu fragen.

Grundsätzlich ist nach evangelischem Verständnis die Bestattung eine öffentliche Angelegenheit und der Trauergottesdienst ein öffentlicher Wortgottesdienst, der sich nicht nur an die engsten Hinterbliebenen richtet, sondern an die ganze Gemeinde. Schon dieser Grundsatz kollidiert mit der gegenwärtigen Tendenz, den Abschied von einem Verstorbenen als rein familiäre und intime Angelegenheit zu verstehen. Es geht zweitens bei aller Würdigung des Verstorbenen (biographischer Teil) um die Verkündigung der frohen Botschaft (Verkündigungsteil), die mit der Erinnerung an den eigenen Tod und der Mahnung zur Vorbereitung auf ihn verbunden ist. Schon mit diesen wenigen Grundsätzen besitzen Pfarrerinnen und Pfarrer ein veritables Kriterium, woraus sich eine evangelische Bestattung speist.

Bei den in der Tendenz kleiner werdenden Trauergemeinden und der Zunahme ordnungsbehördlicher Bestattungen fehlen oftmals die Öffentlichkeit und die Predigt. Immer häufiger findet nur noch eine kleine Trauerfeier nach der Einäscherung statt, und die Geistlichen agieren lediglich, wenn sie überhaupt dabei sind, noch als Begleiter auf dem Weg zum Grab, wo sie mit biblischem Votum und Gebet allenfalls noch ein Minimum agendarischen Handelns erfüllen.

Ihrem Charakter nach mutieren evangelische Bestattungsfeiern deshalb zu Handlungen im Stile des Winkelmessens, wobei der seelsorgerliche Aspekt nicht gering geachtet wird. Aber wäre es nicht denkbar, analog zu Taufgottesdiensten, mehrere Trauerfeiern zusammen zu legen, wo dies zumindest unter städtischen Bedingungen bei einer entsprechenden Zahl von Sterbefällen möglich wäre?

Die Frage des Grabortes

Dies geschieht schon bei Ordnungsamtsbestattungen, wenn in Abständen mehrere Urnen jeweils gemeinsam beigesetzt werden. Und mancherorts haben sich Begräbnis vereine gebildet, die es als ihre christliche Aufgabe verstehen, bei solchen Sammelbeisetzungen Öffentlichkeit herzustellen. Ebenso können regelmäßige, monatliche Totengedenkfeiern der Anonymität wehren und Öffentlichkeit herstellen.

Nicht weniger bedeutsam wird in Zukunft die Frage des Grabortes. Immer häufiger wird ein Grab in der Natur gewählt oder ein Gemeinschaftsgrab. Und nicht, wie bisher üblich, als Reihen- oder Wahlgrab auf einem öffentlichen Friedhof. So sind im vergangenen Jahrzehnt mancherorts Gemeinschaftsgräber mit ausgesprochen christlichem Charakter entstanden, die sich in bewusster Konkurrenz zu bekenntnishaften Gemeinschaftsgräbern von Atheisten, Sekten, Fußballfans und anderen Clans und Peergroups positionieren. In diesem Zusammenhang sind die seit 2005 entstehenden Urnenkirchen zu erwähnen, die verstärkt in evangelischen Gemeinden diskutiert werden.

Unterhält die Kirche eigene Friedhöfe oder Gemeinschaftsgrabstätten, so wird sie bei den zu entrichtenden Gebühren die sozialen Belange der Menschen zu berücksichtigen haben. Der gegenwärtig geltende Grundsatz, demzufolge sich kirchliche Friedhöfe aus den Gebühreneinnahmen der Grabnutzer finanzieren müssen, ist grundlegend zu überdenken. Der große missionarische Erfolg der frühen christlichen Gemeinden beruhte nicht zuletzt darauf, dass den Gemeindemitgliedern ein zwar einfaches, aber kostenloses Grab in Aussicht gestellt war.

Zum Schluss: Das Seelenheil eines Menschen ist nicht an eine von Amtsträgern vollzogene kirchliche Handlung und nicht an ein kirchlich verwaltetes oder subventioniertes Grab gebunden. Dementsprechend könnte man die Bestattung von Christenmenschen durchaus den professionalisierten Bestattungsunternehmen und die Friedhofsunterhaltung der öffentlichen Hand oder zunehmend privaten Betreibern anvertrauen. Wenn aber evangelische Kirchen bestatten, müssen sie, um erkennbar zu sein, evangelischen Grundsätzen verpflichtet bleiben. Und wenn die evangelische Kirche Friedhöfe unterhält, muss sie dies gestalterisch, organisatorisch und ökonomisch deutlich von weltlichen und konkurrierenden Anbietern unterscheiden.

Es sollte aber klar sein, dass die Art und Weise, wie die Kirche an den Verstorbenen und Hinterbliebenen handelt, und wie sie Friedhöfe und Grabstätten unterhält, in die Gesellschaft hineinwirkt. Wenn die Bestattung zwar keine heilsnotwendig erforderliche Handlung darstellt, wirkt sie gleichsam wie eine Zeichenhandlung in der Öffentlichkeit, in der dem christlichen Menschenbild Ausdruck verliehen wird.

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Reiner Sörries

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