Tote auf Türmen und Gestellen

Gespräch mit dem Berliner Religionswissenschaftler Hartmut Zinser über die Bestattungsrituale in den Weltreligionen
Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner
Der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Bestattungen und ihren Ritualen in Religionen und Kulturen. Der 67-Jährige lehrt an der Freien Universität Berlin.

zeitzeichen:

Herr Professor Zinser, als Religionswissenschaftler kennen Sie die Bestattungsrituale in vielen Religionen und Kulturen. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind Ihnen aufgefallen?

Hartmut Zinser:

Allgemein kann man sagen, dass alle Religionen irgendwelche Formen des Umgangs mit dem Tod und mit den Toten entwickelt haben. Alle haben Rituale, die den Übergang aus diesem Leben an einen anderen Ort, den wir "Jenseits" nennen, begleiten. Unterschiedlich ist vor allem der Umgang mit dem Leichnam. Entweder wird dieser verbrannt oder beerdigt, wobei auch oft die Asche in einer Urne beerdigt wird. Es gibt aber einige Sonderformen, zum Beispiel die Bestattung auf den Türmen des Schweigens bei den Parsen, einer aus Persien stammenden Gemeinschaft. Oder in Sibirien die Bestattung auf Bäumen für einige Schamanen oder auf Gestellen.

Und wie steht es mit den Bestattungsritualen?

Hartmut Zinser:

Alle Religionen kennen Riten für den Übergang eines Menschen aus der Welt der Lebenden in die der Toten. Die Übergangsriten hängen jeweils von der Konzeption dessen ab, was wir "Jenseits" nennen, und von der Situation im Diesseits. Dabei sind drei Dinge wichtig: Zum einen muss der Leichnam beseitigt werden, auch aus hygienischen Gründen, denn die Menschen haben früh entdeckt, dass Leichen giftig sein können. Dann hat der Tote ja eine soziale Rolle eingenommen, zum Beispiel als König oder Oberhaupt einer Familie. Diese Positionen und Aufgaben muss jetzt jemand anders übernehmen. Das ist die kollektive Seite. Drittens die psychische: Auch wenn Menschen physisch tot sind, leben sie ja in den Erinnerungen der Hinterbliebenen weiter, Eltern zum Beispiel als Liebes- oder als Hassobjekt. Ein Übergangsritual hilft, sich vom Toten zu lösen. Dass diese drei Faktoren bei Bestattungen eine wichtige Rolle spielen, lässt sich schon bei den Menschen der Steinzeit wahrscheinlich machen.

Kann man sagen, dass Bestattungsrituale automatisch mit Religion verbunden sind? Entsteht Religion aus dem Umgang mit dem Tod? Oder erwachsen Bestattungsrituale aus der Religion?

Hartmut Zinser:

Sehr viele Theoretiker haben behauptet, Religion sei eine Reaktion auf den Tod. Den Tod und uns als tot können wir uns nur schwer vorstellen. Dies würde uns auch ständig bewusst machen, dass wir sterben müssen und dass der Tod zufällig ist und jede Sekunde eintreten kann. Diese Zufälligkeit des Todes lässt vielen Menschen das Leben als sinnlos erscheinen. Dagegen bauen alle Religionen Dämme, indem sie den Tod als Übergang beschreiben, als Eingehen zu den Ahnen oder als vorläufige Deponierung in der Erde, um dann wieder aufzuerstehen oder wiedergeboren zu werden. Die Formen sind dabei außerordentlich vielfältig. Außerdem stellt der Mensch fest, dass die Toten nicht nur tot sind. So erscheinen sie in Träumen und leben in der Erinnerung der Hinterbliebenen weiter. Wie kann man das verstehen? Daraus ist die Vorstellung erwachsen, dass der Mensch nicht nur aus seinem Körper besteht, sondern zusätzlich auch eine Seele und einen Geist hat, die mit dem körperlichen Tod nicht sterben. Das tröstet über die eigene Sterblichkeit und die Sinnlosigkeit des Todes hinweg. Die Aufteilung des Menschen in Körper und Seele ist sehr früh zu beobachten.

Und spiegelt sich das in den Bestattungsritualen?

Hartmut Zinser:

Es ist sehr schwierig, von den Funden der Prähistorie auf die Vorstellung zu schließen, die sich die Menschen vom Tod und dem, was danach kommt, gemacht haben. Da sind Irrtümer nicht ausgeschlossen. Es gibt da so einen Spruch: "Was ich nicht erklären kann, sehe ich für kultisch an." Vor den Bestattungsritualen liegt natürlich die Feststellung des Todes, was ja in früheren Zeiten nicht so einfach war. Normalerweise hat man dem oder der Toten eine leichte Feder auf den Mund gelegt. Mit dem Ausbleiben des Hauches war der Tod eingetreten. Der Hauch wurde als das angesehen, was den Menschen beim Tode verlässt. Die Wörter "Psyche" (griechisch) und "Animus" (lateinisch) sind von dem Wort "hauchen" abgeleitet. Wenn der Hauch vergangen war, konnten Tote bestattet werden. Die Vorschriften dafür waren natürlich auch vom Klima abhängig. Entweder sofort bestatten oder nach drei, vier Tagen. Zur Vorbereitung gehört, und das ist fast in der ganzen Welt üblich, dass die Toten gewaschen werden. Sie werden eingekleidet, in ein Leichentuch oder in andere Textilien. Särge gibt es nicht überall. Bei den Muslimen wird eigentlich nur in Tüchern bestattet.

Wenden wir uns der Religion zu, die das Christentum und den Islam geprägt hat, dem Judentum. Warum ist dort traditionellerweise die Beerdigung die Regel und nicht die Verbrennung?

Hartmut Zinser:

Nun spricht Gott in 1. Mose 3,19 zum Menschen: "Du bist Erde und sollst zu Erde werden." Gegen eine Verbrennung spricht aber auch die Vorschrift, dass der Kopf des oder der Verstorbenen auf israelitischer Erde liegen muss. Deswegen wird bei jüdischen Bestattungen im Ausland Erde aus Israel dazugelegt. Generell gilt aber für die Bestattungsriten aller Religionen, dass ihre Ursprünge schwer festzustellen sind. Denn die Quellenlage ist in der Regel sehr dürftig.

Trotzdem: Gibt es theologische, kulturelle oder klimatischen Gründe dafür, warum die Juden ihre Toten schon im Alten Testament beerdigt und nicht verbrannt haben?

Hartmut Zinser:

Sicher hat es im alten Israel wenig Holz gegeben. Aber das wäre natürlich eine Rationalisierung, um zu erklären, warum Juden ihre Toten beerdigt haben. Im Christentum hat sich die Verbrennung erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet.

Hat das Christentum eigentlich eine Veränderung im Umgang mit dem Tod gebracht?

Hartmut Zinser:

Ja. Denn es lehrte die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen vor Gott und die Auferstehung des Fleisches. So galt im Christentum über Jahrhunderte, dass ein Christ mit seinem ganzen Körper beerdigt werden muss, damit er wieder auferstehen kann. Dabei muss man sich immer klar machen: Es ging um ein sinnliches Jenseits. Dass das Apostolische Glaubensbekenntnis von der "Auferstehung des Fleisches" sprach, richtete sich gegen die leibfeindlichen Gnostiker innerhalb der Kirche, aber auch gegen römische Vorstellungen. Die Römer kannten keine Hölle und kein Paradies. Die Toten gingen über zu den anonymen Manen. Das sind die Geister der Toten, die Vorfahren. Wer nicht in einem Familienverband lebte, hatte auch keine Manen, also auch kein Leben nach dem Tod. Deshalb brauchte man ihn auch nicht zu bestatten. Während der Kaiserzeit gab es in der Stadt Rom tiefe Schächte, wo die Leichen von Sklaven und freien Bürgern, die keine Angehörigen hatten, hineingeworfen, also entsorgt wurden. Die Christen haben dagegen von Anfang an für ordentliche Begräbnisse gesorgt und Friedhöfe angelegt.

Ist die christliche Vorstellung von der Auferstehung des Fleisches ein Grund dafür gewesen, dass die Christen Tote beerdigt und nicht verbrannt haben?

Hartmut Zinser:

Ja, das wurde als Begründung angeführt. Aber entscheidend war die Ablehnung der Gnosis. Der Gnosis ging es um die Erlösung von der Körperlichkeit, der Kirche um die Erlösung von den Sünden. Von der gnostischen Lehre hat sich die Kirche klar abgrenzen wollen. Das ist ja immer so: Wenn sich eine Religion neu entfaltet, wird das, was das Eigene und Besondere ausmacht, besonders herausgestellt, um die Grenzen zu anderen Religionen deutlich sichtbar zu machen.

Dass die Christen ihre Toten beerdigt und nicht verbrannt haben, zeigt also eine besondere Wertschätzung des Körpers im Gegensatz zur Gnosis?

Hartmut Zinser:

Auf jeden Fall. Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Gemeinde von Korinth (Kapitel 15, Vers 44): "Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib." Die leibliche Auferstehung, nicht nur ein Weiterleben der Seele, ist für das Christentum zentral.

Sie haben die Verbindung zwischen der Auferstehungsvorstellung und der Tatsache, dass die Toten beerdigt werden, erwähnt. Kann man Ähnliches sagen, im Hinblick auf die Tatsache, dass die Christen ihre Toten in Sarkophagen beigesetzt haben und später in Särgen, also nicht in Tüchern?

Hartmut Zinser:

Sarkophage sind vorchristlich. Wenn Sie sich antike Sarkophage anschauen und was darauf zu sehen ist, werden Sie eine andere Todesvorstellung feststellen. Es finden sich dort dionysische Feste. Dionysos ist ein Geleiter der Toten wie Hermes, also auch ein Totengott. Der Tod wird als Fest dargestellt. Da wird getrunken, gegessen, getanzt und gesungen. Seit wann haben Christen Sarkophage anfertigen lassen? Sicherlich hat es von Anfang an begüterte Christen gegeben. Das kann man schon bei Paulus im Ersten Korintherbrief nachlesen. Aber in der Regel waren Christen arm oder Angehörige der Mittelschicht. Die konnten sich keinen Sarkophag leisten. Das heißt, bei Christen haben sich Sarkophage erst später durchgesetzt. Woher bei den Christen dann die Särge kamen, weiß ich dagegen nicht. Ich vermute, sie sind etwas Nordeuropäisches.

Heute nimmt die Zahl der Feuerbestattungen exorbitant zu, auch unter Christen. Haben Sie auch als Religionswissenschaftler eine Erklärung dafür?

Hartmut Zinser:

Sie sind einfach billiger. Wichtiger aber dürfte sein, dass die christlichen Vorstellungen über den Tod an Überzeugungskraft verloren haben und deshalb von vielen nicht mehr beachtet werden.

Im Christentum ist es verboten worden, den Toten etwas im Sarg oder ins Grab mitzugeben. Warum?

Hartmut Zinser:

Die Christen wollten den antiken Ahnenkult beseitigen, der eine Form von Polytheismus war. Gaben an die Toten behandeln die Toten wie Ahnen oder kleine Götter. Daher wurden Opfergaben abgelehnt. Nach der Reformation sind Friedhofsordnungen entstanden, die allen Luxus verboten, denn oftmals verschuldeten sich die Menschen bei dieser Gelegenheit. Daher wurden für Leichenschmäuse zum Beispiel die Beschränkung auf ein Glas Schnaps und eine Wecke angeordnet. Die Praktiken sind regional sehr verschieden.

Im Hinduismus ist die Kremation üblich. Warum verbrennen die Hindus ihre Toten?

Hartmut Zinser:

Für den hinduistischen Totenakt, der aus verschiedenen Teilen besteht, sind spezielle brahmanische Priester zuständig, die so genannten schwarzen Brahmanen. Mit ihnen will niemand etwas zu tun haben, außer im Trauerfall. Das ist wie bei uns im Mittelalter. Da musste der Totengräber häufig wie der Henker außerhalb der Stadtmauer leben. Die Verbrennung ist bei den Hindus mit einem Leichenschmaus verbunden, bei dem allerdings niemand isst, außer dem schwarze Brahmanen. Die Verbrennung selber ist, religiös gesehen, ein Reinigungsakt. Die Seele muss heraustreten und sich verwandeln. Denn sie ist bösartig, wird aber durch den Vollzug aller Totenrituale in eine gutartige Seele verwandelt.

Aber die Verbrennung hat doch sicher auch mit einer bestimmten Vorstellung von dem zu tun, was danach kommt, oder?

Hartmut Zinser:

Das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Frage ist: Was kommt danach? Wir haben einmal die Vorstellung des Ganz-Todes. Das heißt, mit dem Vollzug des Toten- oder Bestattungsrituals ist definitiv Schluss. Doch diese Auffassung findet sich sehr selten. Die andere Variante, dass jemand zu den Ahnen eingeht, findet sich sogar im Alten Testament. So heißt es im 1. Mosebuch vom toten Jakob: Er "wurde versammelt zu seinen Vätern" (49,33). Die Vorstellung, in der das Jenseits eigentlich als ewiges Diesseits vorgestellt wird, findet sich zum Beispiel im Altägyptischen. Dazwischen ist ein Gericht geschaltet. Man muss sich vor den Totenrichtern verteidigen. Im ägyptischen Totenbuch bekommt man eine praktische Anweisung, wie man sich am besten gegen die Anklagen verteidigt. Das tibetische Totenbuch dagegen wird dem Sterbenden vorgelesen, oder ein Priester trägt es vor. Es enthält eine Beschreibung des Weges, den der Tote nehmen muss, um ins Jenseits zu gelangen. Die Vorstellung, dass es im Jenseits einfach so weitergeht wie im Diesseits, gibt es mit und ohne moralische Verknüpfung. Es gibt die Vorstellung der Wiederauferstehung oder Auferstehung in einem Paradies oder in der Hölle. Dann ist der Tod auch mit Strafen verbunden.

Zieht der Glaube an eine Wiedergeburt eine besondere Art der Bestattung nach sich?

Hartmut Zinser:

Nein. Wiedergeburtsvorstellungen zwingen nicht zur Verbrennung, aber sie führen oft zu einem doppelten Totenkult. Auf der einen Seite gibt es die Lehre der Wiedergeburt, auf der anderen Seite eine Ahnenlehre. Der Tote wird als Ahn weiter zu Hause verehrt und bekommt Opfergaben. Das ist widersprüchlich. Aber man darf nicht übersehen, dass Religionen nicht widerspruchsfrei oder rational sein müssen. Nur wenige Religionen haben wie das Christentum eine Theologie - eine vernünftige Lehre von Gott - entfaltet. Außerdem muss man berücksichtigen, dass Judentum, Hinduismus, Christentum und andere Religionen seit sehr langer Zeit bestehen und sich in dieser auch verändert haben, so dass auch die gleichbleibenden Teile der Rituale und ihre Gründe heute häufig nicht mehr einsichtig sind.

Enthält sich der Religionswissenschaftler des Urteils über die verschiedenen Bestattungsrituale und Jenseitsvorstellungen?

Hartmut Zinser:

Wir fragen: Leisten Totenrituale, was sie leisten müssen, zum Beispiel die Vorbereitung auf den Tod? Was bieten Religionen den Hinterbliebenen an? Helfen sie den Menschen und der Gesellschaft, mit Todesfällen umzugehen? Wir wissen, dass Erbstreitigkeiten furchtbar sind. So hat ein Stamm in Südamerika das Eigentum des Verstorbenen zusammengeholt, und alle Erbberechtigten haben sich zu einem Würfelspiel zusammengesetzt. Mit seiner Hilfe wurde das gesamte bewegliche Eigentum des Verstorbenen verteilt. Da konnte keiner dem anderen lebenslang gram sein.

Wenn Sie als Religionswissenschaftler auf die in Deutschland vorherrschenden christlichen Bestattungsrituale schauen, welche Stärken und Defizite beobachten Sie?

Hartmut Zinser:

Ich nehme wahr, dass manche Pfarrer in beiden Kirchen die tradierten Formen der Bestattung zu leichtfertig aufgeben. Rituale wirken auf die Teilnehmer auch dadurch, dass sie eine lange Tradition haben. Doch wenn man dem Wunsch der Angehörigen nachgibt und erlaubt, dass bei der Trauerfeier irgendwelche Schlager gespielt werden, löst man die kollektive Wirksamkeit von Ritualen auf. Ich erwarte von den Kirchen, dass sie diese strenger einhalten.

Wie möchten Sie denn bestattet werden?

Hartmut Zinser:

Ich will ordentlich unter die Erde gebracht werden, ohne neumodischen Aufwand, sondern ganz traditionell. Ich habe auf dem Dahlemer Friedhof ein Urnengrab.

Halten Sie eine Feuerbestattung mit Beerdigung der Urne für eine ordentliche Bestattung?

Hartmut Zinser:

Ich habe damit kein Problem.

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Jürgen Wandel am 20. September in Berlin.

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Hartmut Zinser

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