Lauter abgesenkte Bordsteine

Bad Sassendorf - die Projektion auf ein altersgerechtes Deutschland 2034
Hilfreich im Alter: In Bad Sassendorf gibt es höhere Sitzbänke als anderswo.
Hilfreich im Alter: In Bad Sassendorf gibt es höhere Sitzbänke als anderswo.(Foto:zz).
In dem westfälischen Kurort Bad Sassendorf ist jeder dritte Einwohner über 65, jeder zehnte über 80 Jahre alt. Damit sind die Westfalen schon heute ihrer Zeit voraus, wie Kathrin Jütte bei einem Besuch feststellte.

"Mein Herz schlug langsamer." Noch heute erinnert sich Gudrun Tüttelmann an das Gefühl, das sie überkam, als sie mit ihrem Mann zum ersten Mal in Bad Sassendorf ankam. Beide waren auf der Suche nach einer Bleibe für den Ruhestand, einem Ort, an dem sie die nächsten Jahrzehnte in Ruhe und sorgenfrei verbringen konnten. Durch das Internet und einen Fernsehbericht waren sie auf den westfälischen Ort in der Soester Börde gestoßen. Und er ließ sie nicht mehr los. Heute, fünf Jahre später, lebt die 62-Jährige in dem beschaulichen Kurbad zwischen Lippstadt und Soest und engagiert sich als Presbyterin in der evangelischen Kirchengemeinde. "Wir leben hier wie auf einer Insel, ein bisschen heile Welt", sagt sie. Sie genießt das gepflegte Ambiente, das kulturelle Angebot, die offenen Menschen, die kurzen Wege.

Die aus dem unweit gelegenen Iserlohn zugezogene Frau mit den dunklen kurzfrisierten Haaren ist eine aparte Erscheinung. Sie verkörpert so gar nicht das, was der voreingenommene Besucher mit dem Kurbad verbindet: Überalterung. Gudrun Tüttelmann und ihr Mann sind zwei von bis zu 200 Menschen, die jährlich in Dortmund, Hamm oder Hagen alles hinter sich lassen und nach Bad Sassendorf ziehen, um in dem beschaulichen Ort ihren Lebensabend zu verbringen. Sie alle tragen dazu bei, dass das westfälische Kurbad der demographischen Falle entgeht. Denn: Deutschland altert unaufhaltsam, und es altert schnell. Doch im Gegensatz zu vielen Gemeinden in Ost- oder Norddeutschland schrumpft Bad Sassendorf nicht, sondern bleibt stabil und wächst. Was hier allerdings auch wächst, ist das Durchschnittsalter der Bevölkerung.

Wer also wissen will, wie es in Deutschland in den nächsten zwei Jahrzehnten aussehen wird, der muss ins Westfälische fahren. Doch der Reihe nach: Bad Sassendorf ist ein kleiner Ort in Nordrhein-Westfalen (NRW), umgeben von weiten Feldern. Die Soester Börde wird noch heute "Kornkammer Westfalens" genannt. Fünf Kilometer entfernt liegt die mittelalterliche Hanse- und heutige Kreisstadt Soest, sechzig Kilometer westlich Dortmund, die nächste Großstadt. Im Norden Lippstadt, im Süden enden die Felder am Naturpark Arnsberger Wald. Sassendorf ist uralt, zwischen 1169 und 1179 wurde es erstmalig urkundlich erwähnt. Sein Wohlstand gründete auf Salzvorkommen - denn Salz war das ganze Mittelalter hindurch ein kostbares Gut. Seit 1817 gibt es Berichte über die Verwendung der Sassendorfer Sole zu Bade- und Heilzwecken. Im Jahr 1906 wurde aus dem alten Sälzerdorf das "Bad" Sassendorf, und seit 1975 ist es ein staatlich anerkanntes Moor- und Soleheilbad.

Die ältesten Bürger im Land

So weit die Geschichte. Ein gewachsenes Heilbad mit weitläufigem Kurpark, durch den die schmale Rosenau fließt, ein kleiner See und im Sommer üppig blühende Rosen und Rhododendren. Im Ortszentrum viel makellos renoviertes Fachwerk, eine weitläufig sanierte Fußgängerzone, Kurkliniken, das Sole-Thermalbad und ein Gradierwerk, das zum Inhalieren einlädt. Die alte, traditionelle Sälzergemeinde, ein kleines westdeutsches Kurbad mit zwölf Ortsteilen, fast 12 000 Einwohner zählt der Ort, eigentlich nichts Auffälliges.

Aber vor zehn Jahren veröffentlichte das Statistische Landesamt NRW einen einsamen Rekord: Bad Sassendorf wurde zur Kommune mit den ältesten Einwohnern NRWs ge­kürt. Diese Spitzenreiterrolle hat es bis heute nicht abgegeben. Im Gegenteil: Mittlerweile ist schon jeder dritte Einwohner über 65 Jahre alt, jeder zehnte über 80. Der Altersdurchschnitt von Bad Sassendorf ist mit 47 Jahren der höchste in Nordrhein-Westfalen, ein Alter, das etwa in zwanzig Jahren, 2034, das gesamte Land erreicht haben wird. Auch in dem westfälischem Kurort kommen pro Jahr auf 180 bis 200 Sterbefälle nur 50 bis 80 Geburten.

Dass die Gemeinde je­doch nicht schrumpft, sondern die Bevölkerungszahl mit fast 12 000 Einwohnern so ziemlich gleich bleibt, liegt am Zuzug - also an Menschen wie Gudrun Tüttelmann und ihrem Mann. "Der Puls Deutschlands wird in zwei Jahrzehnten ruhiger schlagen", sagt der Be­­völke­rungs­wis­sen­schaft­ler Mein­hard Miegel. In Bad Sassendorf tut er das heute schon. Was ist es, das die westfälische Gemeinde so attraktiv für Ru­heständler und ältere Menschen macht?

Bahn frei für Rollatoren

Einer, der das wis­sen muss, ist Bürgermeister Antonius Bahlmann. Er am­tiert seit 1999 und muss sich nicht selten vorwerfen lassen, Politik inzwischen ausschließlich für Senioren zu betreiben. Be­dächtig zählt er auf: die gute infrastrukturelle Anbindung mit der B1 und der A44, der eigene Bahnhof, der hohe Freizeitwert mit täglichem Kurorchester, Vorträgen, Tanztee, Unterhaltungsprogramm, die Gastronomie mit al­lein zwölf Cafés und eine optimale ärztliche Versorgung. Und nicht zu vergessen, die ambulanten Pflegedienste und fünf Se­niorenheime. Das alles zentral gelegen und fußläufig er­reichbar. Sicher, vieles davon ist dem Kurbetrieb gezollt, vieles ist im Laufe der Jahre gewachsen. Doch mittlerweile profitieren alle Bad Sassendorfer davon, und das spricht sich he­rum.

Der 64-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass in Bad Sassendorf Senioren willkommen sind. Nicht, dass in dem Kurbad die Jugend keine Rolle spielte. Nicht, dass man sich nicht um die Kleinsten sorgte. Was aber nötig ist, mehr als anderswo, ist die altersgerechte Ortsgestaltung im Detail: Die Bürgersteige müssen für Fußgänger mit Rollatoren und Rollstühlen frei von parkenden Autos sein, Hecken dürfen nicht die Gehwege zuwachsen. "Da sind wir rigoroser als andere Gemeinden", sagt der CDU-Politiker, der auf dem Weg zu einer seiner vielen Verpflichtungen ist. Diesmal wartet ein Goldenes Hochzeitspaar auf den Bürgermeister. Allein über 350 Geburtstage oder Ehejubiläen müssen Bahlmann und seine Stellvertreter jährlich ab­solvieren. Trotzdem: "Wir sehen uns nicht als Schule der Nation", sagt Bahlmann. Doch vieles haben Politiker, Ge­schäftsleute, der Kurbetrieb und auch die Einheimischen in den vergangenen Jahren anscheinend richtig gemacht.

"Griffiges Pflaster ist ganz wichtig"

Das zeigt der stellvertretende Bürgermeister Helmut Blei­lefens, Parteifreund von Bahlmann, bei einem Spaziergang durch den Ort. Er verweist auf die vielen Bushaltestellen, die bisweilen nur vierhundert oder fünfhundert Meter auseinanderliegen und gezielt auch Supermärkte anfahren. Oder auf Straßenrückbau, mit dem die Kommune, zum besseren Überqueren einer Hauptstraße, eine Mittelinsel eingebaut hat. Überhaupt fallen die vielen Fußgängerüberwege ins Auge. "Und griffiges Pflaster ist ganz wichtig, sonst rutschen die Gehhilfen weg", erzählt der Ruheständler Bleilefens.

Überall an den Bordsteinkanten gibt es rollstuhlgerechte Absenkungen, die Zugänge zu den Geschäften sind barrierefrei. Auf Stolperfallen hat man in Bad Sassendorf ein besonderes Augenmerk gerichtet. Auch das Tempo der Autos ist gebremst, die Kommune hat auf fast allen Gemeindestraßen Tempo 30 erlassen. Im Kurpark stehen in kurzen Abständen auffällige blaue und weiße Sitzbänke mit unterschiedlichen Sitzhöhen. Sie gehören zwar zum orthopädischen Reha-Bereich, kommen aber allen Spaziergängern zugute. Bleilefens vergisst auch nicht, die Seniorenteller zu erwähnen, die überall in der heimischen Gastronomie geordert werden können.

Dann führt er die Besucherin in den nächsten Supermarkt: Er wurde kürzlich renoviert, nun sind die Regale deutlich niedriger als anderswo, und die Gänge sind breit genug für den Verkehr von Einkaufswagen, Rollstuhl und Rollator. An diesem regnerischen Wintertag wirkt das Dorf wie ausgestorben. Der Sälzerplatz, das eigentliche Zentrum des Ortes, ist leergefegt, der Blick geht frei auf die evangelische Pfarrkirche. Hausfrauen erledigen ihre Einkäufe, die Schüler pauken um diese Zeit in der Grund- oder Hauptschule oder in einer der weiterführenden Schulen im benachbarten Soest. Einige unerschrockene Touristen stöbern in den Geschäften, kaum Filialisten, die, wie nicht anders zu erwarten, ihre Angebote auf die ältere Käuferschaft ausgerichtet haben. Und auf die Tagestouristen. "Denn die strömen, so­bald in Dortmund die Sonne scheint", erzählt Helmut Bleilefens.

Vernetzte Seniorenarbeit

Bad Sassendorf profitiert von seiner geographischen Lage, also davon, dass es als nächstes Kurbad am Rande des Ruhrgebietes liegt. Eine Million Menschen besuchen pro Jahr den Kurort, seit die Gemeinde "den Fremdenverkehr", wie es hier heißt, wiederentdeckt hat. Wiederentdeckung war nötig, denn wegen der Gesundheitsreformen in den Neunzigerjahren wurden kaum noch offene Badekuren verschrieben. Die Kurgäste blieben fern. Bad Sassendorf stellte auf Orthopädie und Reha um. Dazu nahm die Gemeinde die Er­holungssuchenden aus der Umgebung in den Blick, also die aus Hagen, Hamm, Dortmund oder aus dem Sauerland. Und so ergab es sich: Manch einer blieb über den Urlaub hinaus.

Was können andere Gemeinden von Bad Sassendorf lernen?Bemerkenswert ist sicher die professionelle und vernetzte Seniorenarbeit. Kirchen, Parteien, Sportvereine und die Volkshochschule haben sich in ihren Angeboten auf die ältere Klientel eingestellt. Während man andernorts in den Achtzigerjahren Frauen- und Umweltbeauftragte installierte, gibt es im Kurbad einen Seniorenbeauftragten - und einen Senioren-Arbeitskreis, der seit 2003 das ehrenamtliche Engagement koordiniert. Mehrmals im Jahr treffen sich die Mitglieder des Kreises: Sie vertreten die Arbeiterwohlfahrt, das drk, die Kirchen und Sportvereine, den Kultur- und Heimatverein, die vhs und viele andere aus der örtlichen Seniorenarbeit, auch aus den anderen Ortsteilen. Sie führen Umfragen durch, richten einen Seniorenstammtisch ein und koordinieren die Arbeit.

Sprecherin des Senioren-Arbeitskreises ist die pensionierte Lehrerin Christa Nowack (79). Ihr Anliegen: "Wir sind alle auf gegenseitige Hilfe angewiesen, und zwar mit Wohlwollen, mit Respekt und in Würde. Das muss der Tenor unserer Arbeit sein." Vor drei Jahren entstand daraus das Seniorenbüro der Gemeinde Sassendorf, das seinen Büroraum im Mehrgenerationenhaus hat. Doch die Grenzen des Zuzugs und des Wachstums sind in Bad Sassendorf erreicht, denn der dörfliche Charakter soll er­halten bleiben. Und die Kommune hat die Zeichen der Zeit erkannt: Damit der Ort nicht weiter überaltert, hat die Ge­meinde jungen Familien subventioniertes Bauland angeboten und schon fast 150 Bauplätze vermarktet, neunzig weitere sollen folgen. Damit ist für den Generationenmix ge­sorgt.

Im Mehrgenerationenhaus

Den hat sich auch die evangelische Kirchengemeinde auf die Fahnen geschrieben. In deren Gemeindehaus am Kirchplatz herrscht an diesem Vormittag ein lebendiges Treiben. Nach und nach trudeln die ersten Gäste zum Mittagessen ein. Lachen, Begrüßungs- und Hallorufe: die Cafeteria des neuen Mehrgenerationenhauses, dem einzigen im Kreis Soest, ist ein fröhlicher Ort. Träger ist die evangelische Kirchengemeinde, aber natürlich richtet sich das Angebot an alle. Dreimal in der Woche wird hier ein Mittagstisch angeboten. Zum Mittagsgeläut der Sst.-Simon-und-Judas-Thaddäus-Kirche serviert das ehrenamtliche Cafeteriateam Salat und Auflauf für 3,80 Euro. Das Schöne: Keiner bleibt am Tisch allein.

"Der Dialog der Generationen wird abnehmen, deshalb wird es in Zukunft immer wichtiger werden, ihn zu fördern", sagt Pfarrer Uwe Rudnick, der zusammen mit seiner Kollegin Stefanie Pensing in der evangelischen Kirchengemeinde Bad Sassendorf arbeitet, zu der auch der Ortsteil Lohne gehört. Deshalb ist man mit der Unterhaltung des Mehrgenerationenhauses der Zeit weit voraus. Noch wird es vom Europäischen Sozialfonds gefördert, die finanzielle Unterstützung läuft jedoch im kommenden Jahr aus. Nun soll ein Förderverein gegründet werden. Doch auch für die Kommune ist es wichtig, das Mehrgenerationenhaus auf eine solide finanzielle Basis zu stellen. "Gerade wegen der vielen Zuzüge ist das Haus bedeutsam, wir müssen nun eine Nachfolgefinanzierung finden", fordert der Bürgermeister.

Kirchengemeinde und Kommune sind sich offensichtlich einig, die Synergieeffekte zu nutzen: Die Kirchengemeinde bewirtschaftet ihre Häuser, entwickelt ihre generationsübergreifende Arbeit weiter, öffnet Kreise und Angebote. Damit kann die Kommune ein Angebot präsentieren, das endlich alle Generationen in den Blick nimmt. "Eine Supereinrichtung", da spart der Bürgermeister nicht mit Lob.

Handy-Unterricht von Hauptschülern

Drinnen sitzt Heike Schulze-Gabrechten, die gemeinsam mit dem Fachausschuss Mehrgenerationenhaus der Kirchengemeinde das Programm koordiniert. Letzteres kann sich sehen lassen: Hausaufgabenbetreuung für Kinder mit Mi­gra­tions­hin­tergrund, Ausbildung für junge Babysitterinnen und Leih-Omis, Eltern-Kind-Frühstück, Seniorenberatung im Um­gang mit Handys durch Hauptschüler. "Jede Generation hat eigene Kompetenzen, und die müssen der anderen zur Verfügung gestellt werden. Wenn das familiäre Umfeld nicht mehr ausreicht, sind neue Plattformen gefragt", sagt die Bildungsbeauftragte. Sie ist Anlaufstelle im Mehrgenerationenhaus für alle Bad Sassendorfer, für alle aus dem Kreis Soest und für Neubürger, dazu für Menschen, die sich engagieren möchten.

Hat Bad Sassendorf mit seiner Projektion auf 2034 eine Leuchtturmfunktion? Das wird vom Bürgermeister mit Hinweis auf die gewachsenen Strukturen verneint - fast ein wenig zu bescheiden, denn was hier an Ideen für die altersgerechte Gestaltung des öffentlichen Raums umgesetzt wird, könnte für manchen Ort und manche Stadt Anregung und Vorbild sein.

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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