Zwo-Zwo-Fünf liegt an

Als Deckshand auf einem Segelschiff, nicht schanghait
Foto: Natascha Gillenberg
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Bei dem Verein "Clipper" lässt sich frische Seeluft schnuppern. Auf drei alten Segelschiffen und einer modernen Yacht will das Jugend­werk die Traditionen der Schifffahrt am Leben erhalten und Jugend­lichen das Leben in einer Gemeinschaft an Bord nahe bringen.

Die Reise beginnt mit der großen Auslaufparade der "Flensburg Nautics". Eine Band im Hafen spielt Shanties, Schiffssirenen heulen, Segel werden gesetzt. Mehr als vierzig Windjammer und Yachten ziehen an winkenden Zuschauern vorbei und auf die Ostsee hinaus - unter ihnen die Amphitrite, die "Grand Old Lady" der Clipper-Flotte. Eine Woche lang wird das Segelschiff auf der Ostsee unterwegs sein. An Bord: 29 Mitglieder Besatzung, davon zur Hälfte Jugendliche und junge Studenten.

Wer für einen Törn bei Clipper anheuert, tut das in der Regel als "Decks-hand". Segelerfahrung muss er nicht mitbringen - aber die Bereitschaft, zu lernen, mit anzupacken, und sich in die Gemeinschaft einzubringen. Alles, was er braucht, lernt er auf See. Dafür sorgt die Stammbesatzung, bestehend aus dem Kapitän Kay sowie den drei Steuermännern Uwe, Wolle und Willy, dem Maschinisten Fredy und zwei Köchen, Gü und Kai. Sie alle sind ehrenamtlich für "Clipper" tätig - und zum großen Teil auch in ihrem Berufsleben der Schifffahrt verbunden. Kay, Willy und Uwe sind jahrelang als Kapitäne in der Handelsschifffahrt unterwegs gewesen, zusammen mit Wolle arbeiten Kay und Willy heute bei der Hamburger Wasserschutzpolizei.

Foto: Natascha Gillenberg
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Mindestens eine Handbreit Wasser unterm Kiel: Arbeit mit dem Lot.

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Mutige in der Takelage.

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Tim gefällt's.

Die "Landratten" sind also bei ihnen in guten Händen - und auf der Amphitrite an Bord eines ganz besonderen Schiffes. Seit fast 125 Jahre bereist sie schon die See. Gebaut wurde sie als Rennschoner mit schmalem, schnittigen Rumpf und zwei Masten. In Regatten segelte sie mit anderen Yachten um die Wette - unter anderem gegen die "Meteor" Kaiser Wilhelms II. Sie diente im Zweiten Weltkrieg in Plymouth als Ballonsperre, war einige Jahre lang Familienwohnsitz und wandelte sich schließlich in den Siebzigerjahren - nicht sehr lange zuvor hatte sie ihren dritten Mast erhalten - zum Filmschiff für Dreharbeiten. Seit 1976 ist die Amphitrite für Clipper unterwegs.

Der erste Tag

Der erste Tag auf See bringt die ersten Übungen im Segelsetzen und dem richtigen Umgang mit der Takelage. Wie heißt welches Segel? Wie werden sie gehisst? Welches Tau gehört auf welchen Nagel? "Baum", "Klau", "Fall", "Piek", "Fieren" - das Seemannsvokabular ist fremd, aber für die Orientierung an Bord nötig. Die ersten Wendemanöver sorgen noch für Verwirrung; es dauert, bis jeder weiß, wo seine Position ist und was er zu tun hat. Gegen Abend steuert die Amphitrite eine Bucht bei Sønderborg an. Eins nach dem anderen werden von vorne nach achtern die Segel geborgen. Schließlich taucht mit lautem Gerassel die eiserne Ankerkette ins Wasser. Der Anker wird am nächsten Morgen nur unter großer Kraftanstrengung wieder gelichtet werden können: Die Kräftigsten an Bord werden sich mit dem Gewicht ihrer Körper in die Gangspill, die Ankerwinde, werfen und sie so lange im Kreis drehen, bis er gehievt ist.

Doch nun wird erst einmal zum Signal an andere Schiffe der Ankerball befestigt - Gelegenheit für eine kleine Lektion in Knotenkunde. Denn Seemannsknoten werden an Bord immer gebraucht. Ob Kreuzknoten oder Slipstek, Kopfschlag oder Affenfaust: In den kommenden Tagen werden die Steuermänner immer wieder zeigen, wie sich die Taue und Leinen so stecken lassen, dass sie großen Zug sicher aushalten und bei Bedarf schnell zu lösen sind. Einige Jugendliche verschwinden un­ter Deck und stehen nach kurzer Zeit in Badezeug wieder an der Reling. Auch die kühlen Temperaturen können sie nicht abhalten: Schritt für Schritt steigt der Mutigste von ihnen unter dem Gejohle der anderen die wackeligen Tampen hinauf. Dann spritzt das Wasser auf - es ist kalt, aber für eine Runde um Bug und Heck der "Amphitrite" reicht es.

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Eine der Hauptfiguren an Bord, nicht so gefährlich wie Long John Silver: Koch Gü.

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Küchendienst gehört keineswegs zu den unbeliebten Tätigkeiten an Bord.

Nach Sonnenuntergang sitzt die neu entstandene Crew noch lange an Deck zusammen. Nickel hat sich aus dem "Salon" eine Gitarre geschnappt und zupft leise die Seiten. Er fährt bereits zum fünften Mal mit Clipper zur See - eine Erfahrung, die ihn so begeistert, dass er selbst eine Nautikausbildung machen und eines Tages Steuermann oder Kapitän werden will. Deswegen und aufgrund seiner ruhigen, zuverlässigen Art hat Kay ihn für diese Reise auch zum Wachführer ernannt. In dieser Funktion soll er seinen Steuermann mit seiner Wachmannschaft unterstützen.

Ritual beim Wachwechsel

Jeder hier an Bord ist in eine der drei Wachgruppen eingeteilt. Ob auf See oder im Hafen: Jeweils eine Gruppe übernimmt unter der Leitung eines Steuermanns die Verantwortung für die nötigen Routinedienste an Bord. Dazu gehört das Rein-Schiff-Machen genauso wie der Ausguck nach Bojen, Tonnen oder anderen Schiffen, die die Route kreuzen, oder das Setzen kleinerer Segel. Bei größeren Segelmanövern ertönt das Kommando "All Hands!", denn dann wird an Deck jede Hand gebraucht. Alle vier Stunden, einschließlich der Nacht, findet der Wachwechsel mit ei­nem kleinen Ritual statt. Dazu stehen sich die beiden Mannschaften gegenüber: "Die A-Wache wünscht der B-Wache eine gute Wache" - "Die B-Wache wünscht der A-Wache eine gute Ruh."

Dann übernimmt - sofern das Schiff auf See unterwegs ist - der Rudergänger das Steuer. Und der ist momentan Jule. Der Steuermann gibt ihr das Ruderkommando: "Neuer Kurs Zwo-Zwo-Fünf". Jule greift das große Steuerrad, richtet den Blick fest auf die Kompassrose und kurbelt das Rad eine Weile nach links, dann wieder nach rechts. Den Kurs zu halten, ist anfangs gar nicht leicht, denn das Schiff reagiert, abhängig auch von Wind und Strömung, mit einer gewissen Verzögerung auf die veränderte Ruderlage. "Zwo-Zwo-Fünf liegt an!" antwortet Jule schließlich, als das Schiff den Kurs erreicht hat. Solange sie für die Wache am Ruder eingeteilt ist, wird Jule das Steuerrad nicht aus der Hand lassen.

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Gemeinsamkeit wird groß geschrieben.

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Ordnung an Bord muss sein, ist aber nicht immer perfekt - der Niedergang.

Währenddessen muss die Wassertemperatur gemessen werden, ebenso Luftdruck und -temperatur. Lukas und Nickel beschäftigen sich im Kartenraum mit der Navigation. Sie haben sich über die Karten gebeugt, um die Schiffsposition und den weiteren Kurs zu bestimmen. Neben ihnen tickt leise der Barograph; über das UKW-Gerät ertönt hin und wieder mit typischem Rauschen der Funkverkehr anderer Schiffe in der Umgebung.

Und die Zeit besteht aus einem weitgespannten Himmel

Bei allen Tätigkeiten an Bord steht die Sicherheit an erster Stelle. Das heißt auch, dass niemand ohne die Erlaubnis in die Wanten des Schiffes steigen darf - und auch nicht muss: Das Segelsetzen geschieht vom Deck aus. Joran legt sich dennoch den Sicherheitsgurt um und hangelt sich Schritt für Schritt in die Höhe. 23 Meter hoch sind die Masten, und von oben bietet sich ein atemberaubender Blick auf das Schiffsdeck und die See.

Auch in das Netz des Klüverbaums, der über das Vorschiff herausragt, geht es nicht ohne entsprechende Sicherung. Der Seegang ist hier am stärksten zu spüren. Unter den Füßen, durch die Taue hindurch, werfen sich dunkelblau die Wellen ineinander, und mit beruhigendem Gleichmut spritzt die Gischt wieder und wieder an den hölzernen Bug. Das Gesicht reckt sich in die Wärme der Nachmittagssonne, der Wind berauscht die Ohren, die Zunge schmeckt Salz. Und die Zeit besteht aus einem weitgespannten Himmel.

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Jeder packt an.

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Navigieren mit dem Kompaß.

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Jule am Ruder.

Zu den Wachdiensten gehört auch die Backschaft. Während der Küchendienst bei Muttern zu Hause eher unbeliebt ist, packen die Jugendlichen hier meist gern mit an. Das liegt nicht zuletzt an Gü und Kai. Gü, österreichischer Koch in seiner Wahlheimat Berlin, fährt seit mittlerweile fünfzehn Jahren mit Clipper zur See. Drei Wochen Urlaub jährlich nutzt er, um seine Restaurantküche gegen die schwankende Kombüse an Bord zu tauschen. Morgens im dänischen Middelfart hat Gü mehrere Kilo frisches Dorschfilet gekauft. Jetzt brutzelt der Fisch in zwei großen Pfannen, und Jasmin und Lukas nebenan im Kapitänssalon müssen zusehen, dass die große Schüssel Kartoffeln rechtzeitig zum Mittagessen gepellt ist.

Auf der Pamir gelernt

Seeluft macht hungrig, und bei dreißig Leuten an Bord bedeutet das eine Menge Arbeit. Es sei denn, der Seegang schlägt dem Koch auf den Magen. So bis Windstärke 7 oder 8 hält er durch, weiß Gü. Doch wenn dann auch noch Wellen von der Längsseite kommen und das Schiff zu rollen beginnt, muss das Essen eben warten, sagt er und grinst: "Das meiste kommt dann eh´ wieder raus."

Nach Einbruch der Dunkelheit finden sich die Segler in der Messe an einem der beiden großen Tische zusammen; irgendwer hat ein Würfelspiel ausgegraben, und unter lautem Rufen und Johlen wird bis spät in die Nacht hinein beim "Mäxchen" geflunkert und gelogen, dass sich die Balken biegen. Ein andermal erzählt Steuermann Uwe von seinen Zeiten als Frachtschiffkapitän - wie das zum Beispiel war, als er einmal Pinguine zu transportieren hatte. Oder wie hart das Schicksal von blinden Passagieren in Wirklichkeit aussieht. Oder er spricht von seinen Erlebnissen auf der Pamir, der berühmten Viermastbark, letztes deutsches Segelschulschiff der deutschen Handelsmarine.

Uwe hat auf diesem Schiff als junger Mann seine Ausbildung absolviert - und sich dann dagegen entschieden, direkt im Anschluss als Mitglied der Stammbesetzung mitzusegeln. Das hat ihm das Le­ben gerettet. Die Pamir sank auf der nächsten Reise im Jahr 1957 in einem Hur­rikan, nur sechs Crewmitglieder überlebten das Unglück. Aber es ist das, was er auf diesem Schiff kennen gelernt hat, was Uwe den Jugendlichen bei Clipper weiter geben möchte: Die Liebe zur traditionellen Schifffahrt, das verantwortungsvolle Zusammenarbeiten als Team, und die Respekt vor der See. Und so gehört er zu denen, die seit Jahrzehnten den Verein ehrenamtlich unterstützen.

Auf einmal sackt das Schiff

Die See nicht zu unterschätzen, lernen die Jugendlichen bald, denn irgendwann passiert es: Der Wind ist stürmisch geworden und hinterlässt weiße Schaumkronen auf den Wellen. Und auf einmal sackt das Schiff für einen Moment unter den Füßen weg und legt sich tief in die Seite. Eine plötzliche Böe ist aufgekommen, als das Schiff eine Wende fahren soll, die Wache hat den sichernden Bullen zu früh "gefiert", also gelockert - und der Baum des Großsegels ist über die Breite des Schiffs auf die andere Seite geschlagen. Um davon nicht über Bord gestoßen zu werden, greift Steuermann Mike reflexartig nach der vorbeisausenden Schot (Segelleine) - die ihm durch seine Arbeitshandschuhe hindurch die Hände verbrennt.

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Bei Übelkeit auf die Leeseite.

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Wind und blauer Himmel: Des Seglers Paradies.

Am Bug werden die Vorsegel eingeholt. Taue schlagen mit Wucht im Wind, "Nicht anfassen!", "Köpfe runter!", die Rufe werden durch die Böen davon getragen. Aus Sicherheitsgründen dürfen die "Youngsters" nicht mehr nach vorn; stattdessen bergen die Steuermänner Uwe und Willy die Segel mit zügigen, erfahrenen Bewegungen. "Das war gestern kein Sturm", meint Kapitän Kay am nächsten Tag in einer Ansprache an die Mannschaft, "und noch lange kein Schlechtwetter. Aber da kann man se­hen, wie schnell was passieren kann - Ihr seht, so ein Schiff ist kein Spielplatz."

Mit der Zeit werden die Jugendlichen seefester. Kapitän Kay weiß, was er ihnen zutrauen kann, und so werden in sternklarer Nacht bei starkem Wind noch einmal die Segel gesetzt. Die Wogen schaukeln das Schiff, die Amphitrite zieht in kraftvollen Bö­gen über das schwarze Wasser. Nicht jeder Magen macht das mit; deshalb trägt eine so genannte "Kotzwache" Sorge dafür, dass trotz der Krängung (Neigung) der Yacht seekranke Mitsegler in der Dunkelheit nicht versehentlich außenbords gehen. Die Seekrankheit ist tückisch - die Betroffenen leiden nicht nur unter dem bekannten Brechreiz, sondern oft auch unter Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen, Müdigkeit und Schwindel. Die Jungsegler lernen auch hier, wie wichtig die Aufmerksamkeit für ihre Mitreisenden ist.

Schweden nicht erreicht

Es still an Bord, nur hin und wieder ertönt ein Kommando des Steuermanns, Schritte huschen über die Decksplanken. Wer keine Wache hat, verkriecht sich zum Schlafen in seine Koje, in den Schlaf gewiegt von den Wellen, die gegen die Bordwand schlagen, während die Amphitrite sich mit lautem Ächzen, Knarzen und Knacken des Holzes durch die Ostsee bewegt. Am Ende der Reise wird die Crew 295 Seemeilen zurück gelegt haben, an Fyn und der Insel Samso vorbei gesegelt sein bis fast nach Anholt, um dann in Arhus wieder anzulegen.

Bis nach Schweden hat es diesmal nicht gereicht - auch das ist eine Erfahrung des Törns: Das Wetter, der Wind, die Wellen, bestimmen Tempo und Kurs der Reise. Mit einem Segelschiff lässt man sich auf die Natur ein in einer Weise, wie das bei der Schifffahrt sonst nicht mehr der Fall ist. Fast jedes Wetter hat die Besatzung auf dieser Reise erlebt: Flaute und kräftige Böen, krachende Gewitter über wogender See und faule Sonnennachmittage an Deck, sie hat schietiges Wetter in Regenzeug ertragen und in windigen Nächten Segel gesetzt. Es wurden Schweinswale gesichtet, es gab heiße Mirabellenknödel an Deck, Spaziergänge in kleinen dänischen Häfen, nächtliche Sternschnuppen und zum Abschluss ein "Captain´s Dinner". Und für so manchen steht am Ende der Reise fest: Beim nächsten Törn heuert er wieder an.

Clipper DJS (Deutsches Jugendwerk zur See) e.V.

Text und Fotos: Natascha Gillenberg

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Foto: privat

Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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