Nicht ohne Verbindlichkeit

Antwort auf Alexander Graus Plädoyer für einen neoliberalen Protestantismus
"Anhalt am auferstandenen Christus." (Foto: akg-images)
"Anhalt am auferstandenen Christus." (Foto: akg-images)
Der Streit zwischen konservativer und liberaler Theologie lässt sich bis in die Antike verfolgen. Das ändert für Werner Thiede, Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, nichts daran, dass auch die neueste Variante des Liberalismus nur eine Ab­kehr von aller Verbindlichkeit ist, die sich letzten Endes als haltlos erweist.

Konservative Theologie ist in Verruf geraten. Immer öfter liest und hört man die Forderung nach Verabschiedung zentraler Glaubensinhalte zu Gunsten einer liberalen Spiritualität, die wohl einen Gottesglauben, jedoch nicht mehr dessen christologische Füllung und trinitarische Beschreibung umfasst. Nicht nur in neureligiösen Kontexten jenseits der großen Kirchen, sondern oft werden auch schon binnenkirchlichdie Kernaussagen der Heiligen Schrift und der altkirchlichen Bekenntnisse als wählbare oder abwählbare Angebote auf dem Markt der Beliebigkeiten betrachtet, geschichtlich relativiert vor dem Absolutum aufgeklärter Subjektivität.

Wird als neoorthodoxer Verhinderer solch liberaler Sichtweise Karl Barth benannt, so gilt es mit zu bedenken, worauf er reagierte. Liest man heute oft, man solle glauben wie Jesus, aber nicht an Jesus, dann markiert dieser Vorschlag eine Position, wie sie bereits in der Epoche vor dem Aufkommen der Dialektischen Theologie vertreten wurde - namentlich durch Adolf von Harnack, ei­nem führenden Vertreter liberaler Theologie. Der Berliner Kirchenhistoriker hielt alle Menschen ihrer Bestimmung nach für ebenso göttlich wie den Nazarener. Die menschliche Seele sah er - in innerem Anschluss an Immanuel Kants Autonomie-Konzept - als derart geadelt an, dass sie sich selbst mit Gott als ihrem Vater zusammenzuschließen vermag.

Verankerung des Glaubens im Gefühl

Im Hintergrund stand bei Harnack neben Kant der eigentliche Kirchenvater der liberalen Theologie, Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834), der seinerseits der Philosophie Kants Wesentliches verdankte. Worin Schleiermacher entscheidend an Kants Vernunftbejahung und erkenntnistheoretische Vernunftkritik anschloss und zugleich über sie hinausging, war die Verankerung des Glaubens weniger in Reflexion und Spekulation als vielmehr im Gefühl. Anders als der Königsberger Philosoph lehrte Schleiermacher, dass der Glaube in seinem Vollzug Gott nicht nur zu postulieren habe, sondern ihn a priori im "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" erfahre.

Von daher konnte Schleiermacher Kants religionsphilosophische Rede vom "Reich Gottes" aufgreifen und formulieren: "Wir Menschen gehören in die Ewigkeit: wir sollen das werden, was Jesus war und ist, ein Mensch der Ewigkeit, dessen inneres Leben Gott ist." Auf solcher Uminterpretation des neutestamentlichen Reich-Gottes-Gedankens beruhte denn auch der Harnacksche Kulturprotestanismus. Neoliberale Theologie knüpft in heutigem Kulturkontext an diese gedankliche Linie an. Sie ersetzt den frommen Gedanken der Heilsgeschichte durch eine spirituell rückgebundene Fortschrittsgläubigkeit - und die lutherische Erfahrung der "Freiheit eines Christenmenschen" durch den von Kant her geprägten Autonomie-Gedanken.

Jesus als Urbild

Dieser war und ist stärker religionsphilosophisch gefüllt, als vielen bewusst sein mag, und insofern hält Grau "Autonomie" zu Unrecht für den unverhandelbaren Grundwert eines protestantischen Christentums. Im traditionsgeschichtlichen Hintergrund steht nämlich die von Kant hochgeschätzte Stoa, die - religionswissenschaftlich gesehen - von Anfang an im Christentum ein konkurrierendes Modell zum christlichen Freiheitsverständnis darstellte. Hieran zeigt sich, dass beim überkommenen Gegensatz zwischen liberaler und konservativer Theologie nicht nur theologische, sondern weltanschauliche und religionsphilosophische Differenzen eine Rolle spielen. Was etwa Thomas Mann als "protestantische Gottunmittelbarkeit" benennen kann, hat wohl eher einen philosophisch-stoischen als einen lutherisch-protestantischen Hintergrund und meint mehr einen schon bei Erasmus von Rotterdam anzutreffenden Humanismus als den bei Luther und Melanchthon anzutreffenden, von Christus her gefüllten Freiheitsbegriff.

Graus neoliberale Theologie hat mit den urprotestantischen Prinzipien der Reformation wenig zu tun. Thomas Mann verehrte das "Geheimnis", das sich in der Humanität offenbare und in Jesus zur urbildlichen Darstellung gelangt sei. Jesus als Urbild - das ist freilich O-Ton Schleiermacher. "Mein Protestantismus ist bloße Kultur, nicht Religion", schrieb Mann 1953 in einem Brief an den Katholiken Reinhold Schneider. Solche Wärme kann es aber schwerlich ohne ein höheres Maß an Verbindlichkeit geben - sowohl in horizontaler, mitmenschlicher Richtung als auch in vertikaler Hinsicht, den Gottesglauben betreffend.

Wenn die neutestamentlich wiederholt geäußerte Grundbeschreibung Gottes als Liebe (1. Johannes 4, 8.16) nicht nur als ästhetische Formel, sondern zutiefst inhaltlich verstanden ist, dann geht es mit ihr um jene Nähe, ja Unmittelbarkeit zu Gott, die sich dem Mittler, der Offenbarung des göttlichen Herzens im Kommen, Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi verdankt. Die Botschaft von der Rechtfertigung des Gottlosen impliziert als Zuspruch einen entsprechenden Anspruch.

Ein Konflikt der Paradigmen

Genau der aber ist mit einem Denken im Schema moderner Autonomie kaum kompatibel. Dem emanzipierten Geist ist alles Heteronome und ebenso alles Theonome suspekt. Mit derselben Entschiedenheit wehrt er sich gegen "fundamentalistische" Frömmigkeitsansprüche einerseits und andererseits ge­gen eine Theo­logie, die das Reden von Gott durch trinitarische und christologische Reflexionen hell, aber auch verbindlich zu machen sucht. Bei der Differenz von liberaler und konservativer Theologie geht es demgemäß keineswegs um Modehaltungen im Sinne des Gegensatzes zwischen moderner Aufgeschlossenheit und Zukunftsorientierung versus rückwärts gewandter Bestandssicherung.

Vielmehr handelt es sich um einen Paradigmen-Konflikt, um den Wechsel eines Rahmenkonzepts, der sich schwerlich auf die Formel "neues kontra altes Denken" bringen lässt - denn beide Denkstrukturen ha­ben bereits antike Wurzelstränge. Ethisch wirkt sich (neo-)liberale Theologie in der Tat anders aus als (neo-)konservative. Der von Grau befürwortete He­donismus, ja ein der Autonomie wesensverwandter Narzissmus sind in unserer Gesellschaft Ausdruck einer Selbstverliebtheit, die geneigt ist, das Wohl der Gemeinschaft entschlossener Konsumorientierung nachzuordnen und deshalb kollektive oder religiöse Verbindlichkeiten abzuwehren. Graus "euphorische Bejahung moderner Lebens- und Denkkultur" und seine Kritik asketischer und sozialkritischer Frömmigkeit gründen auf einer eigenen Art von Dogmatik, deren Lehrsätze mehr das Gefühl des glaubenden Menschen als die Erkenntnis der geglaubten Wahrheit beschreiben.

Christus als Wahrheit in Person

Demgemäß versteht sich neoliberale Religiosität als Pflege menschlichen Kontingenzbewusstseins, das den Blick auf die bleibende Unverfügbarkeit des Lebens lenkt, nicht aber auf die verheißene Erlösung oder besser: den gekommenen und kommenden Erlöser selbst. Dass die Hoffnung auf ihn bereits hier und heute bestehende "soziale Schieflagen oder globale Missstände anklagt", passt nicht ins "wohlverstandene Eigeninteresse". Dieses klagt vielmehr konservative Denker wegen ihrer angeblichen "allgemeinen und prinzipiellen", zeitlosen Lehrsätze an, reflektiert aber kaum auf die eigene zeitgeschichtliche Bedingtheit und ideologische Struktur - und noch weniger darauf, dass sich der Protestantismus von seinem Ansatz her gerade nicht an allgemeinen oder prinzipiellen Lehrsätzen, sondern an "Christus allein", als der Wahrheit in Person orientiert.

Der Umstand, dass Schleiermacher den Trinitätsgedanken mit relativierendem Tenor ans Ende seiner "Glaubenslehre" verweist, während ihn Karl Barth sachlogisch an den Anfang stellt, bezeichnet mehr als einen ästhetischen Unterschied - er steht für den bereits angedeuteten Paradigmenkonflikt. Der Begriff "Protestantismus" schillert seit langem, indem er beide Exponenten dieses Konflikts unter seinen geweiteten Schirm nimmt. Was ursprünglich protestantisch, nämlich reformatorisch gegründet war, hat im Zeichen seiner Fortschreibung an Profil verloren. Friedrich Wilhelm Graf weiß als neoliberaler Theologe, wovon er redet, wenn er in seinem Buch "Der Protestantismus" (2006) vermerkt, "dass sich das Protestantische über seine originären konfessionschristlichen Schranken hinaus entgrenzt hat zu einem vielfältig wirkmächtigen theologischen und religionsstrukturellen Ideenkomplex, der in den Symbolsprachen höchst unterschiedlicher Religionen und Glaubensrichtungen jeweils mit eigenen Elementen verschmolzen werden kann." Das reformatorische Element ist zu einem relativierten Teilmoment des mutierten Protestantismusbegriffs reduziert.

Verlust der eschatologischen Dimension

Dabei steckt in der reformatorischen Erkenntnis eben nicht ein Prinzip, sondern ein spirituelles Element von solcher Tiefe und Kraft, sodass seine Relativierung dort, wo es recht rezipiert worden ist, nur als Schaden gewertet werden kann. Der Wittenberger Reformator Philipp Melanchthon betont: "Deshalb muss die Kirche eine Lehre haben, die nicht auf der Weisheit menschlichen Scharfsinns beruht, sondern eine verborgene Stimme Gottes ist, ans Licht gebracht durch den Sohn aus dem Schoß des ewigen Vaters" (Melanchthon deutsch II, 20). In diesem Sinn ist es verständlich, dass sich Paul Tillich erinnert: "Unauffindbar blieb mir der Zugang zur liberalen Dogmatik, für die an die Stelle des gekreuzigten Christus der historische Jesus tritt und die Paradoxie der Rechtfertigung durch moralische Kategorien aufgelöst wird." (Begegnungen, 1971, S. 32)

Liberaler Theologie fehlt laut Tillich "die Einsicht in den ‚dämonischen’ Charakter der menschlichen Existenz". Mit dieser Bemerkung trifft der Systematiker den verborgenen stoischen Kern liberalen Denkens. Was jedoch liberaler Theologie vor allem abgeht, ist die erklärte Bindung an die eschatologische Dimension des Christlichen - an jene dynamische Verschränkung von "schon" und "noch nicht" in der Ausrichtung auf die Vollendung der Schöpfung, wie sie in dieser Intensität gerade im Zeichen des Mensch gewordenen Gottes möglich geworden ist. Die spirituelle Grundorientierung am Ziel, nämlich am Endsieg der Liebe, die Gott selber ist, hat ihren Anhalt am auferstandenen Christus.

Hier geht es um mehr als um einen Impuls oder ein Programm, um mehr als um einen "-ismus", und sei es der Protestantismus. Hier geht es in der Tat um Kontingenzbewältigung durch eine "Sinnstiftungserzählung": durch das Evangelium von Jesus Christus mit seinem eschatologisch verankerten Zuspruch, der so kräftig ist, dass es allen mit ihm einhergehenden Anspruch, ja noch alles Versagen an ihm überragt. Und dementsprechend überragt die hier sich eröffnende Freiheit allen Liberalismus.

Werner Thiede

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"