Die Journalisten Giovanni Di Lorenzo und Axel Hacke haben zusammen ein interessantes Buch geschrieben. Sie fragen sich darin, an welche Werte sie eigentlich glauben. Mit ihrer Selbsterforschung wollen sie zugleich Weckamine gegen die verbreitete Gleichgültigkeit in Fragen des Allgemeinwohls in Umlauf bringen. Und sie tun dies auf der Basis eigener Erfahrungen, erzählend und reflektierend, phasenweise im unmittelbaren Dialog, dann wieder im assoziativen Wechsel.
In ihrer autobiographischen Werte-Inventur spiegelt sich zugleich die Erfahrung einer Generation, derjenigen, die nach der 68er-Revolte kam, und von der der Journalist Reinhard Mohr Anfang der Neunzigerjahre schrieb, sie sei merkwürdig profillos geblieben. Di Lorenzo und Hacke treten mit Anfang fünfzig aber den späten Gegenbeweis an. Allerdings nicht mit starken Worten, sondern mit differenzierten Beschreibungen und einem selbstkritischen Bekenntnis zu eigenen Schwächen, vor allem zur Erfahrung von bleibender Ambivalenz. "Statt 'Lotta continua'" (ständigem Kampf) heißt es bei uns: 'Das Abwägen geht weiter'", schreibt Di Lorenzo. Dieses Abwägen findet oft auch indirekt und zwischen den Zeilen erzählender Passagen statt.
Beide Autoren interessieren sich für Politik - zu den Zeiten von Willy Brandt und Rudi Dutschke noch eine Sache großer Köpfe und Leidenschaften, so der heute politikverdrossene Hacke etwas wehmütig. Di Lorenzo will diese Vergangenheit nicht zurück, verweist auf ihre Ambivalenzen und die immensen Herausforderungen der Gegenwart.
Was in der Generation zuvor vielen noch als spießig galt, ist auf der Werteskala der beiden Postachtundsechziger nach oben gerutscht: die Familie. Für den frühen Vater Hacke ist sie immer noch "ein sehr aufregendes Abenteuer", und der späte Vater Di Lorenzo mahnt: "Es wäre eine großartige Leistung, wenn es vielen von uns gelänge, als Familie zusammenzubleiben, ohne an ihr übermäßig zu leiden, und den Kindern etwas mitzugeben, was ganz viele in meiner Generation schmerzlich vermisst haben: die Erfahrung, gemocht und angenommen zu werden und das hin und wieder auch gesagt zu bekommen." Eines fällt dabei aber auf: Mit der alltäglichen Familienarbeit scheinen die beiden Familienapologeten nicht viel zu tun zu haben.
Über Gott und die Welt
Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Buch über Gott und die Welt, und das Themenspektrum reicht von der NS-Vergangenheit über Migration, Gerechtigkeit, Ökologie und Wiedervereinigung bis hin zu den individuellen Erfahrungen von Krankheit und Depression.
Ein roter Faden der Reflexion ist dabei immer wieder die Frage nach der Fähigkeit, eigene Schwächen und Ängste wahr- und anzunehmen. Es geht den Autoren um Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Konkurrenz- und Leistungsprogrammen und um "das Leben da draußen", um die Gemeinschaft und die anderen. Auch Religiöses kommt zur Sprache. Darin beschreibt der Katholik Giovanni Di Lorenzo, wie sehr ihn das öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II. beeindruckt hat: dieser demonstrative Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Forderung der permanenten Bella Figura.
In der Perspektive eines weiten Religionsbegriffes geht es in dem ganzen Buch sogar um nichts anderes als um Religion: Die Autoren beschreiben schließlich - in den Worten der Religionsdefinition des Soziologen Thomas Luckmann - ihr jeweiliges "individuelles System letzter Relevanzen". Und obwohl sich Di Lorenzo als Katholik outet, scheinen die Sinnsysteme beider Autoren eher protestantisch konnotiert: Sie setzen auf das Individuum, auf eine diskursive Ethik und ein selbstkritisches Bewusstsein eigener Grenzen. Fazit: Ein ehrliches kleines Buch, das anregt, in das Gespräch über die großen Fragen einzutreten.
Axel Hacke/ Giovanni Di Lorenzo: Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist - eine Suche. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, Euro 18,95.
Jörg Herrmann
Jörg Herrmann
Jörg Herrmann ist Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche in Hamburg.