Die Tiefenpsychologin und evangelische Theologin Ingrid Riedel, die im vergangenen Jahr 75 geworden ist, hat vielleicht sich selbst, vor allem aber uns beschenkt, indem sie die Mystikerinnen porträtiert hat, die ihr in den letzten Jahren und Jahrzehnten nahe gekommen sind. Sie beginnt mit der vielseitigen Hildegard von Bingen. Immer aufs Neue erstaunt die Aktualität dieser Frau: Mit der Kraft der Imagination, zu der Hildegard anleitet, wird heute in Therapien erfolgreich gearbeitet. Die Vorstellung einer kosmischen Energie, die alles miteinander vernetzt, prägt das Naturdenken vieler. Die Verantwortung des Menschen für das ökologische Gleichgewicht zu sehen, ist dringlicher denn je. Am Beispiel Hildegards entfaltet Riedel, was sie unter "weiblicher Spiritualität" versteht. Charakteristisch hierfür ist Hildegards Vision des Universums als Leib Gottes.
Wie unterschiedlich die Mystikerinnen sind, erweist der Blick auf Marguerite Porete. Diese Meisterin innerer Souveränität lebte, mit C. G. Jung gesprochen, in enger Verbindung mit dem Animus-Archetyp des innerlich Geliebten, den sie den Fern-Nahen nennt: Wer zur vollkommenen Gottesbeziehung in der Liebe gelangt ist, ist wahrhaftig frei, er bedarf der kirchlichen Vorschriften nicht mehr. Porete wurde von der Inquisition 1310 als Ketzerin verbrannt.
Gott wohnt in der eigenen Seele
Das reiche und bewegte Leben der Teresa von Avila inspiriert heute zur Gottesfreundschaft und insbesondere zu einem Verständnis von Kontemplation, das von der Vorstellung ausgeht, dass Gott in der eigenen Seele wohnt und hier, im wahren Selbst, das innere Beten gepflegt werden kann, dessen größte Früchte über Imaginationsübungen hinaus das schweigende Verweilen und pure Gott-wirken-lassen seien mit all seinen Auswirkungen auf das Engagement nach außen.
An Edith Stein berührt die Kraft zum Mitleiden. Ihre Mystik ist Kreuzesmystik. Feinfühlig arbeitet Riedel heraus, dass es Stein nie darum gegangen ist, das Leiden, das Kreuz selbst zu suchen. Eine der eindrücklichsten Erfahrungen, die die Philosophin und Atheistin Stein für das Christentum aufgeschlossen hat, lag in der Begegnung mit der Christin Anna Reinach und deren gefasstem Umgang mit dem Tod ihres Mannes Adolf im Ersten Weltkrieg. Das Getragensein im Leiden und die aus der Orientierung an Christus gewonnene Kraft zum Mitleiden machen das besondere Charisma dieser in Auschwitz ermordeten Mystikerin aus. Das kaum zu beschreibende Geheimnis sieht Riedel in der transformierenden Kraft des (Mit-)Leidens, die wächst, wo das Leiden aus anderen, größeren Händen als denen der Mächtigen und Gewalttätigen angenommen wird.
Die Mystik demokratisieren
"Die Träumenden zum Handeln, die Handelnden zum Träumen bringen": so wird Dorothee Sölles Anliegen auf den Punkt gebracht. Sich von Gott geträumt zu wissen und Gottes Traum für die ganze Erde mitzuträumen - die Tiefenpsychologin zitiert vor allem diese Bilder aus Sölles Theopoesie, um das Programm von "Mystik und Widerstand" zu vermitteln. Sölle möchte Mystik "demokratisieren", ins Bewusstsein bringen, dass alle Menschen zu einem mystischen, verbundenen, zugehörigen Leben berufen sind und dass aus solcher Verbundenheit heraus politisches Handeln gefordert ist.
Insofern ist es stimmig, dass Riedel ihr Buch mit hinführenden Übungen abschließt. Die eindrücklichen Frauen laden dazu ein, der Sehnsucht nach der Weite des eigenen Herzens nachzugehen, damit "Gott" immer mehr "verteilt" (Sölle) werden kann.
Ingrid Riedel: Mystik des Herzens. Meisterinnen innerer Freiheit. Kreuz Verlag, Freiburg 2010, 200 Seiten, EUR 18,95
Irene Leicht