Chancen des Alterns

Die Deutschen werden älter - und das ist gut so
Es darf mit immer fitteren Senioren gerechnet werden. Foto: dpa/Wolfgang Kluge
Es darf mit immer fitteren Senioren gerechnet werden. Foto: dpa/Wolfgang Kluge
Den demographischen Wandel zeichnen viele Wissenschaftler als Horrorszenario. Der Direktor des Rostocker Max-Plank-Instituts für demographische Forschung, James W. Vaupel, und der Journalist Björn Schwentker erläutern, warum das eine Fehleinschätzung ist.

Die demographische Alterung gilt vielen als ein gesellschaftlich erdrückendes Problem. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine der größten Errungenschaften der modernen Zivilisation. Denn die Alterung der Gesellschaft als Ganzes wird wesentlich weniger von den derzeit niedrigen Geburtenraten getrieben als von der rasant steigenden Lebenserwartung - also von einem wünschenswerten Prozess. Und uns erwartet nicht nur ein längeres Leben, sondern auch ein längeres gesundes Leben.

Der demographische Wandel der Industrienationen hat zwei Hauptkomponenten: Geburtenraten, die häufig unter dem Bestandserhaltungsniveau liegen, und eine zunehmende Lebenserwartung. Das Bestandserhaltungsniveau entspricht einer Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau, für die jede kommende Generation die ihrer Eltern komplett ersetzt.

Während die gegenwärtig geringe Geburtenrate zumindest in extremer Ausprägung kein dauerhaftes Phänomen sein dürfte, müssen wir davon ausgehen, dass der Trend zu einem immer längeren Leben anhalten wird. Der Zugewinn an Lebenszeit dauert schon lange an und vollzieht sich in hohem Tempo. Allein im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung in Deutschland um etwa dreißig Jahre. Ähnlich stark nahm sie auch in vielen anderen Staaten Westeuropas, in Australien, den USA, Kanada oder Japan zu. Heute hat laut Angaben des Statistischen Bundesamtes ein in Deutschland geborenes Mädchen eine Lebenserwartung von etwa 82 Jahren und sechs Monaten.

Die Gesellschaft der Hundertjährigen

Dieser statistische Wert geht allerdings davon aus, dass sich die gesundheitlichen Bedingungen in den nächsten Jahrzehnten nicht weiter verbessern - eine eher unrealistische Annahme. Schließlich lässt sich für viele entwickelte Staaten eine rasante Steigerung der Lebenserwartung schon seit mindestens 1850 belegen. Selbst wenn man konservativ schätzt, dass die gesundheitlichen Verbesserungen, die hinter diesem Zugewinn liegen, sich bloß in schwächerem Maße fortsetzen und die Lebenserwartung für die kommenden Jahrzehnte nur um zweieinhalb Monate pro Jahr zulegt, kommt man zu einem beeindruckenden Ergebnis: Ein 2010 in Deutschland geborenes Baby wird mit mindestens 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit hundert Jahre alt. Die Kinder, die heute auf den Geburtsstationen liegen, sind bereits die Bürger einer Gesellschaft der Hundertjährigen.

Gleichzeitig erleben schon jetzt immer mehr Senioren ein sehr hohes Alter. Weil die verbleibende Lebenserwartung im Verlauf des Lebens steigt, können 65-jährige Frauen heute mit im Durchschnitt zwanzig weiteren Jahren rechnen, und 85-jährige sogar noch mit sechs. Ein nicht nur langes, sondern sehr langes Leben ist also kein Phänomen der ferneren Zukunft. Es ist bereits Wirklichkeit.

Keine biologische Altersgrenze in Sicht

Aber wird die Verlängerung des Lebens nicht bald ein jähes Ende finden, weil es eine biologische Obergrenze für das Alter des menschlichen Körpers gibt? Es sieht nicht danach aus. Immer wieder haben Forscher obere Altersgrenzen postuliert. Doch die ungebremst ansteigende Lebenserwartung hat jede einzelne davon durchbrochen. Es gibt bis jetzt keinen Befund, der etwas anderes belegt: Unsere Lebensspanne könnte theoretisch endlos wachsen. Dafür spricht auch, wie der Zugewinn an Lebensjahren heute zustande kommt. Bis 1920 nahm die Lebenserwartung vor allem zu, weil die Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen beträchtlich sank. Je weniger Erfolge in diesem Alter erzielt werden konnten, desto wichtiger wurden die Beiträge aus höheren Altersgruppen. Inzwischen geht die Verlängerung des Lebens zu fast 80 Prozent auf das Konto einer sinkenden Sterblichkeit in der Klasse der über 65-Jährigen. Da­bei verliert der Prozess keineswegs an Tempo. Die Verlängerung der Lebenserwartung findet also sozusagen am "oberen Ende" des Lebens statt. Die Alten werden in Zukunft noch älter.

In der Öffentlichkeit hat diese erfreuliche Entwicklung zu einigen Fehleinschätzungen geführt. Sie sind hauptsächlich auf ein verzerrtes Bild des Alterns zurückzuführen: Das einer senilen Bevölkerung, deren Alte für die Gemeinschaft vornehmlich eine Bürde sind. Symbolhaft haben sich dafür Begriffe wie "Vergreisung" oder "Überalterung" der Gesellschaft in der medialen Debatte breit gemacht, verbunden mit den Assoziationen von Krankheit, Schwäche und egoistischem Altersstarrsinn.

Der systematische Denkfehler

Die Diskussion leidet unter einem systematischen Denkfehler: Der "Ceteris-Paribus-Logik", also der in diesem Fall irrigen Annahme, dass sich nur ein Parameter ändert, alles andere aber so bleibt, wie es ist. Es wird zwar allgemein akzeptiert, dass wir sehr viel älter werden. Es wird aber ignoriert, dass wir auch sehr viel gesünder altern als früher. Tatsächlich verändert sich das Alter beträchtlich und ist gleichzeitig von uns selbst veränderbar. Es ist plastisch. Es gibt begründete Hoffnung, dass sich die Lebensspanne, innerhalb derer wir noch gesund, leistungs- und arbeitsfähig sind, genau so schnell erweitert, wie die Lebenserwartung steigt. Grob gesprochen ist damit ein heute 50-Jähriger so fit wie noch 1970 ein 40-Jähriger oder ein 65-Jähriger so gesund wie ein damals 55-Jähriger. Das Alter wird also immer aktiver und agiler, und Alte können (und wollen) gesellschaftlich mehr Verantwortung übernehmen als früher

Mit dieser Einsicht verliert der demografische Wandel sofort eine Menge des ihm zu Unrecht zugeschriebenen Schreckens. Wieso dürfen wir so optimistisch sein? In der Tat ist wissenschaftlich noch nicht geklärt, wie genau sich Alterskrankheiten und funktionale Behinderungen im Licht der steigenden Lebenserwartung entwickeln. Es steht außer Frage, dass der Körper zum Ende des Lebens hin abbaut. Wir alle altern, und manche sind schon früh von körperlichem Leiden betroffen. Aber der große Trend ist ein anderer. Es scheint realistisch, davon auszugehen, dass der Anteil der kranken und schwachen Jahre am Lebensende im Verhältnis zur gesamten Lebenszeit immer kleiner werden wird.

Ein starkes Indiz dafür ist die Entwicklung der Mortalität, also der Wahrscheinlichkeit, in einem bestimmten Lebensjahr zu sterben. Sie gilt als einer der verlässlichsten Indikatoren für die Gesundheit. Würden wir tatsächlich, entsprechend der gängigen Vorstellung, mit steigender Lebenserwartung immer länger siech und schwach sein, dann wäre dies die Folge eines Alterungsprozesses, der sich verlangsamt. Die körperliche Entkräftung, die wir bisher zwischen 70 und 80 erfahren haben, würden wir dann beispielsweise von 70 bis 85 erleiden. Die Rate, mit der unsere Sterbewahrscheinlichkeit im Alter ansteigt, müsste dann abflachen.

Mobil mit künstlichen Gelenken

Dies ist aber nicht der Fall, wie die Mortalitätsdaten belegen: Die Änderungsrate der Sterbewahrscheinlichkeit bleibt gleich, die Mortalitätskurve verschiebt sich einfach nur in ein höheres Alter. Das heißt: Der Alterungsprozess geht nicht langsamer, der körperliche Verfall beginnt nur später. Der Tod stellt sich also nicht langwieriger und schleichender ein, er wird lediglich aufgeschoben. Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die gesunde Lebensspanne in gleichem Maße verlängert.

Schwieriger ist es, die Zunahme der Gesundheit im Alter direkt zu erfassen. Zunächst sieht nämlich alles nach dem Gegenteil aus. Die Literaturlage ist zwar teils widersprüchlich, doch es kristallisiert sich heraus, dass viele, insbesondere chronische Erkrankungen im Alter häufiger werden: etwa Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Demenz oder auch Übergewicht.

Doch viele Krankheiten werden heute früher und besser erkannt, und tauchen darum in den Statistiken häufiger auf. Gleichzeitig werden sie immer früher und besser behandelt. Ständige Fortschritte in der Medizin haben dazu geführt, dass viele Alte heute zwar in den Augen der Gesundheitsstatistik krank, aber durchaus fit sind. So lässt sich etwa mit einem Schrittmacher trotz Herzschwierigkeiten noch sehr lange und gut leben. Und künstliche Gelenke halten immer mehr Rentner mobil, obwohl ihr Knie oder ihre Hüfte eigentlich verschlissen sind. Für medikamentöse und andere medizinische Behandlungsformen gelten ähnliche Effekte. Anders ist auch nicht zu erklären, wieso die Mortalität so eindeutig sinkt, während die Häufigkeit vieler Krankheiten ansteigt.

Entscheidend für ein langes und gesundes Leben ist weniger welche Krankheiten ein Mensch hat, als, wie gut er damit leben kann und wie er sich dabei fühlt. Diese Entwicklung verläuft positiv: Sowohl Einschränkungen in der Mobilität als auch beim Verrichten alltäglicher Dinge nehmen in fast allen wohlhabenden Ländern ab. Senioren eines bestimmten Alters sind heute nicht nur länger und besser in der Lage, sich anzuziehen, sich etwas zu Essen zu machen, sich allein fortzubewegen oder zu waschen als noch vor einigen Jahren im selben Alter. Sie sind auch länger in der Lage, selbst für ihre Finanzen zu sorgen, und kommen mit moderner Technik besser zurecht.

Gebildete leben länger

Dafür sprechen auch Daten außerhalb des medizinischen Bereichs: In den vergangenen zehn Jahren haben die Rentner begonnen, das Internet zu entdecken. Inzwischen ist in Deutschland über ein Drittel der Pensionäre online, Tendenz steigend. Es ist wahrscheinlich, dass sich der Alterungsprozess auch in Zukunft weiter aufschiebt; die Voraussetzungen dafür werden immer besser: Die Medizin wird sich weiterentwickeln und das Streben nach gesünderer Ernährung und Lebensweise lagen selten so sehr im Trend wie heute.

Hier gibt es viel Potenzial, nicht nur in den höheren Altersgruppen, sondern auch unter den Jugendlichen. Sie können das Alter künftig in noch besserem körperlichem Zustand erreichen, wenn es gelingt, einige unvernünftige Lebensweisen zu bekämpfen wie etwa Rauchen, übermäßigen Alkoholkonsum, Mangel an Bewegung oder Übergewicht. Für Fortschritte in diesen Bereichen spricht, dass immer mehr Menschen immer besser gebildet sind. Und Gebildete leben länger. Auch die Altersforschung wird eine entscheidende Rolle spielen: Nie wurde so intensiv wie jetzt untersucht, welche Faktoren das Leben verlängern und gesünder machen. Je mehr über sie bekannt wird, desto leichter lassen sie sich positiv beeinflussen. Wenn wir es richtig angehen, könnte die als so negativ abgestempelte Alterung zu einem produktiven Prozess mit positiver Rückkopplung werden. Sie ist letztlich eine große Chance für unsere Gesellschaft. Es liegt in unserer Hand, sie zu nutzen. LITERATUR Björn Schwentker / James W. Vaupel: Die politischen Dimensionen des demographischen Wandels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10-11, Das Parlament, Berlin 2011.

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Björn Schwentker/James W. Vaupel

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