Kneipe der Archive

Dylans Witmark Demos
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Wer hier war, bliebe lieber und muss doch fort. So ist das Le­ben. Und so sind Dylans frühe Lieder.

Ein Rocker wartet auf den Bus. Niemand lacht. Unser Ziel ist eine Seitenstraße. Frost hat ausgewaschene Gehwegplatten zum Stolpern neu ausgelegt. Der Lack der Holzrahmen rissig, die Fenster lange nicht geputzt. Zigarettenqualm steigt in niedrig hängende Lampenschirme über den Tischen. Ein Ort, den man betrunken verlässt oder kaffeezittrig, in Begleitung, die Lippen bereits weich geküsst, auf dem Weg zum Bahnhof oder ins Rekrutierungsbüro der Legion.

Wer hier war, bliebe lieber und muss doch fort. So ist das Le­ben. Aber er geht glücklich, reich, mit ei­ner Erkenntnis oder vielen, Zuversicht, ernüchtert, hat vielleicht Ziele oder ein Zuhause. Und wer niemals herkommt, ist eh ein armer Tropf. "Si vis pacem, para bellum - wer seinen Weg geht, stelle sich auf Querschläger und Rüpel ein." Bloß Leben. Auf einer grob gezimmerten Bühne singt ein junger Typ, vor Rauch kaum zu sehen, begleitet sich auf einer angeschrammten Gitarre, pickt, wechselt mitunter zum Klavier, zur Mundharmonika am Gestell. "Farewell", "Long Time Gone", "When The Ship Comes In" und "Rambling Gambling Willie" lauten die Titel, andere "Don´t Think Twice, It´s Alright", "Mr. Tambourine Man" und "A Hard Rain´s A-Gonna Fall", auch "Blowin´ In The Wind". 47 Songs insgesamt.

Melancholisch, aber nie verzweifelt

Du willst bleiben und merkst allmählich, du warst nie fort. Ein gutes Gefühl. Es sind Geschichten, wie sie das Le­ben schreibt. Bitter, anrührend, vor Abstrusität zum Lachen. Heraufkunft einer Stimme, die eine Schneise durch eine ganze Epoche ziehen wird, bis heute. Songs, die auch Antworten sind auf dieses Leben, mutig, unerschrocken, verliebt, schmachtend und heiter oder bitter, doch immer Aufbruch, teils melancholisch, aber nie verzweifelt.

Unverzichtbar sind die Aufnahmen alle, vom Verdacht wohlfeiler Nebeneinkunft so weit entfernt wie "Tomorrow Is A Long Time" von kalkuliertem Drängen. Die Versionen sind nackt, archaisch, unbekümmert, zeitlos, ganz gegenwärtig. Erfüllte Augenblicke, die ihre Entstehungszeit so wenig atmen wie Wahrheit Konjunkturzyklen kennt. Die Sarkasmus-Litanei schrecklicher Ereignisse in "Long Ago, Far Away" ("those things don´t happen no more nowadays") knüpft denn auch nahtlos an das unbeeindruckte "It´s All Good" von Dylans letztem Studioalbum Together Through Life an (zz 10/09). Stolperfugen gibt es keine.

Diese Archiv-Kneipe hat hohe Fenster und keine Gardinen, davor steigen Rocker in Busse ein. Auch Hochprozentiges wird hier ausgeschenkt, bevorzugt Single Malt. Das jedoch ist eine andere, "Time Out of Mind"-Dylan-Geschichte.

Bob Dylan - The Witmark Demos 1962-1964. Bootleg Series Vol. 9. Booklet und Doppel-CD. Columbia/Sony Records 2010.

Udo Feist

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