Eine Art Gartenmauer
zeitzeichen:
Herr Professor Markschies, wie wurde aus dem Zimmermannsohn Jesus aus Nazareth der Christus?
Christoph Markschies:
Jesus von Nazareth trat seiner Umgebung mit einem besonderen Anspruch gegenüber, der sich nicht mit dem Titel fassen ließ, der im Judentum seiner Zeit für den erwarteten Heilbringer üblich war: "Messias", "der Gesalbte". Deswegen verwendete er selbst einen relativ eigenständigen Titel, nämlich "Menschensohn". Mit der Zeit haben die Menschen versucht, diesen Vollmachtsanspruch, der ihnen da gegenübertrat, in geprägtere, schon eingeführte Titel umzumünzen. Zu denen gehörte eben der Messiastitel - und der Titel "Gottes Sohn", der Jesus schon überraschend früh zugesprochen wurde, ebenso wie der Gottestitel "Kyrios", "Herr". Der Messiastitel war für Nichtjuden allerdings überhaupt nicht verständlich. Man hatte ihn im hellenistischen Alexandria beim Übertragen der Bibel einfach wörtlich ins Griechische übersetzt: "ho Christos". Das bedeutet aber zunächst nur: "aufgestrichen". Gebräuchlich war unter Nichtjuden eigentlich nur "Neochristos", das heißt: "frisch gestrichen". Ein heidnischer Grieche hätte sich freilich gefragt, was er sich unter "dem Aufgestrichenen" vorstellen soll. Also wurde Christus zu einem zweiten Eigennamen: "Jesus Christus".
Sie erwähnten, dass irgendwann auch der Gottestitel dazu kam. Wo wird das deutlich?
Christoph Markschies:
Zum Beispiel im Kolosserbrief. Im Kolosserhymnus steht (2,9): "In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig." Das ist eine ungeheure Aussage über jemanden, der wie Jesus von Nazareth mit seinen Freunden und Anhängern durch eine, aus stadtrömischer Perspektive gesehen, abgelegene Provinz zieht. Die Menschen reagierten auf den ungeheuren Vollmachtsanspruch und auf seine Verkündigung zunächst mit der Überzeugung, dass er lebt, trotz seiner schmählichen Hinrichtung am Kreuz, und durch die Auferstehung zum Sohn Gottes eingesetzt wurde. Aber schon im vorpaulinischen Philipperhymnus heisst es, dass Gott dem Erhöhten einen Namen gegeben hat, "der über alle Namen ist" (2,9) - den Gottesnamen. Der griechische Begriff Gott fällt dann im Johannesevangelium: "Mein Herr und mein Gott" (20,28). Erst am Ende des ersten Jahrhunderts und dann im zweiten geht den Christen dieser Ausdruck "Gott" selbstverständlicher über die Lippen; es brauchte eine Weile, bis man theologisch begriffen hatte, was es bedeutet, einen einzigen Gott zu verehren und trotzdem Jesus von Nazareth als "Gott" zu bekennen.
Das Konzil zu Chalcedon kam zu der berühmten Formel, Jesus sei wahrer Mensch und wahrer Gott. Was ist damit gemeint?
Christoph Markschies:
Die Formel kann man als eine Art Gartenmauer verstehen. Sie macht sozusagen deutlich, wo der schöne Garten ist und wo der Wildwuchs beginnt. Sie will sagen: 'Wenn du dir Jesus von Nazareth nicht als einen wahren Menschen denkst, wenn du denkst, er wurde im Garten Gethsemane nicht wirklich müde und verzweifelt, liegst du falsch. Du musst ihn dir wie einen wahren Menschen mit allen menschlichen Zügen, den schönen wie den schwierigen, vorstellen'. Und der zweite Teil der Formel - wahrer Gott - soll sagen: 'Wenn du ihn dir nur als reinen Menschen vorstellst, als einen wie du und ich, und nur als solchen, liegst du auch falsch'. Im Grunde handelt es sich also um ein Paradox, um etwas, was im Rahmen klassischer antiker Gotteslehren undenkbar und widersinnig war: Entweder war jemand Gott wie Zeus, Jupiter und Athene. Oder jemand war Mensch. Oder was dazwischen, ein Halbgott wie Herakles. Das Konzil aber hat gesagt: kein Halbgott und weder nur Gott noch nur Mensch, sondern beides gleichzeitig. Es wird allerdings nicht entfaltet, wie das zusammenpassen soll, es wird nur gesagt, dass jede Aussage über Jesus von Nazareth so strukturiert sein muss. Dann sind die Konzilsväter nach Hause gegangen. Nachdem sie sozusagen eine Gartenmauer gebaut hatten, haben sie dankenswerterweise gesagt, dass das reicht.Und zusätzlich haben sie noch einige wenige wichtige Hinweise zur Gartenarchitektur gegeben.
Sie haben schon auf den Kolosserbrief hingewiesen. Lässt sich die dogmatische Aussage "wahrer Mensch und wahrer Gott" also biblisch begründen?
Christoph Markschies:
Ich bin davon überzeugt, dass diese Aussage biblisch begründet ist. An bestimmten neutestamentlichen Geschichten ist zu sehen, dass man es in der Person Jesu von Nazareth mit Gott zu tun hat. Einer meiner akademischen Lehrer hat gesagt: "Jesus ereignet Gott". Das ist ein Versuch, diese Zusammenhänge einmal fern von traditioneller Sprache auszudrücken. Noch etwas schlichter formuliert: Man hat es in der Person Jesus von Nazareth mit Gott zu tun.
Woran merkt man das?
Christoph Markschies:
Nun, Jesus sagt zum Beispiel: "Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft da" (Lukas 11,20). Das krankenheilende Handeln Jesu von Nazareth war ja nicht das irgendeines beliebigen Wunderheilers. Man hatte es vielmehr mit einer Zeitenwende zu tun, in der das Reich Gottes, die neue Zeit Gottes, unmittelbar anbricht. Das ist also nicht nur eine Zeitansage, wie der Kirchentag. Durch das Handeln dieser Person verändert sich vielmehr die gesamte Architektur der Zeit. Der Anbruch dieser neuen Zeit wird aber mit Gott in Verbindung gebracht. Auch am Tod Jesu wird diese enge Verbindung von Vater und Sohn deutlich. Ich bin davon überzeugt, dass Jesus von Nazareth seinen Tod jedenfalls zeitweise als sinnvoll verstanden hat. Nicht im Garten Gethsemane, da war er verzweifelt, aber doch in bestimmten Momenten - sinnvoll in dem Sinne, dass er wusste, dass er mit seinem Sterben etwas wieder in Ordnung bringt im Verhältnis von Gott und Mensch. Entweder ein größenwahnsinniger Anspruch oder aber eine Wahrheit, zu dem man Ja und Amen sagen kann. In der Person Jesus hat man es mit Gott selbst zu tun. Das meint die alte Figur von der Inkarnation. Gott selbst ist in dieser Person, wie es im Kolosserbrief heißt, ganz gegenwärtig.
Wird denn die Vorstellung der Inkarnation Gottes dem Juden Jesus gerecht? Für Juden muss es doch wie ein Sakrileg klingen, dass Gott sich in einem Menschen inkarniert?
Christoph Markschies:
Das Interessante ist ja, dass die ersten Christen alle Juden waren. Das Bekenntnis zur Inkarnation ist also zunächst einmal ein jüdisches Bekenntnis. Wir kennen leider das Judentum meist viel zu wenig, es war zur Zeit Jesu breiter angelegt, als wir uns das normalerweise vorstellen. Diese Inkarnation ist insofern ein ganz jüdischer Gedanke. Philosophisch denkende Griechen hätten dagegen immer gesagt, der große Gott ist viel zu groß, um ausgerechnet in einer abgelegenen Provinz des Römischen Reiches zu erscheinen. Dagegen fügt sich die Vorstellung der Inkarnation in einer nicht gerade besonders prominenten, nicht besonders reichen Zimmermannsfamilie sehr gut in das jüdische Gottesbild, wie es die Schriften des Alten Testamentes uns übermitteln.
Der Berliner Theologe Adolf von Harnack, einer Ihrer Vorgänger, meinte im Hinblick auf die Dogmen, auch die christologischen, sie seien "ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums". Ist das so?
Christoph Markschies:
Obwohl ich Nachfolger auf dem Lehrstuhl des großen Theologen von Harnack bin: Bei dieser Aussage handelt es sich eher um eine unglückliche Idee, weil sie von einem Dualismus von Judentum und Hellenismus ausgeht. Das Judentum war aber zur Zeit Jesu bereits stark mit dem Griechentum in Kontakt gekommen. Die für das junge Christentum zentrale Idee , dass Jesus stellvertretend für die Sünden der Vielen gestorben ist, wurde schon im Judentum für die Deutung des Sterbens der makkabäischen Märtyrer verwendet und berührte sich eng mit griechischen Ideen des Sterbens für das eigene Volk.
Jesus von Nazareth konnte zwar kein Griechisch, oder nur so viel, wie für den täglichen Gebrauch in seinem Handwerk nötig war. Aber eine Figur wie Paulus ist ohne die hellenisierte Kultur nicht denkbar. Das Dogma ist, so würde ich gegen Harnack sagen, der Versuch der christlichen Gemeinde, die unmittelbare Erfahrung mit Jesus von Nazareth in memorierbare Sätze zu bringen für Generationen, die ihn persönlich nicht mehr kannten. Und dazu in unterrichtbare Sätze, in Sätze, die man auswendig lernen konnte, in Sätze, die sich in Rom und in Alexandria auf der Straße sagen ließen. Das Dogma ist kein Werk des fremden, hellenisierten oder hellenistischen Geistes, sondern eine ganz natürliche Konsequenz: Wenn ich von jemandem beeindruckt bin, muss ich eben irgendwann mit dem Stammeln aufhören und muss verständliche Sätze sagen.
Papst Benedikt xvi. ist ein Beispiel dafür, dass man von einer Hellenisierung des Christentums ausgehen und sie positiv werten kann. Hat er Recht?
Christoph Markschies:
Natürlich gab es in der Antike eine Fülle von Begegnungen zwischen christlichem Glauben und griechischer Philosophie. Aber an vielen entscheidenden Punkten gerade keine "Hellenisierung". Man merkt zum Beispiel sehr deutlich, dass die Konzilien nicht griechische Philosophie wiederholen, sondern an entscheidenden Punkten etwas anderes sagen als die Philosophen, etwa bei der Trinität. Das berühmte erste Konzil von Nizäa kommt mit Begriffen der griechischen Philosophie daher und sagt damit etwas für einen wirklichen guten griechischen Philosophen ganz und gar Unerträgliches. Also: Das Evangelium hat sich immer neu inkulturiert und tut es noch heute, und das in immer neuen philosophischen und kulturellen Bezügen. Papst Benedikt überzeichnet, insofern er einer bestimmten Inkulturation Ewigkeits- und Heilswert zumisst.
Seit etwa drei Jahrzehnten gibt es mindestens in der deutschen evangelischen Kirche einen immer stärkeren Trend, hinter die Phase der Hellenisierung zurückzugelangen, das Judesein Jesu zu betonen und mit der anhaltenden Erwählung Israels zu verknüpfen - Jesus so zu verstehen, dass es seine Aufgabe war, die Heiden, die sich taufen ließen, in den Israelbund aufzunehmen. Ist das ein Zurück oder etwas Neues in der Theologie?
Christoph Markschies:
Es war sicher eine hochproblematische Entwicklung, dass die Kirche, die am Anfang aus Judenchristen und Heidenchristen bestand, das judenchristliche Element sehr schnell verloren hat. Das hatte unter anderem zur Folge, dass diejenige Theologie, die in Auseinandersetzung mit griechischen Philosophien entwickelt wurde, zur alleinigen Form von Theologie wurde. Insofern stellt die stärkere Berücksichtigung des Judeseins Jesu seit rund dreißig Jahren ein Kernelement der Anfänge wieder ins Licht und korrigiert die spätere Einseitigkeit, den jüdischen Kontext Jesu auszublenden. Jesus von Nazareth wurde aus der verbreiteten Vorstellung des edlen germanischen oder griechischen Jünglings á la Thorwaldsen befreit und wieder ins Judentum rekontextualisiert: Jesus trug Gebetsfäden am Gewand, er setzte sich mit dem Schabbat auseinander und hielt die Wallfahrtsfeste: Er ging ja vor seiner Kreuzigung nicht zufällig nach Jerusalem, sondern er ging zum Pessachfest. Und wenn man das betont, bringt man etwas zurück, das der Kirche verlorengegangen ist in ihrer Geschichte - und es handelt sich auch um eine notwendige Reaktion auf die schreckliche Tatsache, dass nur wenige innerhalb der Kirche der von Nationalsozialisten forcierten Entjudaisierung Jesu widersprochen haben. Andererseits wurde seit dem Beschluss der rheinischen Landessynode aus dem Jahre 1980 von christlichen Theologen gelegentlich gesagt, es gäbe neben Jesus Christus als Messias der Heiden einen möglicherweise von ihm unterschiedenen Messias für die Juden. Im rheinischen Synodalbeschluss steht das natürlich nicht und vor allem steht das auch nicht bei Paulus. Das ist tatsächlich eine theologische Neuerung und keine gute.
Muss es heutige Juden nicht auch stören, dass Jesus dazu da war, die Christen gewissermaßen zu Adoptivjuden zu machen?
Christoph Markschies:
Die Erhebung eines exegetischen Befundes ist natürlich unabhängig davon durchzuführen, ob das jemanden stört oder nicht. Jesus von Nazareth selber hat sich erkennbar zunächst einmal nur an das Volk Israel gewendet, und nur mit Widerstreben dann auch an Nichtjuden - das Wort von den Hunden, die die Brosamen essen, die vom Tisch fallen (Matthäus 15,27), ist nicht gerade freundlich. Hier könnte man von "Adoptivjuden" sprechen. Aber dabei ist es ja nicht geblieben. Vielmehr zählt es zu den großen Leistungen der allerersten Theologengeneration in der Urgemeinde, dass sie nicht nur Aussagen über die Person Jesu gemacht hat, die einem Juden nur zögerlich über die Lippen gingen, sondern dass sie aus der Verkündigung Jesu weitreichende Folgerungen gezogen haben, die gelegentlich über den historischen Jesus hinausgeführt haben. Und darunter eben diese: "Wir müssen gleichberechtigt zu Juden wie Heiden gehen." Man merkt ja an den Erzählungen der Apostelgeschichte, dass es an dieser Stelle heftige Dispute und allerlei Folgeprobleme gab. Doch die Tatsache, dass man trotz aller solcher Schwierigkeiten die Offenheit des einen einzigen Bundes Gottes für Juden und Heiden verkündigte, ist ganz großartig: Diese allererste Theologengeneration ist für mich im Grunde die bedeutendste und bewegendste aller folgenden Theologengenerationen.
Sie haben vorher selber schon darauf hingewiesen, dass im Laufe der Zeit die Entscheidungen der alten Kirche auch immer wieder umstritten waren, dass da auch Fehlentwicklungen korrigiert wurden. Welche christologischen Entscheidungen der alten Kirche müssen denn auf jeden Fall bewahrt werden?
Christoph Markschies:
Die großen konziliaren Entscheidungen der antiken Christenheit. Natürlich müssen sie immer wieder neu interpretiert werden. Die altkirchlichen Konzilien formulieren im Grunde sehr schlichte Wahrheiten, wie wir sagten, nach dem Modell eines Gartenzaunes. Gerade daher schaffen sie einen ungeheuren Freiheitsraum, gerade mit der paradoxen Äußerung "wahrer Gott und wahrer Mensch". Es ist nicht entscheidend, wie man das nun im einzelnen entwickelt, sondern dass man dieses eine Kriterium richtiger Aussagen über Christus hat, ein Kriterium, das im Übrigen auch ein Nichttheologe verstehen kann. Es hat immer Tendenzen in der Kirchengeschichte gegeben, Jesus nur als Gott zu sehen und das Menschsein zu vergessen. Und dann hat es natürlich auch, insbesondere im letzten Jahrhundert, Zeiten gegeben, da hat man nur das Menschsein Jesu gesehen und das Gottsein vergessen. Dabei lautete der Hinweis der altkirchlichen Konzilien: Vorsicht, verfallt bloß nicht in Einseitigkeiten.
Sie haben nebenbei bestimmte Abweichungen in den Theologien des 19. Jahrhundert erwähnt. Sind auch heute bestimmte Abweichungen im Schwange?
Christoph Markschies:
Ich würde das 19. Jahrhundert nicht unter der Überschrift "Abweichungen" rubrizieren. Zwar hat sich etwa Schleiermacher sehr kritisch zu der altkirchlichen Lehre vom wahren Gott und vom wahren Menschen geäußert. Aber immerhin hat er mit seiner Theologie die Christologie gerettet, in einer Zeit, wo durch die Aufklärung Jesus bloß noch als vorbildlicher Mensch dazustehen drohte. - Wo sehe ich heute Abweichungen vom rechten Wege? Als Vorsitzender der Theologischen Kammer der EKD tue ich mich eher schwer, mich zum Lehramt aufzuschwingen und Abweichungen zu zensieren. Aber ich denke, die Aufgabe der institutionellen Theologie, also von Pfarrerinnen und Pfarrern und der Professorenschaft, ist es heute, zu vermitteln, dass man auch nach dem Maßstab vernünftiger Theologie in Jesus auch den Gott zu sehen hat - gerade weil es heute wesentlich leichter fällt, den Menschen Jesus in den Blick zu nehmen.
Von Harnack gibt es das berühmte Diktum: Es geht darum, nicht an Jesus zu glauben, sondern wie er zu glauben, nämlich zu glauben an die Vaterliebe Gottes. Stimmen Sie dem zu?
Christoph Markschies:
Adolf von Harnack war, wie auch seine Freunde kritisch bemerkt haben, eigentlich ein baltischer Pietist im Gewand eines modernen liberalen Theologen. Von daher muss man bei der Aussage immer die pietistische Grundüberzeugung mithören, man solle nicht irgendwelche dogmatischen Richtigkeiten durch die Gegend tragen, sondern fromm die Hände falten und an den Vater glauben. So besehen hat das Diktum etwas durchaus Richtiges. Wenn man die Aussage aber so versteht, dass man sich die Trinität sparen könne und ohne Christus einfach zum Vater kommt, dann hat man das halbe Neue Testament in den Keller geräumt. Denn im erwähnten Hymnus des Kolosserbriefs lesen wir, dass wir nur erfahren, wie der Vater aussieht, wenn wir auf das gütige Gesicht von Jesus von Nazareth blicken. Und diese Dimension fehlt bei Harnack. Warum auch immer.
Sie haben gesagt: Jesus leidet im Garten Gethsemane, er hat Todesangst, betet zu Gott. Wenn jemand Sie fragen würde, ja warum eigentlich, er ist doch selber Gott. Er weiß doch, wie die Sache ausgeht. Wie würden Sie ihm antworten?
Christoph Markschies:
Dass Gott sich in der Person Jesu von Nazareth ganz aufs Menschsein eingelassen hat. Jesus ist Mensch geworden, er schauspielert nicht nur Mensch. Und weil er nicht nur eine Rolle spielt, wie der Schauspieler weiß, wie lange das Stück noch dauert, und danach in der Theaterkantine sitzt und isst, egal, wie die Inszenierung war - weil er also nicht nur den Menschen auf der Bühne gibt, sondern wahrhaftig Mensch ist, erlebt er als Gott auch alles menschliche Leiden in seiner ganzen Tiefe. Er hat sich darauf vollständig eingelassen, er steht in diesem Augenblick nicht als Beobachter neben sich. Darin liegt die Bedeutung von "wahrer Mensch und wahrer Gott". Beides steht in Grenzsituationen ganz hart nebeneinander.
Das Gespräch führten Helmut Kremers und Jürgen Wandel am 14. April in Berlin.
Christoph Markschies