Christliches Menschenbild als Götze
Am 15. Februar hat der Rat der EKD eine Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik (PID) abgegeben, in der er für die Beibehaltung des bisherigen Verbots eintritt. Das zentrale ethische Argument des Rates ist, dass mit der Zulassung der PID eine "Selektion zwischen lebenswertem und nichtlebenswertem Leben" zwingend gegeben sei und dass diese mit dem "christlichen Menschenbild" unvereinbar sei.
Der Stellungnahme ging eine Auseinandersetzung innerhalb des Rates voraus. Sein Vorsitzender Nikolaus Schneider hatte noch im Herbst angeregt, über eine Zulassung der PID bei schwersten Erbkrankheiten nachzudenken. Doch dagegen regte sich Widerstand, vor allem bei der Präses der EKD-Synode, Katrin Göring-Eckardt (siehe auch Seite 44), Bayerns Landesbischof Johannes Friedrich und evangelikalen Gruppen.
Die Stellungnahme des Rates stimmt teilweise wörtlich mit einem Artikel Göring-Eckardts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Januar überein. Offensichtlich hat sie sich im Rat durchgesetzt.
Im Ton gibt sich die Stellungnahme des Rates seelsorgerlich, indem sie immer wieder versichert, wie sehr man die Konflikte und Belastungen von Eltern mit behinderten oder kranken Kindern versteht. Wie ich im Folgenden verdeutlichen werde, zielt sie jedoch in der Sache an der Situation von potenziellen Eltern, für die die PID eine mögliche Option wäre, völlig vorbei. Und zwar tut sie dies gerade aufgrund ihres zentralen ethischen Arguments, nämlich der Unterstellung, dass im Falle der Zulassung der PID deren Inanspruchnahme "zwingend" auf einem Urteil über Lebenswert oder Lebensunwert von menschlichem Leben beruhen würde. Und auf dem Hintergrund der Rolle, die die Eugenik in Deutschlands Vergangenheit spielte, gibt es kaum einen schwerwiegenderen moralischen Vorwurf, der gegen die PID erhoben werden kann. Denn Eugenik beruht in der Tat auf Lebenswert-Urteilen. Aber gilt das auch für die Entscheidung potenzieller Eltern, die angesichts einer schweren Erbkrankheit die PID in Anspruch nehmen wollen, und zwar nicht, weil sie für sich selbst ein Recht auf ein gesundes Kind reklamieren, wie Gegner der PID ihnen bisweilen böswillig unterstellen, sondern weil sie ihrem Kind das Leid ersparen wollen, das die Krankheit bedeutet?
Liebenswertes Kind
Ich will den Unterschied, um den es hier geht, an einer persönlichen Erfahrung verdeutlichen. Ich hatte ein Down-Syndrom-Kind. Es wurde geboren in der Zeit, als ich Gemeindepfarrer im Württembergischen war. Das Kind kam mit einem schweren Herzfehler zur Welt, weshalb es die ersten Wochen auf der Intensivstation einer Klinik lag. Wenn ich in dieser Zeit Besuche bei Gemeindegliedern machte, wurde mir öfter gesagt: "Gell, Herr Pfarrer, es ist doch besser, wenn das Kind sterben darf."
Man meinte es gut und wollte auf diese Weise seine Anteilnahme ausdrücken. Doch, es war ein Urteil über den Lebenswert des Lebens eines "solchen" Kindes, eben eines Down-Syndrom-Kindes. Man hatte hier eine Kategorie von Menschen vor Augen. Und man wusste es nicht besser.
Dann kam das Kind nach Hause. Es entwickelte sich, wenn auch zuerst ständig von Infektionen geplagt. Bald war es in der Gemeinde bekannt und präsent, und viele schlossen es in ihr Herz. Denn es war ein wunderbares, fröhliches, in seinen sozialen Fähigkeiten ungemein sensibles und ein hochmusikalisches Kind. Niemand sagte mehr, dass es besser gewesen wäre, wenn es gestorben wäre. Denn nun hatte man keine abstrakte Kategorie von Menschen mehr vor Augen, sondern dieses liebenswerte Kind. Es hiess übrigens Iris, was im Griechischen "Regenbogen" bedeutet. Es war nach dem Regenbogen in der Noahgeschichte benannt.
Iris starb einen Tag vor ihrem vierten Geburtstag, nach einer misslungenen Herzoperation. Drei Tage war sie noch auf der Intensivstation am Leben gehalten worden, obwohl keine weitere Operation geplant und klar war, dass ihr Herz aus eigener Kraft nicht mehr schlagen konnte. Ich bat den behandelnden jungen Arzt, der mir vorrechnete, was noch alles zur Lebenserhaltung getan werden könne, die Geräte abzustellen, damit das Kind sterben könne. Und er hat es so gemacht.
Wenn mir jemand sagen würde, ich hätte dies getan aufgrund eines Urteils über den Lebenswert des Lebens von Kindern, die sich in einem "solchen" Zustand befinden, würde mich das zutiefst verletzen. Denn ich tat es um dieses Kindes willen, das ich sehr geliebt habe, und ich tat es in Anbetracht dessen, was es durchmachte.
Seither macht es mich wütend, wenn ich in der ethischen Literatur lese, dass zum Beispiel Eltern, die auf einer neonatologischen Station darum bitten, dass man ihr schwerstgeschädigtes Kind sterben lässt, statt es mit allen medizinischen Mitteln am Leben zu erhalten, dies aufgrund eines Urteils über den Lebenswert des Lebens "solcher" Kinder täten. Denn wer so etwas sagt, hat sich nie in die Situation solcher Eltern hineingedacht.
Lebenswert oder nichtlebenswert
Die Bewertung von Leben als "lebenswert" oder "nichtlebenswert" beruht auf einer desengagierten, objektivierenden Betrachtungsweise, und sie bezieht sich auf "Leben einer bestimmten Art". Das war die Perspektive der Eugenik. Aber das ist nicht die Perspektive solcher Eltern, die in dieser Situation engagiert sind bis zur Verzweiflung - und zwar für ihr Kind.
Damit komme ich zur PID, und ich will auch hier von einem Beispiel ausgehen. Mir ist in der Schweiz der Fall eines Patienten bekannt, der an einer "Chorea Huntington" leidet. Seine Mutter wuchs als Vollwaise auf. Als die Krankheit bei der Großmutter zum Ausbruch gekommen war, erschoss der Großvater zuerst sie und dann sich selbst.
Der Patient erlebte den Verlauf der Krankheit bei seiner Mutter. Die Ehe der Eltern ging aufgrund der Krankheit der Mutter auseinander. Als er achtzehn Jahre alt war, liess er untersuchen, ob auch er die Krankheit geerbt hat. Das Ergebnis war positiv, woraufhin der Patient Kontakt mit der Sterbehilfeorganisation "Exit" aufnahm, um sich die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung offen zu halten, solange er noch urteilsfähig ist. Inzwischen ist er 22 Jahre alt, und die Symptome der Krankheit machen sich auch bei ihm bemerkbar.
Wenn man sich in Menschen mit einem solchen Familienschicksal hinein versetzt und darüber nachdenkt, warum für sie die PID eine Hoffnung sein kann: Tut man ihnen nicht zutiefst Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, dass sie ein Lebenswerturteil über ein "solches" Leben treffen? Was sie vor Augen haben, ist das Schicksal ihrer Kinder, die nicht erleiden sollen, was sie und ihre Vorfahren erlitten haben. Es ist ein falsches ethisches Denken, wenn man die Intention, dem eigenen Kind ein leidvolles Leben zu ersparen, mit einem Urteil über den Lebenswert eines "solchen" Lebens gleichsetzt.
Potenzielle Eltern haben bei einer derartigen Entscheidung nicht "Leben einer bestimmten Art" oder eine abstrakte Kategorie wie die Kategorie der Chorea-Huntington-Kranken vor Augen, sondern das Leben ihres zukünftigen Kindes, für das sie sich in der Verantwortung sehen. Legt man diese engagierte elterliche Perspektive zugrunde, dann werden bei der PID Embryonen, die Träger einer schweren Erbkrankheit sind, nicht als "lebensunwertes Leben" aussortiert, sondern als etwas, mit dem das Leiden weitergegeben würde, das die Eltern selbst erfahren haben: Und das wollen sie ihrem Kind ersparen.
Mich macht die Leichtfertigkeit betroffen, mit der in der Debatte über die PID solchen Eltern direkt oder indirekt Lebenswerturteile unterstellt werden, was auch die katholische Deutsche Bischofskonferenz in ihrer Stellungnahme zur PID vom 17. März getan hat.
Genauso leichtfertig und unbedacht ist die Unterstellung, mit der Einführung der PID würden Menschen mit bestimmten Behinderungen und Krankheiten diskriminiert. Mir ist keine einzige Selbsthilfegruppe von Menschen mit einer Chorea Huntington bekannt, die die PID mit dem Argument kritisiert, dass damit Menschen mit dieser Krankheit diskriminiert würden. Zu evident ist das Leiden dieser Menschen und ihrer Familien, als dass jemand auf diese Idee käme.
Unberechtigte Ängste
Man hört in der Debatte über die PID bisweilen das Argument, dass es nach deren Einführung bald keine Menschen mit Down-Syndrom mehr geben würde. Noch nie habe ich demgegenüber das Argument gehört, dass es dann bald keine Menschen mit Chorea Huntington mehr gäbe. So hat ja auch niemand damals, als in unseren Breiten die Cholera ausgerottet wurde, das Argument vorgebracht, dass damit ein Unwerturteil über das Leben von Cholerakranken getroffen würde und diese diskriminiert würden. Und jeder versteht hier, warum. Was im Übrigen die Menschen mit Down-Syndrom betrifft, so hat bereits die Pränataldiagnostik dazu geführt, dass immer weniger Menschen mit dieser Behinderung geboren werden. Nur dass das mit einem Schwangerschaftsabbruch verhindert wird.
Weil bekannt war, dass ich ein Kind mit Down-Syndrom hatte, bekam ich es als Pfarrer häufiger mit Menschen zu tun, die Angst hatten, ein behindertes Kind zu bekommen. Und manche haben es ehrlich ausgesprochen, dass sie sich nicht vorstellen können, ein Kind mit einem Down-Syndrom zu haben. Ich habe das nie als diskriminierend im Blick auf mein eigenes Kind empfunden und konnte ihnen das nicht übelnehmen. Habe ich mir das doch selbst auch nicht vorstellen können, bevor Iris geboren wurde. Als mich unmittelbar nach ihrer Geburt der behandelnde Arzt in einen Nebenraum bat, wo meine Frau uns nicht hören konnte, und mir den Verdacht auf ein Down-Syndrom mitteilte, war das für mich ein Schock. Das war in meinem Lebenskonzept nicht vorgesehen.
Ich habe es auch nie als diskriminierend im Blick auf mein eigenes Kind empfunden, dass andere sich gegen die Geburt eines Down-Syndrom-Kindes entscheiden. Denn sie haben sich damit nicht gegen mein Kind entschieden, das ja nicht einfach identisch mit einem Down-Syndrom war. Ich habe in meiner seelsorgerlichen Tätigkeit einen solchen Konflikt werdender Eltern erlebt, und ich weiß, dass ihre Entscheidung, das Kind nicht zu bekommen, nicht auf einem platten Lebenswerturteil beruhte. Sie hatten eben nicht die innere Freiheit dazu, und sie haben das als Schuld erlebt.
In Deutschland herrscht heute eine moral correctness im Blick auf Menschen mit Behinderungen, die Leute unter Druck setzt und es ihnen verbietet, ehrlich mit ihren eigenen Gefühlen sein zu dürfen. Doch damit tut man niemandem einen Gefallen, am wenigsten den Menschen mit Behinderung. Man kann Menschen, die in ihrem Leben bestimmte Erfahrungen nicht gemacht haben, nicht abverlangen, dass sie so fühlen und denken, als hätten sie diese gemacht. Eine Sensibilisierung im Umgang mit Krankheit und Behinderung ist aber nur möglich, wenn man die Moral dabei außen vor lässt und die Gefühle der Menschen ernst nimmt.
Moral correctness?
Es macht bitter, dass man diese moral correctness gerade im Raum der evangelischen Kirche antrifft. Man meint, ein seelsorgerliches Anliegen zu vertreten, indem man gegen die PID zu Felde zieht mit dem Argument, sie beruhe "zwingend" auf Lebenswerturteilen und führe deshalb zur Diskriminierung von Behinderten und Kranken. In Wahrheit ist dies Gedankenlosigkeit, oder schlimmer noch: die Weigerung, sich wirklich auf die Situation der betroffenen Menschen einzulassen. Geht es doch in dem moralisch aufgeheizten Klima eigentlich gar nicht um diese Menschen, sondern darum, eine moralische Position in Gestalt des absoluten Schutzes menschlichen Lebens in jeder Form durchzudrücken. So kommt es zu einem solchen Totschlagargument auf dem Hintergrund der eugenischen Vergangenheit, das den betroffenen Menschen zutiefst Unrecht tut.
In seiner Stellungnahme erklärt der Rat der EKD, "dass der Mensch nicht sein eigener Schöpfer ist, sondern dass sich alles Leben Gott verdankt". Nach dieser Sicht ist es Gottes Wille, wenn ein Mensch mit Chorea Huntington geboren wird. Und der Mensch widersetzt sich diesem Willen, wenn er dies durch PID verhindert, und er macht sich damit selbst zum Schöpfer des Menschen.
Haben diejenigen, die so denken, sich jemals um eine Klärung des theologischen Verständnisses von Krankheit bemüht? Warum soll dann nicht auch ein Hirntumor Gottes Wille sein und dessen medizinische Bekämpfung ein eigenmächtiges Sichwidersetzen des Menschen? Ist Krankheit Gottes Wille? Oder ist sie, wie der Theologe Karl Barth in seiner Schöpfungslehre - unter Berufung auf die Dämonenaustreibungen Jesu - ausführt, eine Manifestation des Widergöttlichen, eine "Kundgebung des Teufels", der es "Widerstand bis zum Letzten" entgegenzusetzen gilt?
Was für ein Verständnis Gottes vermittelt man den Menschen, wenn man ihnen verkündet, es sei Gottes Wille, wenn Familien über Generationen hinweg von einer Chorea Huntington heimgesucht werden, und dass die Betroffenen sich daher nicht nur selbst ergeben in ihr Schicksal fügen, sondern dieses Schicksal auch ihren leiblichen Kindern zumuten müssen, wenn sie sich solche wünschen? Wo aus der Bibel nimmt man das her? Und wie bringt man das mit der Menschenfreundlichkeit Gottes zusammen? Worum geht es denen, die so etwas behaupten? Um Gott? Um die betroffenen Menschen?
Der Stellungnahme des Rates der EKD geht es jedenfalls weder um das eine noch um das andere, und zwar ausweislich ihrer eigenen Aussagen. Ihr geht es stattdessen um "das christliche Menschenbild", das seit Jahren zur höchsten ethischen Instanz in der EKD geworden ist. Man trägt es wie einen Götzen vor sich her, der nun einmal Opfer von den Menschen verlangt bis hin zum schrecklichen Schicksal des eigenen Kindes im Falle einer schweren Erbkrankheit. Dieses Menschenbild, so liest man, dürfe durch die PID nicht "relativiert" werden. Ist christlicher und noch dazu evangelischer Glaube Glaube an ein Menschenbild, dem man unbedingten Gehorsam schuldet? Was für eine Theologie ist das?
Johannes Fischer
Johannes Fischer
Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.