Die vollständig aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils", meinten einst Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung. Nun ja, die Welt ist danach, könnte man sagen - aber wieso "die vollständig aufgeklärte"?
Gemeint war: Aufklärung kann gar nicht anders, als jeden Wert, jede Annahme von Sinn zu dekonstruieren. Ihr Gegenpart heißt Mythos. Der hatte die Menschen in Dunkelheit gefangen gehalten, verdienstvoll war es, Licht in seine Höhlen zu bringen. Aber die vollständig aufgeklärte Welt falle in den Mythos zurück, meinten Horkheimer-Adorno; um im Bilde zu bleiben: in eine Sehbehinderung nicht durch Dämmerlicht, sondern durch Blendung. Doch die Aufklärung scheint längst weiter zu sein. Ihre Vertreter haben Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht adaptiert und in ihrem Sinne umgeformt: Nicht um mehr Lux für die Erkenntnis geht es ihr, sondern um die Deutungshoheit über richtiges Denken und Handeln - der gute Wille ist also, indem er von den Akteuren der Aufklärung definiert wird, naturgemäß auch einer zur Macht.
Täglich werden wir medial von neuen Konflikten und Problemen überhäuft. Mal nehmen wir sie zur Kenntnis, mal bewegen oder erschüttern sie uns. In scheinbar ruhigen Tagen geht es "nur" um ein Bahnhofsprojekt. Dann wieder häuft sich das Ernste oder gar Bedrohliche: In jüngster Zeit die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten (nicht alle sind beendet, ihr Ausgang bleibt ungewiss) und zugleich die Katastrophe in Japan, die uns die Macht von "Mutter" Natur und die Folgen menschlicher Hybris vor Augen führte.
Und dann gab es noch Sieg zu vermelden: die Tötung von Usama bin Laden, dem Mann, den man als Kopf hinter dem Anschlag auf das World Trade Center ausgemacht hatte. Die einen freuen sich, die anderen fürchten Rache, andere verweisen mahnend auf das Völkerrecht. Mit der Aufzählung der Probleme in der Welt ließe sich ewig fortfahren: In Mexiko etwa sind in den vergangenen Jahren mindestens 35 000 Menschen im Drogenkrieg umgekommen, in Nordkorea existiert wahrscheinlich eine Art Gulag, und in weiten Teilen der Welt herrscht Hunger, Ungerechtigkeit, Unterdrückung. Überall sind wir zur Stellungnahme aufgerufen und wissen doch, dass unsere Meinungen - von den Medien beeinflusst, unvermeidlich saisonal - auf Sand gebaut sind.
Erstrahlt also die Welt im Unheil? Dagegen steht der aufklärerische Mythos: In Zukunft wird alles besser. Dank der Unermüdlichkeit der Aufgeklärten wird diese Welt eines Tages im milden Licht der Humanität leuchten. Diesen Glauben kann man als kryptoreligiös bezeichnen, aber vielleicht ist er besser als gar kein Glaube. Christen gehen davon aus, dass die Welt in Gottes Hand liegt und dass ER es gut mit ihr und den Menschen meint.
Auch ihr Glaube musste sich erst durch die Aufklärung zu der Erkenntnis läutern, dass er uns die Freiheit gibt, aus ihm heraus für eine bessere Welt zu wirken und dabei nicht dem Aberglauben zu verfallen, wir verfügten über die getreue Kopie eines himmlischen Plans. Aus der Sicht der alten Frankfurter Auguren ist auch das freilich Mythos - dem wir, wenn wir recht verstehen, ohnehin nicht entkommen. Für Christen jedenfalls ist dieser Glaube stärker als der an eine Zukunft, die den Sieg der Wohlgesinnten und ihrer Werte bringen soll.
Helmut Kremers
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .