Im Herzen Europäer

Was mir als EKD-Mann in Brüssel wichtig geworden ist
Das ist Europa: Proteste in Athen, jubelnde Kinder in Frankfurt/Oder beim Beitritt Polens und deutsche Urlauber am Mittelmeer. Fotos: dpa/Orestis Panagiotou, dpa/Patrick Pleul, Erwin Wodicka
Das ist Europa: Proteste in Athen, jubelnde Kinder in Frankfurt/Oder beim Beitritt Polens und deutsche Urlauber am Mittelmeer. Fotos: dpa/Orestis Panagiotou, dpa/Patrick Pleul, Erwin Wodicka
Vier Jahre lang war der Theologe und Jurist Patrick Roger Schnabel stellvertretender Leiter des EKD-Büros in Brüssel. In dieser Zeit hat sich sein Blick auf die Europäische Union genauso geändert wie der auf die deutsche Europapolitik und die Einstellung der Deutschen zur EU.

Vor vier Jahren kam ich nach Brüssel, um als Mitarbeiter der EKD im Dialog mit den EU-Institutionen kirchliche Anliegen in Politik und Gesetzgebung einzubringen. Die erste Erfahrung, die ich in Brüssel machte, war, dass man hier wenig über Kirche und Religion im Allgemeinen und die EKD und den Protestantismus im Besonderen weiß. Die zweite war aber, dass man umgekehrt auch in Deutschland wenig darüber weiß, wie die Europäische Union funktioniert. Oft ist die Rede vom Brüsseler Elfenbeinturm, in dem sich gut bezahlte Bürokraten immer weiter von der Lebenswirklichkeit der Leute entfernen. Wer das annimmt, muss dann aber auch vom nationalen Elfenbeinturm sprechen, in dem die Realitäten der europäischen Integration mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten kaum wahrgenommen werden. Für mich stimmt beides nicht. Aber ich beobachte, dass wir in und über Europa immer noch zu wenig kommunizieren.

Europa im Kopf

Europa hat im Kopf begonnen. Die Europäischen Gemeinschaften waren nach dem Zweiten Weltkrieg die Antwort auf die Frage, wie eine Remilitarisierung und Renationalisierung verhindert werden kann. Politische Eliten nahmen die Umsetzung in die Hand. Aber über die Jahrzehnte ist Europa mehr geworden, eine Realität, die unseren Alltag prägt - nicht nur das visafreie Reisen, nicht nur, wenn wir ins Portemonnaie greifen, um mit Euros zu bezahlen, nicht nur, weil fast die Hälfte aller neuen Gesetze auf Vorgaben der EU beruht. Und je jünger wir sind, desto europäischer sind wir aufgewachsen. Über Schüleraustausch und Auslandspraktika, Erasmus-Semester und soziale Netzwerke leben wir längst europäisch.

Und dennoch: Wenn es um die politische Einigung geht, scheint Europa eine Frage des Kopfes geblieben zu sein. So werden für Europa gute Argumente ins Feld geführt, aber wenig Leidenschaft. Was wir über die EU sagen, nimmt unsere täglichen Erfahrungen als Europäer kaum auf. Vielmehr scheint die politische Rhetorik in einem nationalen Denken festzustecken, das diese Erfahrungen noch gar nicht vollständig verarbeitet hat. Selbst als wir zwanzig Jahre deutsche Einheit feierten, erinnerten wir uns nur vage daran, wie wir 1989 am Fernseher voll Staunen und Spannung die Bilder aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei verfolgt hatten, bevor uns die Bilder aus Berlin in einen emotionalen Taumel versetzten.

Wenig beherzte Europäer

In den vier Jahren, die ich im Herzen Europas gelebt und gearbeitet habe, bin ich im Herzen Europäer geworden. Wenn ich die aktuellen Debatten über Euro- und Europakrise verfolge, sehe ich in Politik und Medien aber nur wenige beherzte Europäer. Nur sporadisch flammt national und europäisch die Debatte über Europa auf - und ausschließlich bei Misserfolgen. Ansonsten bleibt Europa ein Projekt der politischen Eliten, die es nicht offen diskutieren - und so auch niemanden begeistern können.

Zum Unwort des vergangenen Jahres wurde "alternativlos" gewählt. Zuerst war es in der Debatte um die Griechenlandhilfe aufgetaucht, dann wurde das Wort von erklärungsmüden Politikern schnell für die europäische Einigung insgesamt bemüht. Damit, meinte die Unwort-Jury, förderten sie die Politikverdrossenheit. Hier also: die Europaverdrossenheit. Denn Bürger wollen mitdiskutieren, sonst stehen sie den von oben verordneten Entscheidungen schon aus formalen Gründen kritisch gegenüber. Und die Kritiker haben recht: Weniges ist alternativlos, am wenigsten die Details der Politikgestaltung. Auch dazu, wie wir die EU gestalten, gibt es immer Alternativen. Und wird das Wie nicht diskutiert, steht schnell das Ob in Frage.

Doch damit geraten wir in eine Sackgasse. Die Menschen dieses Kontinents gehören zu einer Schicksalsgemeinschaft, die nicht erst 1957 mit den Römischen Verträgen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und anderes begonnen hat. Vielmehr waren in Europa die Grenzen der Völker und Sprachen immer fließend und die Beziehungen - in Freundschaft wie Feindschaft - waren es auch. Große Europäer gab es immer schon, nicht nur Herrscher und Feldherren, sondern auch Dichter und Denker. Als evangelische Kirche befinden wir uns mitten in der Reformationsdekade und erinnern an ein Ereignis, das Europa umgewälzt hat. Und wir gedenken pragmatischer Visionäre wie des Wittenbergers Philipp Melanchthon und des Genfers Johannes Calvin, deren Ideen nationale Identitäten bis heute prägen. Die Geschichte zeigt: Wir können Europa gegeneinander machen oder miteinander. Nur Europa nicht machen, können wir nicht.

Diesen Eindruck vermitteln oft Boulevardmedien - aber leider auch ernsthafte politische Kommentatoren. Wenn es eng wird und Schwierigkeiten auftauchen, will man die Integration der EU verlangsamen, anhalten, zurückfahren. Deutschland, so heißt es dann, könne nicht der Wirtschaftsmotor der 27 EU-Staaten sein, wenn dort Misswirtschaft und Korruption vorherrschen und nicht die deutsche Arbeitsmoral. Und hinzu kommt die angeblich unbändige Regelungswut, die uns nun auch noch die gute alte Glühbirne wegnimmt.

Destruktive Kritik

Aus der Brüsseler Perspektive sind mir solche Stimmen fremd. Nicht, weil sie Probleme benennen. Im Gegenteil! Der europapolitische Diskurs braucht kritische Stimmen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Und jeder, der sich beteiligt, macht die EU potenziell besser. Aber die Kritik an der Union ist oft destruktiv, zu selten ist die Zielrichtung der Fragesteller, was anders, was besser gemacht werden kann - und wo die eigentlichen Ursachen von Problemen liegen. Dass Deutschland den Stabilitätspakt aufgeweicht und der EU die Kompetenz verweigert hat, nationale Statistiken zu überprüfen, und dass alle wegschauten, als Griechenland ziemlich unglaubwürdige Zahlen vorlegte: All das ist ein Teil der europäischen Wahrheit. Ja, EU-Politik wird in Brüssel gemacht, aber keine Entscheidung wird ohne die Mitgliedstaaten getroffen. Ja, von dort kommen viele Anstöße für europäische Regelungen. Auch die Idee für das Glühbirnenverbot brachte ein deutscher Umweltminister nach Brüssel mit.

Ich wünsche mir aber nicht nur eine ehrlichere Diskussion solcher Einzelfragen, sondern vor allem eines: eine erkennbarere innere Zustimmung zum Zusammenwachsen Europas in der EU. Nach jahrhundertelangen blutigen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft kommen die Staaten und Völker Europas erstmals zusammen, um der Herrschaft des Stärkeren die des Rechts entgegen zu setzen.

Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen fällt es nicht immer leicht, gleichberechtigt mit Belgien, Luxemburg oder Malta zu verhandeln. Doch der Verlust an einzelstaatlicher Macht wird durch eine viel einflussreichere gemeinsame Stimme auf dem globalen Parkett mehr als kompensiert - und durch eine Friedensordnung, die Aussöhnung, Völkerverständigung und gemeinsamen Wohlstand ermöglicht. Balkanstaaten, die sich noch vor kurzem bekriegten, streben nun getrennt in die EU, um auf einer anderen Grundlage neue Gemeinsamkeiten aufzubauen. Und osteuropäische Staaten haben kurzfristig tiefgreifende Veränderungen - und Einschnitte - hingenommen, weil sie sich langfristig Freiheit, Sicherheit und Wachstum versprechen. Der Beitritt hat sie viel gekostet, aber bei uns wurden nur unsere Kosten diskutiert.

Großer Freiheitsgewinn

Auch für den Einzelnen bedeutet die EU einen enormen Freiheitsgewinn. Ich selbst habe meinen ersten Universitätsabschluss in Großbritannien gemacht und davon profitiert, dass ich als EU-Bürger nicht die hohen Studiengebühren für Ausländer zahlen musste. Und als Unionsbürger lebe und arbeite ich auch ohne jede Komplikation in Belgien. Im Zuge meiner Arbeit reise ich quer durch Europa und begegne selbst dort noch kaum Grenzkontrollen, wo zu meiner Schulzeit noch Stacheldraht und Selbstschussanlagen die Reisefreiheit beschänkten. Oft genug erkenne ich nicht einmal mehr, wo einst der Eiserne Vorhang verlief. Mein Freundeskreis umfasst mehr als zehn Nationalitäten. Und das alles ist für mich alternativlos, weil jede Alternative eine Verschlechterung darstellen würde.

Wenn die Kritik an der EU diese selbst in Frage stellt, hört sie deshalb für mich auf, konstruktive Kritik - für ein besseres, menschenfreundlicheres Europa - zu sein. Dann ist es Zeit, sich die Errungenschaften dieses Projekts und die wahren Werte der europäischen Idee vor Augen zu führen und sie gegen kurzfristige Kosten abzuwägen. Deswegen habe ich gern einen Satz gehört, den der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider vor einiger Zeit bei einem Vortrag sagte: "Wir schulden Europa mehr als nur schweigende Zustimmung, wir schulden ihm eine beredte Loyalität!" Wenn Vorurteile laut werden, muss man öffentlich von den Vorteilen sprechen. Und die Bereitschaft zur Mitgestaltung erkennen lassen.

Loyalität nötig

Im Brüsseler EKD-Büro erfahre ich es täglich: Brüssel mag weit weg sein, doch Europa ist nah. Die Kirchen haben wie die Bürgerinnen und Bürger vielfältige Möglichkeiten, sich einzumischen, mitzugestalten. Zu fast jedem Rechtsakt, aber auch zu wichtigen politischen Weichenstellungen führt die EU im Internet offene Konsultationen durch. Und die deutschen Mitglieder des EU-Parlamentes pendeln zwischen Brüssel, Straßburg, Berlin und ihrem Wahlkreis, um die Belange der Wählerinnen und Wähler zu vertreten. Der Petitionsausschuss des Parlaments und der Bürgerbeauftragte bearbeiten - erfolgreich - viele Fälle schlechter Verwaltungspraxis und undurchdachter Regelungen. Im Großen und Ganzen funktioniert das nicht besser und nicht schlechter als in Bund und Ländern. Doch niemand fühlt sich weniger deutsch, wenn bei uns Steuergelder verschwendet werden oder Politiker Partei- und Klientelpolitik vor das Gemeinwohl stellen. Warum also sollte ich mich weniger europäisch fühlen, wenn das einmal in Brüssel passiert?

Stattdessen kann ich mich einmischen und die Instrumente benutzen, die mir zur Verfügung stehen. Als Einzelner, noch besser aber organisiert mit anderen, damit meine Anliegen mehr Gewicht bekommen. In Brüssel gibt es viele gute Interessenvertretungen. So pflegt die EKD seit zwanzig Jahren den Gedankenaustausch mit der EU - der seit dem Lissabonvertrag sogar als "offener, regelmäßiger und transparenter Dialog" mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 17 Abs. 3) rechtlich abgesichert ist. Asylrecht, Friedenssicherung, Bildungschancen, Sozialdienstleistungen, Religionsfreiheit und Bioethik: Die Liste der Themen ist lang, und die Erfolge lassen sich sehen. Die EU ist eben keine weltfremde Bürokratie, sondern ein lebendiges, politisches Gemeinwesen, das Mitgestaltung ermöglicht.

Europa braucht unsere Loyalität. Und diese hat zwei Seiten: "Wir in Brüssel" fühlen uns nicht nur als Anwälte der Kirchen bei der EU, sondern auch als Anwälte der EU daheim. Persönlich bestärkt mich dabei, dass Europa trotz Euroskepsis und Eurokrise in der Kirche viele Fürsprecher hat. So betonte Berlins Bischof Markus Dröge, als er im vergangenen Jahr Brüssel besuchte, "aktiver Bürger für ein lebendiges Europa zu sein" sei "Teil unseres kirchlichen Programms". Das praktizieren wir hier und das hoffe ich mitzunehmen, wenn meine Brüsseler Zeit zu Ende geht.

Patrick Roger Schnabel

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Patrick Roger Schnabel

Patrick Roger Schnabel ist Beauftragter für den Kirchlichen Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Geschäftsführer des Beirats der evangelischen Kuba-Arbeit im Raum der EKD.


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