Die alten Helden haben ausgedient

Eigene Wurzeln: Zur demokratischen Traditionspflege in der Bundeswehr
Traditionspflege: Soldaten im Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin. (Foto: dpa/ Wolfgang Kumm)
Traditionspflege: Soldaten im Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin. (Foto: dpa/ Wolfgang Kumm)
Lange tat sich die Bundeswehr schwer mit der Heraus­bildung einer eigenen Tradition, zu lange klammerte sie sich an Vorbilder aus Wehrmachtszeiten. Inzwischen aber gedeiht das zarte Pflänzchen eigener Bundeswehrtraditon.

"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", so lautet der Titel eines Romans von Marcel Proust. "Auf der Suche nach den verlorenen Helden" könnte das Traditionskapitel einer Bundeswehrgeschichte heißen. Seit einem halben Jahrhundert ringt die deutsche Armee um die rechte Auswahl historischer Vorbilder, seit 25 Jahren sucht ein Traditions-Erlass, den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Orientierung und Handlungssicherheit zu bieten ("Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr"). In diesem Erlass wird "Tradition" definiert als eine "Überlieferung von Werten und Normen", die "sich in einem Prozess wertorientierter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bildet".

Überlieferungswürde Inhalte

Tradition wird als Ergebnis eines Vorgangs gesehen, in dem sich die gegenwärtige Generation überlieferungswürdige Inhalte aus der Geschichte er­schließt, die gültigen Wertvorstellungen und verbindlichen Verhaltensgrundsätzen entsprechen. Gefordert ist also keine bloße Übernahme im Sinne einer unreflektierten Bestandswahrung, sondern eine kritische, ethisch gebundene und gegenwartbezogene Auswahl historischer Personen, Taten oder Ereignisse.

Militärische Traditionsbildung und -Pflege haben innerhalb der von der demokratischen Rechtsordnung gezogenen Grenzen zu erfolgen. Traditionspflege dient nicht wertfrei dem rein militärischen Können. Sie ist an das werteorientierte Leitbild des Staatsbürgers in Uniform gebunden.

Das offizielle Traditionsverständnis der deutschen Streitkräfte kennt drei Leitlinien, die die ethischen Grundlagen soldatischen Handelns verdeutlichen sollen. Es handelt sich hierbei um ein Angebot der Bundeswehrführung, das nicht ausschließlich gedacht ist. In ihrer wertegebundenen Traditionspflege orientiert sich die Bundeswehr an Personen und Inhalten der preußischen (Militär-)Reformen, am militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und an den eigenen Leistungen aus ihrer mehr als 50jährigen Geschichte.

Die Idee von den eigenen Traditionen war der Bundeswehr schon in die Wiege gelegt. Die "Gnade des Nullpunktes", eine oft missverstandene Formel von Wolf Graf von Baudissin, sollte der jungen Armee inhaltliche Perspektiven eröffnen, die auf eine demokratische Gegenwart ausgerichtet waren. Vertreter der Aufbaugeneration hofften, dass sich in den Verbänden neue, unbelastete Militärtraditionen bilden würden. "Eigene Traditionen wachsen lassen" forderte der erste Generalinspekteur Adolf Heusinger.

"Gnade des Nullpunktes"

Die bisherige Traditionslinie war durch den deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg unterbrochen, dennoch suchten viele kriegsgediente Bundeswehrangehörige, an die Wehrmachtsvergangenheit anzuknüpfen. Sie trugen so ein apolitisches Soldatentum in die Liegenschaften hinein, das auf die Ebene der technischen Effizienz bar jeder ethisch-moralischen Bindung reduziert war. Gegen diese "museale Tradition", so das "Handbuch Innere Führung", 1957, sollte der helle Schild der Eigentradition hochgehalten werden.

Hatte der erste Traditionserlass der Bundeswehr von 1965 die Option einer Eigentradition noch mit einem Halbsatz bedacht, sprach der damalige Inspekteur des Heeres Ulrich de Maizière schon von "traditionswürdigen, eigenen Leistungen" und erinnerte an den ersten innerdeutschen Hilfseinsatz der Bundeswehr, an die Hamburger Sturmflut von 1962.

Auf Unverständnis stieß unter konventionell denkenden Soldaten die berühmte Forderung von acht Offizieren, die nicht (mehr) in Erinnerungen an Ruhmestaten vergangener Armeen schwelgen mochten, sondern sich zu ihrer eigenen Armee in der Demokratie bekannten. In ihrer Schrift "Der Leutnant 1970" heißt es: "Ich will ein Offizier der Bundeswehr sein, der eine Tradition ablehnt, die lediglich aus epigonaler Reproduktion besteht und auf Neuschöpfung verzichtet." Eine ausschließliche Beschränkung auf eine bundeswehrspezifische Tradition hat es aber zu keiner Zeit gegeben und sie wird bis heute überwiegend abgelehnt.

In deutscher Militärgeschichte einzigartig

Die Eigentradition gewann im Laufe der 1960er Jahre durch zahlreiche Hilfsaktionen der Bundeswehr im In- und Ausland an Stabilität. Im 15. Jahr ihres Bestehens wurde bereits stolz vermerkt, dass die Bundeswehr mit ihrer Katastrophenhilfe "eine mittlerweile schon alte Tradition der Hilfsbereitschaft" pflege ("Weißbuch 1970"). In den 1970er Jahren verwiesen einzelne Generalinspekteure wie Ulrich de Maizière, Harald Wust oder Armin Zimmermann auf die freiheitlich-demokratische Werteorientierung der deutschen Streitkräfte, die in der Tat in der deutschen Militärgeschichte einzigartig ist. Seit dieser Zeit werden die Grundsätze der komplexen "Inneren Führung", das heißt die gelebte Praxis, als bundeswehreigene Tradition verstanden.

Die ideellen Vorgaben der "Inneren Führung" sind als Traditionselemente in die gültigen Richtlinien von 1982 aufgenommen. Es finden sich sieben "unverwechselbare Merkmale der Bundeswehr": vom verfassungsgemäßen Auftrag der Friedenserhaltung in Freiheit über den Verzicht auf ideologische Feindbilder und der multinationalen Einbindung bis hin zum Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Als traditionsbildende Ereignisse werden die humanitären Einsätze in aller Welt erwähnt.

Die offizielle Lesart des Bundesministeriums der Verteidigung findet sich im "Weißbuch 2006" der Bundesregierung und in der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 vom 28. Januar 2008. Neben den preußischen Heeresreformen und dem militärischen Widerstand gegen das Hitler-Regime wird im "Weißbuch 2006" auch die Eigentradition genannt, die fünfzigjährige "erfolgreiche" Geschichte der Bundeswehr und ihre eigenen sinnstiftenden Leistungen. Vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Sicherheitspolitik wird dort sogar von einer Fortentwicklung der Traditionspflege gesprochen.

Auf sinngebendes Angebot verzichtet

Die Bundeswehr als Armee im Einsatz benötigt nach offizieller Meinung also die Pflege militärischer Tradition, jedoch bleibt unklar, welche Rolle sie im Rahmen des militärischen Auftrags von Konfliktverhütung und Krisenbewältigung denn genau spielen soll. Auf ein sinngebendes beziehungsweise identitätsstiftendes Angebot für die Einsatzrealität mit ihren vielschichtigen ethisch-moralischen Herausforderungen wird bisher noch verzichtet.

Seit 1993 haben im Auslandseinsatz mehr als 80 Bundeswehrangehörige ihr Leben verloren. Im September 2009 wurde das "Ehrenmal der Bundeswehr" auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums in Berlin eingeweiht. Mit diesem Mal zeigt die Armee, dass sie endlich ihrer eigenen Toten gedenkt, die im Dienst für Frieden, Recht und Freiheit ums Leben gekommen sind.

Die gewachsene "Tradition des Helfens (im Einsatz)" fand Eingang in das kollektive Gedächtnis über Erzählungen, über Fotos von einzelnen Hilfsmissionen an den Wänden der Liegenschaften. Eine je eigene Einsatzkultur in multinational zusammengesetzten Feldlagern füllt seit den 1990er Jahren die "Markenzeichen" mit buntem Leben und dürfte trotz bürokratischer Regelungswut ein wesentliches Movens für das geforderte Optimum an militärischer Leistungsfähigkeit sein. Vielleicht erfüllt ja die Jetztzeit, was das "Weißbuch 1979" postulierte: "Tradition ist alltäglich, selbstverständlich, natürlich."

Da die persönliche Traditionspflege nicht verordnet werden kann und soll, bleibt die bundeswehrspezifische Tradition als Überlieferung von Werten und Normen zumeist abstrakt. Einen Katalog traditionswürdiger Personen, Haltungen und Leistungen hat die politisch-militärische Führung bewusst zu keiner Zeit vorgelegt; daher ist so mancher Soldat, manche Soldatin auf der Suche nach "Helden", nach der vorbildlichen Tat, dem mutigen Einstehen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Herausragende Einzeltaten

Als Reaktion werden daher offiziell einige herausragende Einzeltaten als traditionsstiftend gewertet. Als Leitbilder für die Bundeswehr beziehungsweise für die Teilstreitkräfte werden dabei ge­nannt: Oberleutnant Ludger Hölker (1934-1964), Flugzeugführer im Jagdbombergeschwader 32, der während eines Ausbildungsflugs seine abstürzende Lookhead T-33 noch über die Gemeinde Straßberg lenkte und hierbei tödlich verunglückte. Das Auditorium Maximum der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck ist 1977 nach ihm benannt worden ("Ludger-Hölker-Saal"), so auch eine Straße in der Schwabstadl-Kaserne in Lechfeld (1984). In Straßberg steht seit 2004 ein Gedenkstein an der Absturzstelle, die Grundschule des Ortes trägt seit August 2010 seinen Namen.

Aus den Rängen der Unteroffiziere ist Feldwebel Erich Boldt (1933-1961), Panzerpionierkompanie 70 (aufgelöst 1993), Vorbild. Seit 1992 führt die Kaserne der Unteroffizierschule des Heeres im sächsischen Delitzsch seinen Namen. Boldt verunglückte im November 1961 in Hamburg-Harburg beim erfolgreichen Versuch, zwei Wehrpflichtige vor einer detonierenden Sprengladung zu retten. Seltener gedacht wird den acht Bundeswehrangehörigen zwischen 19 und 31 Jahren, die während der Sturmflut 1962 bei der Rettung von Menschenleben umkamen. Diese Vorbilder stehen für eine zukunftsorientierte, moderne Militärtradition, fern dem Nur-Soldatischen, das wertneutral sein Handwerk ausübt. Selbstbewusst stellte 2008 der damalige Inspekteur der Luftwaffe Klaus-Peter Stieglitz fest: "Wir benötigen weder Rückgriffe auf zurückliegende Kriege noch Blicke ins Ausland, um Vorbilder für den heutigen Soldaten zu finden oder um Rechtfertigungen für die Eigenheiten der Bundeswehr zu suchen."

Kasernennamen sind Sinnbild für die institutionelle Wirksamkeit von Militärtradition. Von den einstmals rund 420 Kasernen der alten Bundesrepublik wurde mehr als die Hälfte nach Personen aus der deutschen Militärgeschichte benannt. Namen sollen grundsätzlich von der Truppe ausgewählt werden, doch erfolgte die Initiative häufig "von oben". Viele umstrittene Namen sind aufgrund von Standortentscheidungen bereits verschwunden.

Männlich geprägt

In den vergangenen zwanzig Jahren sind in der "neuen" Bundeswehr, in der "Ar­mee der Einheit im Einsatz" Liegenschaften in Ost und West nach zivilen wie militärischen Widerstandskämpfern oder Rettern in Uniform aus der Zeit der NS-Diktatur und Militärreformern aus der Phase der Freiheitskriege benannt worden. Bundeswehrangehörige ohne Wehrmachtshintergrund sind außer Erich Boldt bisher nicht als Namensgeber für militärische Liegenschaften vorgeschlagen worden.

Militärtradition ist naturgemäß männlich geprägt. In der Traditionspflege der Bundeswehr spielte daher das weibliche Element bisher kaum eine Rolle. Seit 2001 stehen Frauen alle Laufbahnen offen. Angesichts von derzeit 17.000 Soldatinnen in der Bundeswehr bemühen sich die verantwortlichen Führungskräfte, auch der Staatsbürgerin in Uniform tragfähige Angebote in Sachen Tradition zu unterbreiten. Ziel ist hierbei, die Frauen in die männlich geprägte militärische Organisation zu integrieren, eine angemessene Identitätsbildung zu fördern und Sinn und Zweck des gegenwärtigen Aufgabenspektrums zu verdeutlichen.

An geeigneten, wertebezogenen Beispielen besteht durchaus kein Mangel. Frauen standen ihren Mann vor allem in Zeiten des revolutionären Umbruchs und der kriegerischen Auseinandersetzungen, Zeiten, in denen das traditionelle Rollenverständnis zeitweilig durchbrochen wurde. Konkrete, geschlechtsspezifische Leitbilder müssen sich aber erst noch herausbilden.

Viele alte Helden verloren

"Tradition lässt sich nicht planen", so steht es im "Weißbuch 1979", "sie muss wachsen, oft über einen langen Zeitraum hinweg." Das Warten scheint sich gelohnt zu haben, blickt doch die Bundeswehr nach fünf Jahrzehnten eigener, erfolgreicher Geschichte auf ein beachtliches Traditionspaket zurück. Es ist der jungen Streitmacht letztlich gelungen, durch das vertrocknete Gestrüpp sinnentleerter Wehrmachtstraditionen hindurch eigene demokratische Traditionen auszubilden.

Das vielfältige Aufgabenspektrum einer Armee im Einsatz ist der praktische Ausgangspunkt für ein zeitgemäßes Traditionsverständnis, das sich im Rahmen von Grundgesetz und Soldatengesetz bewegt. Tradition und "Innere Führung" gehören zusammen und sind Bestandteile der militärischen Transformation, welche wiederum Auswirkungen auf eine moderne Tradition hat, die dem Recht unterworfen und dem Gewissen verpflichtet ist. Die derzeitigen Traditionsinhalte sind das Produkt einer 50jährigen Traditionssuche der Bundeswehr. Sie hat auf ihrem langen Weg durch die Zeit viele alte "Helden" verloren, jedoch beispielgebende Vorgaben demokratischer Prägung selbst ge­schaffen. Diese Tradition steht ihr gut.

Loretana de Libero ist Historikerin und Professorin an der Universität Potsdam sowie Projektleiterin am Militärgeschichtlichen Forschungsamt.

Loretana de Libero

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