Sehnsucht im Kopf

Ein Plädoyer für mehr Ruhe
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Seinen Ursprung hat das Wort Lärm im Militärischen. Noch im Italienischen all'arme, also zu den Waffen, kann man die Verwandtschaft mit "Alarm" erahnen. Kurz und knapp heißt das: Lärm alarmiert.

Seinen Ursprung hat das Wort Lärm im Militärischen. Noch im Italienischen all'arme, also zu den Waffen, kann man die Verwandtschaft mit "Alarm" erahnen. Kurz und knapp heißt das: Lärm alarmiert. Auf Alarm eingestellt ist auch das menschliche Ohr, denn es lässt sich nicht abschalten. Die meisten Menschen haben immer ein offenes Ohr, es sei denn sie sind krank. Ihr Alarmorgan funktioniert, weckt und warnt, wenn Gefahr droht. Während wir die Augen schließen können, schläft das Ohr nie. Es nimmt beständig Geräusche auf.

Doch ob es sich dabei um bloße Geräusche oder um Lärm handelt, wird anderswo entschieden: im Kopf des Menschen. "Lärm ist interpretiertes Geräusch, und dazu gehören immer zwei. Ein Geräusch und ein Bewusstsein, das auf dieses Geräusch reagiert", schreibt die Berliner Autorin Sieglinde Geisel. In ihrem klugen und unterhaltsamen Essay "Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" streift sie durch die Zeiten und liefert einen Abriss der Lärmgeplagten über die Jahrtausende hinweg. Und sie erfreut den Lesenden mit ihrer Sammlung.

Lärm entsteht im Kopf

So empfand der römische Philosoph Seneca die menschliche Stimme als besonders lästig, weil diese auf die Seele wirke, eben nicht nur aufs Ohr. Stört uns deshalb das Handygespräch ­unseres Nachbarn so immens, dass wir es schier unerträglich finden? Aber weghören funktioniert nicht, und Ohrenklappen sind anatomisch nicht vorgesehen. Seneca selbst empfahl Konzentration als Mittel gegen den Lärm.

Doch Franz Kafka zum Beispiel profitierte von dem zu seiner Zeit erfundenen Ohropax, ohne das seine Werke vermutlich nicht entstanden wären, wie die Berliner Autorin zu berichten weiß. Und Hans Magnus Enzensberger stellte sich 1997 sogar vor, "mit einer Kalaschnikow auf jeden erkennbaren Lautsprecher zu schießen". All diese lärmgeplagten Köpfe kommen in diesem kurzweiligen und lesenswerten schmalen Band zu Wort.

Auch sie mussten erkennen: Es gibt kein Leben ohne Lärm, keine Gesellschaft ohne Geräusche. Und trotzdem muss Lärm nicht laut sein. Manch einer fühlt sich vom Ticken des Weckers gestört, ein anderer vom tropfenden Wasserhahn. Doch wie der Mensch dem Lärm begegnet, ist unterschiedlich, weist Geisel nach: Der Philosoph Immanuel Kant kaufte einfach seinem Nachbarn den krakeelenden Hahn ab, der Schriftsteller und Zeichner Robert Gern­hard bat die göttliche Allmacht um Unterstützung und forderte ein neues Gebot: "Du sollst nicht lärmen. Ein Gebot, das Gott vergessen hatte" war sein Essay überschrieben. Und der Schriftsteller und Philosoph Theodor Lessing gründete gar die erste deutsche Anti-Lärm-Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Legale Droge

Lärm als Waffe im Krieg, Lärm als legale Droge, die euphorisierend wirkt wie der hohe Schallpegel in einem Rockkonzert oder die eigene Lärmempfindlichkeit als Statussymbol, Sieglinde Geisel betont durchgängig den sozialen und psychologischen Charakter des Lärms. Sie erzählt wohltuend sachlich und entlockt dabei dem Lesenden den einen oder anderen Schmunzler.

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still. Galiani Verlag, Berlin 2010, 167 Seiten, Euro 16,95.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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