Reformen nicht verweigern

Gute Traditionen wahren und sich dennoch erneuern - beides ist Aufgabe der Kirche
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"Kirche im Reformstress" hat die Theo­logieprofessorin Isolde Karle ihr neues Buch genannt. Sie geht darin mit dem EKD-Reformprozess "Kirche der Freiheit" ins Gericht. Der ehe­malige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, Mitinitiator des Prozesses, hat gegen ihre Kritik einiges vorzubringen.

Mit Isolde Karle verbindet mich, dass wir beide Vikare in der württembergischen Kirchengemeinde Reutlingen-Betzingen waren. Wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, so haben wir doch jeweils prägende Erfahrungen in dieser lebendigen Gemeinde gesammelt.

Sie habe ich vor Augen, wenn ich lese, wie Isolde Karle die Chancen der Ortsgemeinde beschreibt: mit einem Kirchengebäude, das während des ganzen Jahres heizbar ist, und einem vielfältig nutzbaren Gemeindehaus, ausstrahlungsstark in alle Milieus hineinwirkend, wenn auch vielleicht in unterschiedlicher Quantität, durch eine Vielzahl von Chören und Gruppen ein weites Netz spannend, durch Straßenfeste und Basare nahe bei den Menschen, mit dem regelmäßigen sonntäglichen Gottesdienst, in dem der Inhalt die Form bestimmt, als selbstverständlich anerkanntem Zentrum. Man kann diese Gestalt der Ortsgemeinde gar nicht hoch genug rühmen! Doch ob sie unsere Wirklichkeit im Ganzen bestimmt, kann man fragen. Entspricht es vielleicht doch dem Auftrag unserer Kirche, eine Ergänzung durch andere Gemeindeformen zu wagen?

Interesse an gutem Weg der Kirche

Mit Isolde Karle verbindet mich auch das Interesse an einem guten Weg unserer Kirche. Ihr Buch endet mit zwölf Thesen zur Kirchenreform (S. 216 ff.), denen ich weitgehend gern zustimme. Einige Kernpunkte seien zusammenfassend hervorgehoben: Dass die evangelische Kirche sich von den Gemeinden her aufbaut, macht Reforminitiativen der Kirchenleitungen nicht überflüssig. Denn evangelische Kirchenleitung denkt "von oben von unten" (S. 216).

Oder: Eine Kirche, die gegen den Trend wachsen will, sollte sich vor allem Familien zuwenden und Orte schaffen, an denen Kinder und Jugendliche im Glauben wachsen können. Oder: Mediale Präsenz ist eine wichtige Ergänzung, kann aber nicht an die Stelle lokaler Präsenz der Kirche treten. Oder: Pfarrerin und Pfarrer ist der Schlüsselberuf der Kirche. Deren entscheidende Kompetenz ist theologischer Art. Deshalb ist die entscheidende Herausforderung der Kirche nicht die Finanzkrise, sondern die theologische Orientierungskrise.

Bei so positiven Thesen zur Kirchenreform nimmt es mich wunder, wie viel Kraft Isolde Karle auf die Abwehr gegenwärtiger Reformprozesse verwendet. Ich will versuchen, ihre Motive zu erkunden - auch hier, indem ich ihre Argumente zusammenfasse:

'Nur keinen Stress! Dieses Buch gehört zu den Veröffentlichungen, die das Gegenteil dessen zum Inhalt haben, was der Titel sagt. Für die Kirche gibt es keinerlei Anlass zu einem Reformstress. Denn erstens funktioniert die Kirche als Ort religiöser Beheimatung nach wie vor konkurrenzlos gut. Zweitens überschätzen Reformer immer das Ausmaß dessen, was menschlich gestaltbar ist. Und drittens lehrt das Gottvertrauen uns, mit der Welt, so wie sie ist, gelassen umzugehen.'

Verzicht auf Kritik als Mangel von Wertschätzung

Nur: Wie ist es mit dem Salz der Erde und dem Licht der Welt? 'Wertschätzen statt Kritisieren! Der Ruf nach Reform entwertet die Arbeit, die faktisch getan wird. Bei guter Arbeit - und erst recht bei der Arbeit von Pfarrerinnen und Pfarrern - zählt nur die intrinsische Motivation. Sie von außen zu beeinflussen, ist ein sinnloses Unterfangen. Wer Pfarrerinnen und Pfarrer dazu ermuntern will, sich weiter zu entwi­ckeln oder an ihrer Arbeit etwas zu ändern, bescheinigt ihnen damit Defizite in ihrer jetzigen Arbeit. Das wirkt zerstörerisch auf die intrinsische Motivation. Damit bewirkt die Reform das Gegenteil dessen, was sie intendiert.' - Nur: Auch der Verzicht auf Kritik kann ein Mangel an Wertschätzung sein.

'Vorbei mit der schwäbischen Hausfrau! Angesichts des demographischen Wandels, des Abschieds vieler Menschen von der Kirche und der Veränderung von Finanzierungsbedingungen sorgen sich die Reformer um die Finanzierbarkeit der kirchlichen Arbeit. Dieser Ansatz ist falsch. Wer nach der Finanzierbarkeit fragt, unterwirft sich der neoliberalen Ökonomisierung, die unsere ganze Gesellschaft beherrscht.' - Dazu freilich heißt meine Frage: Erliegt auch die schwäbische Hausfrau, die sich in der Haushaltsführung nach ihrem Haushaltsgeld und den Erträgen ihres Gartens richtet, dem Ungeist der Ökonomisierung?

Diese Frage ist keineswegs belanglos. Denn nicht nur gegen das Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit" von 2006, sondern gegen alle Reformbemühungen seit den Neunzigerjahren schleudert die Autorin den Bannstrahl neoliberaler Ökonomisierung. Da gibt es kein Entkommen. Die Belege sind allerdings mager. Wann immer man in diesem Buch auf die Behauptung stößt, kirchliche Reformprozesse seien "unverkennbar" (S. 101 u.ö.) durch Ökonomismus bestimmt, stößt man in den Anmerkungen nicht etwa auf Nachweise für diese These, sondern nur auf Hinweise auf andere Autoren, die dasselbe auch schon behauptet haben.

Das muss folgerichtiger Weise mit der Aussage verbunden werden, dass es im Rahmen dieses Reformprozesses an theologischen Überlegungen vollständig fehlt. Hilfsweise wird erklärt, eventuelle theologische Versatzstücke stünden völlig im Dienst der Ökonomisierung. Ich kann nicht vermeiden, die Willkürlichkeit dieses Vorgehens an der eigenen Person zu illustrieren.

Von meinen theologischen Äußerungen zur Reform der Kirche werden von Isolde Karle allein das Vorwort zu dem Impulspapier "Kirche der Freiheit" (S. 113 f., 116) sowie ein Satzfetzen aus meinem spontanen Schlusswort zum Zukunftskongress der EKD in Wittenberg 2007 (S. 152) zitiert. Dass ich einige Jahre zuvor diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet habe ("Kirche in der Zeitenwende") oder dass ich die Reformüberlegungen des Rates der EKD in Wittenberg 2007 und in Kassel 2009 theologisch begründet sowie in mehreren Berichten vor der Synode der EKD entfaltet habe, bleibt völlig unerwähnt. Auch so lässt sich der Anschein einer Abwesenheit von Theologie erzeugen.

Geballter Zorn

Isolde Karle plädiert vehement dafür, eine biblisch geprägte Sprache beizubehalten. Die für ihr Buch zentralen biblischen Motive sind schnell genannt: das Bild vom Leib Christi (1. Korinther 12) und die paulinische Gleichheitsformel, nach welcher durch die Taufe nicht mehr Mann noch Frau sind (Galater 3,28; vgl. S. 131). Sie werden in eine Betrachtungsweise eingebettet, die keineswegs nur theologisch, sondern mindestens ebenso stark soziologisch geprägt ist. Dabei herrscht eine systemtheoretische Betrachtungsweise vor, die sich vor allem an Niklas Luhmann und daneben an Armin Nassehi und Detlef Pollack orientiert.

Im Blick auf ein gesellschaftliches Teilsystem, so heißt die entscheidende These, muss man dessen spezifische Funktion von der Leistung für andere Teilsysteme unterscheiden. Vorrang hat natürlich die Funktion. Die Funktion von Religion aber ist - Religion. Ich kritisiere einen interdisziplinären Ansatz in der Theologie nicht, auch wenn mir das unkritische Zutrauen zur Systemtheorie zu weit geht. Ich nenne Isolde Karles Vorgehen deshalb nicht eine "Soziologisierung der Theologie". Ähnliche Zurückhaltung empfehle ich im Blick auf den Vorwurf der "Ökonomisierung".

Auch die Theologie ist entscheidend von den Annahmen über die Wirklichkeit bestimmt, von denen sie ausgeht. Unter der Überschrift "Die religiöse Lage" (S. 17 ff.) beschreibt Isolde Karle bedauerlicherweise nicht, wie es nach ihrer Auffassung um die Religion steht; sie klärt auch nicht, auf welche Regionen sich ihre Aussagen beziehen. Sondern sie referiert die religionssoziologischen Theorieansätze, die ihr besonders wichtig sind.

Doch in ihrem Buch zeigt sich immer wieder, dass die Traditionsabbrüche der letzten Jahrzehnte für sie eine vergleichsweise geringe Bedeutung haben. Die Situation in Ostdeutschland, in Tschechien, den Niederlanden oder der Schweiz tritt überhaupt nicht in den Blick. Von der ungebrochenen Kasualfrömmigkeit wird ein erstaunlich optimistisches Bild gezeichnet (z. B. S. 145). Nur einmal blitzt die Erkenntnis auf, dass allein erziehende Mütter ihre Kinder bedauerlicherweise selten taufen lassen (S. 171); Bemühungen, dem durch gemeinsame Tauffeiern an herausgehobenen Orten - in der Klosterkirche Loccum oder dem Dom zu Fürstenwalde - entgegenzuwirken, werden nicht erwähnt, vermutlich weil sie der exklusiven Bindung der Kasualpraxis an die Ortsgemeinde widersprechen.

Dienstleistunge" verdienen eine freundlichere Behandlung

Denn der Vorschlag in "Kirche der Freiheit", neben den Parochialgemeinden auch Personal- und Profilgemeinden mit einem stärkeren Gewicht zu versehen, weckt Isolde Karles geballten Zorn (S. 113, 122 u.ö.). Dabei läuft ihr Argument, dass Gemeinde immer lokal (weil auf gemeinsame leibliche Anwesenheit angewiesen) ist, völlig ins Leere. Denn auch Personal- und Profilgemeinden sind lokale Gemeinden. Nur sind sie nicht parochial. Dass man zu ihnen gegebenenfalls weitere Wege zurücklegen muss, ist bekannt; doch manche Menschen tun das gern. Den häufig gehaltvollen Gottesdienst, den sie an dem von ihnen gewählten Ort feiern, als "Dienstleistung" (S. 124, 127 u.ö.) zu diskriminieren, ist abwegig. Ganz abgesehen davon, dass "Dienstleistungen" schon wegen der vielen Christen, die in diesem Bereich tätig sind, eine freundlichere Behandlung verdienen als in diesem Buch.

Aber zugegeben: Den missverständlich formulierten Vorschlag, den Anteil der Parochien von achtzig auf fünfzig Prozent aller Gemeinden zu reduzieren, hat schon der Zukunftskongress der EKD in Wittenberg 2007 korrigiert; der Verstärkung des Anteils an Profil- oder Personalgemeinden hat er jedoch zugestimmt. Leider nimmt Isolde Karle einen solchen Diskussionsprozess nicht zur Kenntnis, sondern sucht Bestätigung für ihren Zorn.

Einen vergleichbaren Zorn löst der Vorschlag aus, bei finanziellen Unterstützungen aus dem Haushalt der EKD nicht die lange Tradition eines Arbeitsbereichs, sondern dessen Bedeutung für die Zukunft des Protestantismus zum Entscheidungskriterium zu machen (S. 99). Isolde Karle liest daraus eine generelle Absage an gute Traditionen sowie eine Verleugnung der Kirche als Institution, die nach ihrer Auffassung durch weitgehende Unwandelbarkeit gekennzeichnet ist. Doch sie sollte bedenken: Aus dem Haushalt der EKD werden nicht die Grundvollzüge gemeindlichen Lebens in den Landeskirchen finanziert, sondern besondere Handlungsfelder, die auf bestimmte gesellschaftliche Herausforderungen antworten. Möglicherweise müsste das noch deutlicher formuliert sein; eine Vertreterin der Praktischen Theologie könnte es trotzdem wissen.

Nicht auf die nächste Generation vertagen

Ebenso wie Isolde Karle habe ich nach wie vor die württembergische Kirchengemeinde Reutlingen-Betzingen in bester Erinnerung. Doch in der Zwischenzeit habe ich kirchliches Leben in Berlin, in Brandenburg, in der schlesischen Oberlausitz und anderswo erlebt; dabei habe ich auch die Gemeinden lieb gewonnen, die unter weit kargeren Bedingungen leben. Wie viele andere habe ich einen neuen Sinn für den missionarischen Auftrag unserer Kirche entwickelt. Das Wort "Mission" allerdings kommt bei Isolde Karle nur einmal vor. Dort wird dem Impulspapier der EKD "Kirche der Freiheit" die Auffassung unterstellt, die Kirche müsse als "ein Anbieter unter vielen auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen ... ih­re Kunden mittels ausgeklügelter Marketing(= Missions)stra­tegien gewinnen" (S. 107). Auch wer die gute alte Zeit der stabilen Parochie beschwören will, sollte missionarischen Bemühungen in unserer Kirche mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Schließlich gebe ich zu bedenken: Die Herausforderungen der Gegenwart werden nicht geringer, wenn man sie auf die nächste Generation vertagt.

LITERATUR Isolde Karle: Kirche im Reformstress. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, 280 Seiten, Euro 19,95.

zu: Isolde Karle "Reformen mit Besonnenheit" (zz 2-2011)

Wolfgang Huber

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