Die armen Kinder Gottes

Lepra - eine alte Krankheit, die auch in Deutschland weit verbreitet war
„Kinderhaus“ hieß diese Anlage und gab einem ganzen Stadtteil seinen Namen. (Foto: Martin Glauert)
„Kinderhaus“ hieß diese Anlage und gab einem ganzen Stadtteil seinen Namen. (Foto: Martin Glauert)
Bei dem Wort "Lepra" tauchen ferne Länder vor dem inneren Auge auf. Kaum jemand weiß, dass die Krank­heit vor wenigen hundert Jahren auch in Deutschland verbreitet war. Im west­fä­lischen Münster befindet sich das einzige Lepra-Museum Deutsch­lands.

Direkt an der alten Dorfstraße aus Kopfsteinpflaster steht am Stadtrand von Münster der Rest einer Backsteinmauer, die früher das Anwesen komplett umgab. Das Eisentor quietscht beim Öffnen. Wer früher hier hindurch schritt, hatte mit seinem bisherigen Le­ben abgeschlossen. Er trat nun in eine neue Welt, eine lebenslange Quarantäne, die nur von wenigen seltenen Ausflügen unterbrochen wurde. Der lang ge­streckte weiße Fachwerkbau war die letzte Heimat für etwa zwanzig an Lepra erkrankte Bewohner.

Letzte Heimat

Nahezu jede größere Stadt hatte vor ihren Toren eine Siedlung wie diese hier im Westfälischen. Dort lebten die Leprakranken sorgfältig getrennt von der übrigen Gesellschaft. Wer erkrankte, musste seinen Beruf aufgeben, Haus und Familie verlassen und den Rest seiner Jahre außerhalb der Gesellschaft leben. Die meisten wohnten auf der Straße und lebten vom Betteln. Die besser Gestellten fanden in einem Leprosorium eine feste Unterkunft, Verpflegung und ein Wohnrecht auf Lebenszeit.

Vor den Toren Münsters liegt eines von den etwa tausend ehemaligen Leprosorien, die man heute noch in Deutschland findet. "Arme Kinder Gottes" wurden die Leprakranken auch genannt, wohl daher entstand der Name "Kinderhaus" für diese Anlage und gab einem ganzen Stadtteil seinen Namen. Hier befindet sich das einzige Lepramuseum Deutschlands.

Heute wirkt der langgestreckte weiße Fachwerkbau mit seinen Blumenkästen regelrecht wohnlich und einladend. Nach kräftigem Klopfen öffnet sich die schwere Holztür, und Petra Jahnke, die Kustodin des Museums, bittet freundlich herein. Sie bringt Besuchern und Schulklassen diese alte, furchtbare Krankheit näher, und man spürt dabei deutlich ihre innere Anteilnahme. Die hat sie bis Pakistan und Nepal getrieben, wo sie selbst Leprastationen besucht und geholfen hat. Dort ist die Krankheit noch weit verbreitet, und genau aus diesem Winkel der Erde hat sie sich vor fast dreitausend Jahren auf den Weg um die Welt gemacht.

Bereits im Alten Testament

Die ältesten Krankheitsberichte liegen aus Indien vor. Während heute Krankheiten innerhalb von Stunden durch Interkontinentalflüge von einem Erdteil zum anderen übertragen werden, dauerte es früher Jahrzehnte lang. So wanderte die Krankheit im Laufe von Generationen über die Seidenstraße bis in den Nahen Osten. Dort muss die Lepra weit verbreitet gewesen sein, so dass sie auch Einzug ins Alte Testament gefunden hat.

Das dritte Buch Mose widmet dieser Erkrankung zwei ganze Kapitel. In 59 Versen wird eine detaillierte hautärztliche Differenzialdiagnostik geschildert mit genauester Beschreibung der auftretenden Symptome. "Wenn der Priester das Mal an der Haut des Fleisches sieht, dass die Haare in Weiß verwandelt sind und das Ansehen an dem Ort tiefer ist denn die andere Haut seines Fleisches, so ist's gewiss der Aussatz", heißt es dort. Dann folgen genaue Quarantänevorschriften und kleidungshygienische Maßregeln.

Letztlich aber erfolgte der Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft, was mit Luthers Übersetzung als "Aussatz" treffend auf den Punkt gebracht wird. Die alttestamentliche Erklärung deutet die Erkrankung als "der Sünde Sold" und bestraft den Patienten damit zusätzlich moralisch, über die soziale Verstoßung hinaus.

Vor diesem Hintergrund wird klar, wie ungeheuerlich und verwirrend Jesu Verhalten seinen Zeitgenossen erschienen sein muss, als er mit einem Leprakranken konfrontiert wurde. Der Aussätzige wagte es, sich Jesus zu nähern und ihn um Heilung zu bitten. Der aber jagte ihn weder empört davon, noch nahm er vor der drohenden Ansteckung Reißaus. Im Gegenteil ging er geradewegs auf ihn zu, "streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein!" Nicht so sehr die medizinische Heilung ist dabei wichtig ("Hauptsache gesund"), sondern die Tatsache, dass Jesus den Verstoßenen wieder heimholt in die menschliche Gesellschaft und in das Reich Gottes.

Kölner Kompetenzzentrum

Später trugen die römischen Legionäre, die nahezu den gesamten damals bekannten Weltkreis beherrschten, die Seuche nach Rom, mitten ins Herz Europas. Bereits im fünften und sechsten Jahrhundert wurden die ersten Leprosorien in Frankreich errichtet, 1333 wurde das Kinderhaus gegründet.

Wenn ein Krankheitsfall auftrat, setzte dies eine Kaskade in Gang, die durchaus erstaunliche Parallelen zu unserem heutigen Gesundheitswesen aufwies. Schon im Mittelalter bestand eine Meldepflicht; wer Symptome der Erkrankung bei einem Nachbarn oder Verwandten feststellte, musste dies den Behörden mitteilen. Daraufhin wurden die Verdachtsfälle nach Köln-Melaten geschickt, damals eine Art zentrales Kompetenzzentrum für die noch seltene Erkrankung. Der ganze Stadtteil verdankt seinen Namen dieser Erkrankung: "krank = malad = melat". Dort erfolgte die gutachterliche Diagnosestellung in Form einer "Siechenschau".

Die Expertenkommission bestand aus Scherern, Badern und Wundärzten, aber auch Priester und Reisende, die Erfahrungen in fremden Ländern gesammelt hatten, wurden als Fachleute hinzugezogen. Die gewichtigste Stimme jedoch kam in dieser Kommission einem Leprakranken zu. Er konnte die fraglichen Symptome am besten beurteilen, hatte er sie doch am eigenen Leib erfahren.

Barfuß auf kalte Steine: Teil der Diagnostik

Die Diagnostik musste ohne technische Hilfsmittel auskommen, umso erstaunlicher ist es, wie treffsicher man mit einfachsten Untersuchungen der heimtückischen Krankheit auf die Spur kam. Zunächst schaute man nach Flecken auf der Haut, den augenscheinlichsten Symptomen, die der Krankheit den Namen "Lepra" gaben. Das griechische Wort lepros bedeutet so viel wie "ich schäle mich". Ferner prüfte man den Urin des Probanden, und zwar nicht nur das Aussehen, sondern auch den Geschmack!

Danach mussten die Patienten barfuß auf kaltem Stein stehen, um ihr Temperaturempfinden zu testen. Tatsächlich ist dies einer der empfindlichsten Hinweise für die Ausbildung eines Nervenschadens, der für den Krankheitsverlauf der Lepra von entscheidender Bedeutung ist, wie die Medizin heute weiß. Zu guter Letzt musste der Untersuchte noch laut vorsingen, weil die Lepra nicht nur auf der Haut, sondern auch auf den Stimmbändern Knoten hervorruft und damit die Stimme charakteristisch verändert.

Für den, der in der Siechenschau "positiv" getestet wurde, änderte sich von Stunde an das Leben radikal. Nichts würde in der Zukunft mehr so sein wie vorher. Ein Edikt im Jahr 643 n. Chr. legte fest, dass Leprakranke als tamqauam mortuus - "gleichsam tot" - anzusehen seien. Damit war ihnen die Nutzung ihres eigenen Besitzes ab sofort verwehrt. Der Leprakranke durfte keinen Beruf ausüben, nicht heiraten und keine politischen Ämter übernehmen. Der größte Einschnitt aber lag darin, dass er nicht mehr im Kreis seiner Familie, der Nachbarschaft und innerhalb der Stadtmauern leben durfte, sondern aus allen gewachsenen Beziehungen herausfiel. Die meisten Kranken mussten sich ihren Lebensunterhalt auf der Straße erbetteln, nur Privilegierte kamen in einem Leprosorium unter.

23 Euro für die Heilung

Im Kinderhaus etwa durften nur Bürger der Stadt Münster wohnen, die eigenen Grundbesitz in der Innenstadt vorweisen konnten. Wie aber finanzierte sich die Einrichtung in einem Zeitalter ohne Krankenversicherung und Sozialstaat, ohne Diakonie und Caritas? Der Bürger Udo von der Tinnen hatte um 1326 das Gut Idenbrock gestiftet, auf dessen Grund das Leprosorium erbaut wurde. Die Einnahmen aus der Landwirtschaft deckten einen großen Teil der Kosten. Zusätzlich trugen Almosen und Spenden zum Unterhalt bei, schließlich wurde von der Kirche jedem Spender ein Ablass und damit eine Verkürzung seiner Zeit im Fegefeuer zugesagt.

Eine andere Einrichtung des kontinuierlichen Fundraising steht auf der anderen Straßenseite, direkt neben der Kirche: das Lazarushäuschen. Hier befindet sich eine Statue des armen Lazarus, der sich laut Lukasevangelium für seine Leiden das Himmelreich erworben hatte und als Symbol des Leprakranken schlechthin galt. Daneben steht die Heilige Gertrud in Stein gehauen, die ihm barmherzig einen Taler reicht und mit ihrer Geste die vorbeikommenden Händler und Reisenden zu einer ebenso großzügigen Spende für die Leprakranken ermuntern sollte.

Im Museum ist ein Modell der Leprasiedlung aufgebaut, pittoresk und idyllisch wie auf einer Modelleisenbahn ist es anzuschauen. Das Leben in Kinderhaus aber verlief nach strengen Regeln. Tägliche Gebetsstunden in der Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren Pflicht. Nahezu klösterlicher Gehorsam und Keuschheit wurden eingefordert, kein Bewohner sollte "mit dem anderen irgend eine fleischliche Gemeinschaft halten". Manche Regeln der detaillierten Hausordnung erscheinen auf den ersten Blick kurios, hatten aber durchaus ihren medizinischen Sinn. "Keiner soll seines Leibes Notdurft tun an irgendwelchen Türen, Zäunen, Gräben oder Mauern, viel weniger daselbst ihre Töpfe ausschütten", heißt es und nimmt damit Jahrhunderte vor Einrichtung einer öffentlichen Kanalisation Grundregeln der Stadthygiene vorweg.

Nicht eingesperrt

Die Kranken waren keineswegs eingesperrt, sondern durften durchaus für kurze Einkäufe in die Stadt gehen. Dabei bestand allerdings eine strenge Kleiderordnung, wie die zwei lebensgroßen und gruselig vernarbten Puppen in der Museumsstube demonstrieren: Die Freigänger trugen ein spezielles Gewand, das die Krankheit verbarg und auch die Ansteckung verringern sollte.

Sie mussten Binden oder Schuhe an den Füßen haben, damit sie die Wege der Gesunden nicht berührten. Rein medizinisch gesehen, war das durchaus sinnvoll, da gerade die Füße oft geschädigt sind und durch eine solche Bekleidung geschützt wurden. Die Kranken durften auf dem Markt keine Gegenstände berühren, sondern mussten mit einem Zeigestock auf die gewünschten Waren deuten. Auf ihrem Weg sollten sie beständig eine hölzerne Klapper betätigen, die weithin zu hören war und die Gesunden warnte. Von der Ohren quälenden Lautstärke dieses einfachen Instrumentes kann man sich im Museum selbst überzeugen. So wurde die Klapper zum Symbol der Leprakranken und gab auch der Jahresschrift des Lepramuseums ihren Namen.

Offenbar aus gegebenem Anlass mahnte die Hausordnung, keiner solle sich an den "Baum zur Lust" oder andere Tavernen oder öffentliche Krüge begeben und mit gesunden Leuten Gelage halten und pflegen. Allerlei Leichtfertigkeit mit Tanzen, Juchzen, Springen, Geigen, Singen oder Pfeifen sollen sie sich gänzlich enthalten.

Heute heilbar

Wer oder was die Erkrankung aber eigentlich verursachte, war damals völlig unklar. Erst im Jahre 1873 entdeckte der norwegische Arzt Gerhard Armauer Hansen unter seinem Mikroskop ein Bakterium im Blut seiner Patienten, das er "Mycobacterium leprae" nannte. Bis zu einer wirksamen Behandlung der Krankheit war es allerdings noch ein weiter Weg. Mit einer Kombination von verschiedenen Wirkstoffen, die auch bei der Behandlung der Tuberkulose eingesetzt werden, ist die Krankheit heute heilbar. Die Behandlung dauert sechs bis zwölf Monate und kostet nach Angaben des Vereins Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe 23 Euro - ein ­lächerlicher Preis angesichts der furchtbaren Folgen der unbehandelten Lepra.

Mindestens ebenso wichtig wie die Tabletten aber sind einfache Tricks und Hilfsmittel, die das Leben der Patienten erleichtern. Auf der Fensterbank im Museum liegt eine kleine Sammlung solcher selbst gebastelten Schätze: Sohlen aus Palmblättern oder Autoreifen schonen die angegriffenen Fußsohlen. Das mag läppisch klingen, hat aber einen grausam realen Sinn. "In Nepal haben wir Füße gesehen, bei denen die nackten Knochen aus dem Fleisch herausragten", berichtet Museumsfrau Petra Jahnke, "und trotzdem liefen diese Menschen ungeschützt auf den schmutzigen Wegen, um ihre Erledigungen zu machen." Kleine ledernen Schuhe hält die Kustodin in der Hand, die aussehen wie Puppenschühchen, aber nur deshalb so klein sind, weil sie an verstümmelte Füße passen.

Die Betreuung und Behandlung von Leprakranken geschah meist aus dem Motiv christlicher Nächstenliebe, fast immer waren es Missionare, die sich um die Ausgestoßenen kümmerten. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür war Josef de Veuster. Er war das siebte Kind eines belgischen Bauern und trat in einen Missionsorden in Löwen ein, wo er den Ordensnamen "Damian" erhielt. 1873 ließ er sich freiwillig auf die Insel Molokai schicken, wo man etwa 700 Leprakranke ausgesetzt hatte, die dort völlig auf sich allein gestellt waren. Unversorgt und verwahrlost hausten sie in einer verzweifelten Zwangsgemeinschaft, in der nur noch das Recht des Stärkeren galt.

Mit den Aussätzigen gelebt

De Veuster schlief anfangs wie alle Bewohner im Freien unter einem Baum, legte dann aber mit ihnen Äcker und Gärten an, ersetzte die Grashütten durch Holzhäuser, baute Kirchen und Kapellen und gründete zwei Kinderheime. Als Handwerker, Arzt, Bauer, Totengräber und Priester zugleich lebte er mit den Aussätzigen zusammen. Da er den Gestank der Wunden nicht ertragen konnte, spendete er die Sakramente anfangs nur mit einer brennenden Pfeife im Mund. De Veuster infizierte sich mit der Lepra: Als er fünf Jahre später starb, war er nicht einmal fünfzig Jahre alt.

Der Arzt und Journalist Martin ­Glauert hat sich zum Weltlepra-Tag am 31. Januar auf die Spur dieser ­Seuche begeben.

INFORMATION

Lepramuseum, Kinderhaus 15, 48159 Münster, Tel. 02 51/23 46 89.

www.lepramuseum.de

Martin Glauert

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