In der Groote Kerk

Stätte lebendiger Erinnerung nicht nur für die Reformierten
Innenraum der Großen Kirche mit Grabmal des Grafen Enno II. (Foto: kre)
Innenraum der Großen Kirche mit Grabmal des Grafen Enno II. (Foto: kre)
Im ostfriesischen Emden steht die "Moederkerk" (Mutterkirche) der niederländisch-norddeutschen ­Refor­mier­ten - heute beherbergt sie die Johannes a Lasco Bibliothek.

Eine Stadt, irgendwie wohltemperiert, aber auch nüchtern und klar wie die Nordsee an einem Spätsommermorgen. Viel Altes findet man nicht mehr. Emden wurde durch alliierte Bombenangriffe fast völlig zerstört. Nach dem Krieg hat man es nicht mehr historisierend aufgebaut, sondern neu gestaltet. Aber, anders als andernorts, mit Rücksicht auf das Verlorene, in den alten Maßen und den alten Straßenverläufen, die Häuser vornehmlich aus rotem Ziegel. Das ist gut gelungen.

Doch wer sich die Fotos der Vorkriegsstadt anschaut, wird wohl staunend das betrauern, was unwiderruflich verloren ist: Eine Stadt wie aus einem altholländischen Bilderbuch, mit prachtvollen Bürgerhäusern; es fehlten auch nicht die Grachten. Die hat man nach 1945 mit den Trümmern zugeschüttet.

Ein Gebäude von handfester Bodenständigkeit

Am alten Stadtrand steht die "Groote Kerk", die Große Kirche. Einst reichte der Dollart bis auf wenige Meter an sie heran. Knapp vor dem Kirchhof, dem altehrwürdige Friedhof, segelten vor vierhundert Jahren Schiffe vorbei. Drinnen in der Kirche findet sich ein Gemälde aus dem Jahre 1616, zugeschrieben Johann Mencke-Maeler, auf dem das gut zu sehen ist. Es war lange nicht in Emden zu sehen. Halb vergessen, wurde es für eine der vielen holländischen oder flämischen Stadtansichten von See her genommen: wildbewegte Wellen, geblähte Segel, fliegende Fahnen. Das sind die Insignien einer bedeutenden Seehandelsstadt, Emden war, obwohl nicht zur Hanse gehörig, durch den Handel reich geworden.

Auf jenem Bild also erkennt man, hart am Wasser aufragend, die Große Kirche. Wer sich ihr heute nähert, steht vor einem immer noch eindrucksvollen Bauwerk der Backsteingotik - keine dieser Kathedralen, deren Maßwerk geradewegs auf und in den Himmel zielen, sondern ein Gebäude von eher handfester Bodenständigkeit. Einst, als der alte, vierschrötigere Turm noch stand, mag der Eindruck noch zwingender gewesen sein, er war wegen Baufälligkeit abgerissen worden, der jetzige stammt aus dem 19. Jahrhundert.

(Abb.: Johannes a Lasco Bibliothek)

Johannes Mencke_Maeler (zugeschrieben): Ansicht der Stadt Emden, 1616.

(Abb.: Johannes a Lasco Bibliothek)
(Abb.: Johannes a Lasco Bibliothek)

Johannes Mencke-Maeler: Johannes a Lasco, um 1555.

Doch die Groote Kerk war einst größer, als sie sich heute präsentiert: Was aus den Ruinen des Krieges wiederentstanden ist, stellt in der Länge nur die halbe Kirche dar. Früher soll sie 2.400 Menschen gefasst haben. Diese Dimension war nicht nur handelsherrlicher Großspurigkeit zu verdanken: Es gab Zeiten, da war Emden der Einwohnerzahl nach die zweitgrößte Stadt im Reich, nach dem "heiligen" katholischen Köln. Mit gutem Grund trug und trägt sie den Ehrentitel einer "Moederkerk" (Mutterkirche) der Reformierten in den Niederlanden und Ostfriesland: Auch Emden war eine Glaubensmetropole, nämlich für den friesischen Norden, freilich eine reformierte. Heute zählt Emden zu den bedeutenden protestantischen Erinnerungsorten.

Emden war Glaubensmetropole

Gepflegt wird diese Erinnerung in der Johannes-a-Lasco-Bibliothek, die seit fünfzehn Jahren in der Kirche wieder eine Heimat hat, ein Refugium reformierter Tradition. Ihre Anfänge liegen weit zurück: im Jahre 1559 hinterließ der Emder Bürger Gerhard tom Camp seine Bibliothek der Gemeinde. Sie wurde immer wieder erweitert und überstand den Bombensturm, weil sie ausgelagert worden war.

Heute wird hier das kulturelle Erbe der Reformierten in Norddeutschland und den Niederlanden bewahrt und erforscht. Ihren jetzigen Namen trägt die Bibliothek allerdings erst seit 1995, nach Johannes a Lasco, der zum Zeitpunkt der Campschen Erbschaft schon seit vier Jahren die Stadt verlassen hatte; er starb 1560 in Polen. Doch ohne ihn hätte es die reformierte Kultur in Emden vielleicht gar nicht gegeben.

(Foto: kre)
(Foto: kre)

In der Bibliothek.

(Foto: kre)
(Foto: kre)

Johannes a Lasco war 1540 nach Em­den gekommen. Er muss wohl eine imponierende Persönlichkeit gewesen sein, sonst hätte er wohl weder die regierende Gräfin Anna nachhaltig beeindrucken noch so rasch Autorität als Reformator gewinnen können. Dabei war seine Herkunft für einen Reformator eher ungewöhnlich: A Lasco war damals 41 Jahre alt, ein wohlhabender polnischer Adliger von europäischer Bildung, der in Rom, Bologna und Padua Theologie studiert hatte und 1521 zum Priester geweiht worden war.

Autorität

Auf einer Reise in diplomatischem Auftrag nach Frankreich besuchte er 1525 Erasmus von Rotterdam und wohnte eine zeitlang bei ihm. Erasmus war wohl über den intellektuellen Austausch erfreut, außerdem war ihm a Lascos Besuch aus einem profaneren Grund angenehm: Der junge Adlige war zahlungskräftig. Nachdem er abgereist war, klagte Erasmus brieflich einem Freund, es falle ihm schwer, sich wieder an seine gewohnte frugale Kost zu gewöhnen.

(Abb.: Johannes a Lasco Bibliothek)
(Abb.: Johannes a Lasco Bibliothek)

Alexander Sanders: Die Diakonie der Husittenden Armen, 1665.

Die Familie a Lascos gehörte zu den einflussreichsten Polens, sie setzte sich mit Nachdruck dafür ein, dass er möglichst früh eine Pfründe und womöglich einen Bischofssitz erhalten sollte. Dazu kam es nicht. Nun, im Jahre 1540, heiratete er eine junge Flämin aus einfachen Verhältnissen und war damit der erste polnische Kleriker, der öffentlich gegen den Zölibat verstieß - vielleicht auch ein Grund, erstmal in der Fremde unterzutauchen. Andererseits: Noch war für ihn die neue Konfession keine Abspaltung von der alten, sondern eine Rückkehr zur ursprünglichen, wahren, eben eine "Reform" des alten Glaubens.

Nicht als Abspaltung verstanden

Emden war die Residenz der Grafschaft Ostfriesland. Zwar war es den einheimischen Grafen aus dem Geschlecht der Cirksena gelungen, die Unabhängigkeit zu erringen, doch die war wacklig, sie hatten mächtige und nicht immer wohlgesonnene Nachbarn - et­wa im Westen die reformierte Stadt Groningen, im Osten das lutherische Bremen.

Dafür, dass die Reformation schon 1520 in Emden Fuß fasste, war ein Lehrer der Söhne des Grafen verantwortlich: Georg Aportanus. Der neigte zunächst der lutherischen Lehre zu, schloss sich dann aber in der Abendmahlsfrage der Position Zwinglis an, radikalisierte sie gar noch in seiner Schrift Hovet articelen des hylligen Sacramentes brodes vnde vlesches Jesu Christi, 1526.

Bild

Das Kirchenschiff nach Westen.

Johann a Lasco legte keine übermäßige Glaubenstoleranz an den Tag. Das wäre auch in einer Zeit, in der das Wort "Lauheit" ein schwerwiegender Vorwurf war, ­eher seltsam gewesen. Aber er zählte doch vergleichsweise zu den Milden unter den Geistlichen.

Doch noch blieb es bei der Konkurrenz der Konfessionen in Ostfriesland. Das lag an dem Mann, der heute in Stein gehauen auf seinem prächtigen Sarkophag in der Kirche ruht: Graf Enno II. (gestorben 1540), einer der Schüler des Aportanus. Der hatte eine Menge Konflikte am Hals seiner Herrschaft und wohl wenig Lust, vielleicht auch keine Neigung, sich konfessionell klar zu positionieren; jedenfalls setzte er sich mit seinen halbherzigen Versuchen, lutherische Kirchenordnungen verbindlich zu machen, nicht durch.

Halbherzig

Johann a Lasco aber machte sich gleich mit großer Energie daran, die Kirche neu zu organisieren. Nicht, dass er dabei übermäßige Glaubenstoleranz an den Tag gelegt hätte, das wäre auch in einer Zeit, in der das Wort "Lauheit" ein schwerwiegender Vorwurf war, ­eher seltsam gewesen, aber er zählte doch vergleichsweise zu den Milden unter den Geistlichen: Zwar musste, wer als Glaubensflüchtling in Emden Zuflucht suchte, sich einer strengen Examination unterziehen; zwar musste Menno Simons, der friedliebende Täufer, auf sein Betreiben die Stadt verlassen, aber immerhin: Im Prinzip wurden Gruppen von Täufern in der Stadt geduldet.

Neun Jahre nach seiner Ankunft in Emden wurde a Lasco selbst zum Glaubensflüchtling: 1549 übernahm Ostfriesland das "Interim" Karl V., erlassen nach dessen Sieg 1547 über die Protestanten. Die Gräfin konnte ihren Reformator nicht mehr halten, a Lasco ging als Superintendent nach London. Für ihn eine fruchtbare Zeit. Doch auch die endete nach wenigen Jahren: 1553 bestieg Maria die Katholische den englischen Thron. Wieder musste a Lasco fliehen, zusammen mit 175 Glaubensgenossen. Die Fahrt über die winterliche Ostsee geriet für die Flüchtlinge zu einer Odyssee, weder das lutherische Dänemark noch Bremen wollte sie aufnehmen, am Ende landeten sie in Emden.

(Foto: kre)

An der Ems.

A Lasco war durch seine Erlebnisse nicht duldsamer geworden, im Gegenteil. Selbst mit seinem Freund Albert Rigaeus Hardenberg überwarf er sich, dabei hatte der ihn erst - so schrieb jedenfalls Hardenberg - 1537 vom evangelischen Glauben überzeugt. Nun hatte aber Hardenberg in den Fünfzigerjahren als Domprediger in Bremen notgedrungen in Abendmahlsfragen eine vermittelnde Haltung eingenommen; das nahm a Lasco ihm übel.

1561 musste er auf lutherischen Druck, ausgeübt unter anderem durch den dänischen König, Bremen verlassen. Seit 1567 Erster Prediger in Emden, starb er 1574 an der Pest. Ein Jahr später verkaufte seine Witwe seine Bibliothek an die Emder Gemeinde - für jene eine bedeutende Erweiterung.

Noch heute gehen eine Reihe der Kostbarkeiten der Bibliothek auf diesen Kauf zurück: Zum Beispiel findet sich da ein Löwener Druck eines Werkes des römischen Dichters Lukan von 1474, oder aber die "Einfaltigs Bedencken ..." des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied, der 1547 mit seinem Versuch scheiterte, Köln zu einer evangelischen geistlichen Herrschaft zu machen. Sein Bekenntniswerk soll gemeinsam von Melanchthon und Bucer geschrieben worden sein.

Kostbarer Bibliotheksbestand

Dies alles lasse ich mir bei meinem Besuch von dem wissenschaftlicher Leiter der Bibliothek erzählen. Der hört auf den klangvollen Namen Dr. J. Marius J. Lange van Ravenswaay und ist eine wuchtige Erscheinung mit grauer Mäh­ne und Spitzbart; sein Konterfei ließe sich zwanglos in eines der Gemälde einfügen, die die Notabeln aus der großen Zeit Emdens darstellen.

(Foto: Tomas Riel)

Blick in die Bibliothek.

(Foto: Tomas Riehl)

Bibliotheksanbau.

(Foto: kre)

Gefäß aus dem reichen Silberschatz der Kirche.

Noch bis Anfang der Neunzigerjahre war die Kirche, höre ich, eine aufgeräumte Kriegsruine, man hatte sich an sie gewöhnt, ohne sie etwa zu einer Gedenkstätte zu überhöhen. Dann aber entstand die Idee, sie wieder aufzubauen und einem neuen Zweck zuzuführen - nämlich dem, der altehrwürdigen Bibliothek hier ein neues Zuhause zu geben.

Der Motor des Unternehmens war Walter Schulz, Pastor der evangelisch-reformierten Kirche. Er setzte sich mit Einfallsreichtum und Werbekraft für das Unternehmen ein; 1995 stand die Kirche nebst Anbau. Schulze wurde Leiter der neu entstandenen Stiftung "Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden". Vielleicht hat ihn sein Erfolg beim Aufbau verführt, mit den Finanzen allzu gewagt zu jonglieren, jedenfalls war 2008 das Stiftungsvermögen fast aufgebraucht. Die juristischen Auseinandersetzungen darüber, ob und in welchem Maße Schulz dafür verantwortlich zu machen ist, laufen noch. Nur mit nachdrücklicher Hilfe der EKD und einiger Landeskirchen überlebte die Institution.

Finanzjongleur

Übrigens war die Bibliothek schon seit Ende des 16. Jahrhunderts öffentlich; es existiert ein handschriftlicher Katalog aus dem Jahre 1707. Doch das 18. Jahrhundert wurde dann für sie zu einer Zeit des Niedergangs. Die eigentliche Glanzzeit Emdens hatte mit dem Jahre 1566 begonnen: die spanischen Habsburger versuchten, die Niederlande mit Gewalt zurück zum Katholizismus zu führen. Daraufhin strömten so viele Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden nach Emden, dass die Stadt mehr Zuwanderer als Eingesessene beherbergte.Das führte zu einem unerhörten wirtschaftlichen Aufschwung, erst mit dem Dreißigjährigen Krieg ging es allmählich bergab.

1764 war ein schwarzes Jahr für die Bibliothek: es wurden bedeutende Schriften aus der Reformationszeit gestohlen, es folgte ein ins 19. Jahrhundert andauernder Dornröschenschlaf.

(Johannes a Lasco Bibliothek)

Bibelkonkordanz mit Krakauer Ledereinband und Wappen aus dem Besitz Johannes a Lascos.

(Johannes a Lasco Bibliothek)

Album Amicorum des Cornelis van der Myle.

(Johannes a Lasco Bibliothek)

Einband und Ikarusgeschichte, um 1660.

Wer die Kirche betritt, steht in einem dreischiffigen Raum, die mächtigen Ziegel blank, wie sie durch die Zerstörung freigelegt worden waren, der Dachstuhl eine neue Holzkonstruktion, die sich solide und leicht zugleich harmonisch mit den schweren Mauern verbindet.

Ein Blickfang: das erwähnte Grabmal Ennos II. in der Grablege der Cirksena. An den Wänden Gemälde, die die Meistererzählung Emdens wiedergeben: die Geschichte der Reformierten in Emden und dieser Kirche. Zum Beipsiel zwei Gemälde (1665 und 1669) von Alexander Sanders. Sie zeigen je eine Versammlung von - männlichen - Respektspersonen, versammelt um einen Tisch: die Vorstände zweier Diakonien, also Armenfürsorgen.

Diese Diakonien waren eine Besonderheit Emdens: es gab gleich mehrere von ihnen. So etwa die der "Hussittenden Armen" (für die Armen also, die zwar noch ein Haus besaßen, aber nicht einmal mehr die Einrichtung) oder die des "Gasthauses", einem Armen- und Obdachlosenhaus, in dem auch die Waisen untergebracht waren.

Erinnernde Lebendigkeit

Die eigentliche Bibliothek findet sich heute in einem modernen Anbau, der, ob von außen oder innen betrachtet, eine gelungene und organische Verbindung von Alt und Neu darstellt - das Ensemble ist auch eine Sehenswürdigkeit in architektonischer Hinsicht, nicht nur eine bedeutende Stätte für Veranstaltungen, Ausstellungen und Forschung.

Für die Reformierten aber, nicht nur für die hier im Norden, ist es der Ort, an dem sich lebendige Erinnerung und erinnernde Lebendigkeit verbinden. Wen es also nach Emden führt, der sollte auch in die Groote Kerk finden.

www.jalb.de: Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden

(Foto: kre)

J. Marius J. Lange van Ravenswaay.

(Foto: kre)

Bibliotheksraum.

Helmut Kremers

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