Mein Herz in der Nacht

Wie Schuld vergeben werden kann und Versöhnung möglich wird
Einer muss ja schuldig sein: Szene aus den Passionsspielen in Oberammergau. (Foto: Foto: epd/Michael McKee)
Einer muss ja schuldig sein: Szene aus den Passionsspielen in Oberammergau. (Foto: Foto: epd/Michael McKee)
Vier Schritte sind nötig, damit sich Täter und Opfer miteinander versöhnen können.

"Culpa", lautet die Überschrift über dem Hauptkommentar, den Volker Zastrow im November in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schrieb. Darin geht es um die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und dem Um­gang der dafür Verantwortlichen. Und am Schluss heißt es: "Am Ende läuft es immer darauf hinaus, dass die Institution wichtiger ist als der Einzelne, die Moral wertvoller als ein Mensch, die Kirche höher als der Christ. Und darf man das Wohl der Kirche einer Wahrheit opfern?

Wenn das die Alternative ist: ja. Man muss es dann sogar. Man muss die Wahrheit beim Namen nennen. Ihr Name ist: culpa." Das sitzt. Und genau das ist es, was Schuld kennzeichnet: Sie sitzt tief in uns. Sie lässt sich auf Dauer nicht verdrängen, sie lässt sich nicht einfach auslöschen. Denn sie ist allgegenwärtig, un­übersehbar wie das Culpa als Überschrift des erwähnten Kom­mentars.

Schuld als zentrale Lebensdimension

Das Erleben von Schuld ist eine zentrale Dimension des Lebens, auch wenn sich die Menschen sehr darin unterscheiden, welche Handlungen und Gedanken sie als Schuld empfinden. Schuld äußert sich als Bedrückt- und Verzweifeltsein, "häufig begleitet von Gefühlen der Scham und der eigenen Wertlosigkeit. Hinsichtlich der Intensität finden wir ein breites Spektrum, das von scheinbarer Unberührbarkeit bis zu schwersten, den betreffenden Menschen schier erdrückenden Schuldgefühlen reicht", stellt der Psychologe Udo Rauchfleisch fest.

Schuld kann aber nicht gleichgesetzt werden mit Schuldgefühlen. Echte oder ernst zu nehmende Schuldgefühle leisten einen wichtigen Beitrag zu unserem Schuldbewusstsein. Sie machen uns auf echte Schuld aufmerksam, darauf, dass wir etwas getan haben, was nicht in Ordnung war. So mögen wir uns schuldig gemacht haben, wenn wir betrügen, uns auf Kosten anderer bereichern, ein Versprechen nicht einhalten, anderen bewusst Unrecht oder Leid zufügen.

Die Fähigkeit, Schuldgefühle zu empfinden, ist ein Zeichen emotionaler Reife. Der berühmte Gewissensbiss ist dann Ausdruck eines funktionierenden inneren Kontroll­systems. Es macht darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt - und versagt bei Personen, denen die Empfindsamkeit für Schuldgefühle fehlt: Sie verhalten sich kriminell, ohne zu spüren, dass sie etwas Schlimmes tun.

Im Gegensatz dazu stehen krankhafte Schuldgefühle, die keine echte Schuld anzeigen. Wir reagieren auf eine überzogene oder unangemessene Weise mit Schuldgefühlen. Der Philosoph, Arzt und große Skeptiker Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) nennt diese Schuldgefühle "Peitschen von Moral, Politik und Religion, erfunden, um die Menschen daran zu hindern, glücklich zu werden".

Der Gewissensbiss - emotionale Kontrollfunktion

Wer auf diese Weise Schuldgefühle empfindet, ist oft in seiner Fähigkeit beeinträchtigt, sich vor schädlichen inneren und äußeren Beeinflussungen zu schützen. In einer solchen Situation muss das Ich, die Entwicklung eines eigenständigen Denkens, Fühlens und Handelns, noch gestärkt werden.

Wenn wir schuldig geworden sind, wird unsere Seele nicht ruhen, bis wir uns unserer Schuld stellen und Wege beschreiten, die uns von der Schuldenlast befreien. Dass wir uns ihr stellen, setzt voraus, dass wir mit unserer Schuld in Berührung sind, uns ihrer bewusst sind und sie annehmen.Schuld, die nicht wahrgenommen und angenommen wird, löst sich nicht einfach auf.

Sie bleibt uns erhalten. Die Schuld wird wie eine Last auf uns liegen. Sie drückt uns nieder, nagt an uns, spaltet und isoliert. Wir mögen ihr ein schönes Kleid anziehen und so tun, als gehöre sie nicht zu uns, wir mögen sie mit noch so vielen Rationalisierungen und Schönfärbereien zudecken, sie bleibt uns doch erhalten. Sie begegnet uns in unseren Träumen: "Auch mahnt mich mein Herz in der Nacht" (Psalm 16,7). Und Schuld liegt uns zuweilen schwer im Magen.

Im Aussprechen beginnt das Lossprechen

Nachdem man seine Schuld erkannt hat, zu ihr steht, sie als Tatsache annimmt, muss man sich zu ihr bekennen, vor allem und zunächst jenen, an denen man sich schuldig gemacht hat. Der Ehepartner entschuldigt sich zum Beispiel bei seinem Partner für seine Untreue. Er sagt ihm damit: Ich habe mich dir gegenüber falsch benommen, habe mich nicht an unsere Abmachungen, an mein Versprechen gehalten. Ich habe dich dadurch verletzt, dir Leid zugefügt.

Im Aussprechen und Bekennen der Schuld beginnt schon das Lossprechen. Denn dann spreche ich sie im wahrsten Sinne des Wortes aus mir heraus. Sie verliert damit schon etwas von ihrer niederdrückenden Last. Wenn ich zu meiner Schuld stehe, überlasse ich mich einer anderen Dynamik als bisher und lasse meine Schuld nicht länger einfach auf mir liegen wie eine Last. Ich kann dadurch verhindern, dass die Schuld weiter in mich einsickert und meine Gefühle, Gedanken, Empfindungen vergiftet oder die Beziehung zu anderen belastet.

Jetzt tritt deutlich zu Tage, wie man sich schuldig gemacht, wie man anderen oder sich selbst - materiell, seelisch, ideell - Schaden zugefügt, wie man durch seine Unwahrhaftigkeit das Vertrauen, das andere einem entgegenbringen - Partner, Kinder, Freunde, Kollegen, Geschäftspartner - beschädigt hat. Es wird erkennbar, wie man durch ein unverantwortliches Verhalten gegenüber seiner Umwelt, an seinen Mitmenschen und Nachkommen schuldig geworden ist, indem man mit dazu beigetragen hat, dass ihre Lebensbedingungen erheblich schlechter wurden.

Bedauern und Bereuen ist der nächste Schritt auf dem Weg der Befreiung von der Schuld. Was ich dem anderen angetan habe berührt, ergreift mich in meiner Tiefe. Nachdem ich meine Fehler bereut habe, geht es darum, hinzuschauen, welche Möglichkeiten ich habe, etwas wiedergutzumachen. Die Schuld soll durch eine Ausgleichshandlung aufgehoben oder gemindert werden.

Befreiung von Schuld

Dabei geht man davon aus, dass Schuld nicht nur etwas Innerpersönliches ist. Sie hat vielmehr immer auch einen Bezug zur Mitwelt und Umwelt, auch im weiteren Sinn, Natur und Schöpfung, der gegenüber wir uns ebenfalls schuldig machen können. Schuldbewältigung verlangt also mehr als eine Reinigung der Seele.

Oft ist es damit aber nicht so einfach, etwa bei gebrochener Treue oder Schaden an Leib und Seele, den ich durch Wort oder Tat anderen zugefügt habe. Dann ist es wichtig, das wiedergutzumachen, was geht, und das, was nicht wiedergutzumachen ist, der Güte Gottes zu überlas- sen - solange ich dabei mein Tun bedauere und wirklich bereue.

Wir müssen uns unserer Schuld stellen. Das Bekennen unserer Schuld, die Reue darüber und die Wiedergutmachung nehmen bei der Schuldbearbeitung eine wichtige Rolle ein, soll eine wirkliche Befreiung von der Schuld geschehen. Was nun die Vergebung betrifft, so will ich das vornehmlich aus der Sicht des Vergebenden näher aufzeigen, demgegenüber ich mich schuldig gemacht habe.

Dabei wird deutlich: Vergebung ist ein Prozess und ein Geschenk zugleich. Hinter ihm steht eine Dynamik, die von uns Menschen oft verlangt, über den eigenen Schatten zu springen.

Mit Vergebungsbitte erpresst

In Romanen, Fernsehfilmen und -serien begegnen uns immer wieder Situationen, bei denen einer der Protagonisten Freunde oder Familienmitglieder auffordert, diesem oder jenem zu vergeben: Da ist der Vater, der nicht mehr lange zu leben hat und seinen Sohn, der sich mit seiner Ehefrau zerstritten hat, bittet, ihr zu vergeben - ihm zuliebe. Man kann nie in das Herz eines Menschen schauen, aber hier bleibt oft auch der Eindruck, dass die andere Person mit der Vergebungsbitte fast erpresst wird. Das aber wird in der Regel nicht zu einer wirklichen Vergebung führen.

Auf dem Weg zur Versöhnung lassen sich vier Schritte unterscheiden. Der erste Schritt besteht darin, den Schmerz nochmals zulassen, ihn nicht zu überspringen. Der zweite Schritt heißt, die Gefühle wie Wut, Trauer und Enttäuschung zuzulassen. Der dritte Schritt verlangt, objektiv zu betrachten, was sich abgespielt hat, warum es so war, wie es war. Wie groß ist der Schaden, der uns zugefügt wurde, wie schwer wiegt er? Wo und wie wirkt sich die Verletzung aus?

Prozess und Geschenk

Soll Schuld wirklich vergeben werden, muss sie in ihrem ganzen Ausmaß und ihrer Auswirkung erkannt, benannt und erfasst werden. Sonst bleibt sie oberflächlich oder partiell, schließt nicht alles ein, was durch das schädigende Verhalten verletzt worden ist. Damit Vergebung wirklich stattfinden kann, ist es wichtig, dem anderen nicht nur oberflächlich zu vergeben, sondern aus der Tiefe des Herzens heraus. Das aber kann lange dauern. Wenn es soweit ist, kommt als vierter Schritt die Vergebung als Akt der Befreiung: Ich befreie mich von dem, der mich verletzt hat.

Sehr eindrucksvoll beschreibt den letzten Schritt Eva Moses Kor. Sie war zehn Jahre alt, als sie 1944 mit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester Mirjam nach Auschwitz verschleppt wurde. Dort begegnete sie Josef Mengele, Arzt im Vernichtungslager und überzeugter Anhänger der Rassenlehre. Im Jahre 1993 veröffentlichte Eva Kor eine Erklärung, in der sie ihren Peinigern vergab.

Die Fähigkeit zu vergeben verleihe ihr, dem Opfer, ein Gefühl der Macht über die Täter. Sie fühle sich dem Schmerz, den keiner nachholen und keine gesetzliche Gerechtigkeit ändern könne, nicht hilflos ausgeliefert. "Kein Opfer hat darum gebeten, Opfer zu sein. Niemand verdient es. Vergebung ist ein Geschenk der Befreiung von den Schmerzen der Vergangenheit. Ich verstehe, dass es auch ein Geschenk an den Täter sein kann. Aber den Schmerz zu ertragen hilft mir doch in keinem Fall weiter."

Seitdem sie vergeben habe, lebe sie wie befreit, sagt Eva Kor. In der Vergebung steckt eine Dynamik, von der eine Bewegung nach vorne ausgeht. Ich gehe einen Schritt auf den anderen zu, nachdem ich losgelassen, freigegeben habe, was mich bisher - verständlicherweise - davon abgehalten hat. Ich tue das dann aber aus freien Stücken. Ich gebe dem anderen etwas, schenke ihm meine Vergebung, werde zum Geschenk für ihn.

Auch Mengele vergeben

Natürlich können wir an unseren Verletzungen festhalten. Das aber ist auf Dauer selbstzerstörerisch. Wollen wir das ändern, müssen wir vergeben können. Und das setzt voraus: Wir müssen mit dem auf die gleiche Ebene kommen, der uns verletzt hat, ohne dass ein Ausgleich für das uns zugefügte Unrecht erfolgt. "Vergebung setzt die Energie frei, die vorher davon verzehrt wurde, dass Groll und Verbitterung gehegt und offene Wunden gepflegt wurden", betont die Psychologin Suzanne Simon. "Sie lässt die Stärken wieder hervorkommen, die wir schon immer hatten, und lässt uns unsere grenzenlose Fähigkeit wieder finden, andere Menschen und uns selbst zu verstehen und anzunehmen."

So kann Vergebung zu einem befreienden Geschenk wer-den, das wir uns selbst machen können. Dabei ist es wichtig, dass wir in aller Freiheit entscheiden, wann der Zeitpunkt für Vergebung gekommen ist. Denn zuvor müssen in der Regel alle Gefühle zugelassen werden, die mit dem einhergehen, was uns zugefügt wurde. Das heißt: Ich halte einen Platz in meinem Herzen frei für die Vergebung. Und wenn sie kommen möchte, heiße ich sie willkommen.

Vergebung lebt von der Hoffnung, dass an die Stelle von Hass und Hartherzigkeit, die Verletzungen verursacht haben, Versöhnung treten, dass also ein Wunder geschehen kann und Heilung möglich ist. Ohne die harte Arbeit, die mit Vergebung einhergeht, zu unterschätzen: man sollte auch die Macht Gottes nie unterschätzen, die dazu beitragen kann, dass Vergebung geschieht - wohlwissend, dass wir Menschen die Ak­teure der Vergebung sind.

Vergebung lebt von Hoffnung

Vergebung baut darauf, dass wir uns nicht damit zufrieden geben, für immer aus der Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, mit unserer Umwelt, mit Gott herauszufallen. So ist Vergebung "ein anderer Name für Liebe in einer unvollkommenen Welt unvollkommener Liebhaber", wie es der Theologe Henri Nouwen ausdrückt.

Von den Begriffen "Schuld" und "Vergebung" geht also bei allem Schweren, das ihnen anhaften mag, etwas Befreiendes aus. Es ist die Botschaft: Was von Gott kommt, ist Erlösung und Vergebung, nicht Knechtschaft und Vergeltung. Das aber ist eine Botschaft, die uns aufrichtet, die uns aufatmen und befreit leben lässt. Von dieser Botschaft geht ein Schwung aus, der uns ermutigt, nicht in Angst zu verharren, sondern mit Zuversicht und Freude zu leben - erlöst, befreit, von Gott beschwingt und in Schwung gehalten. LITERATUR Wunibald Müller: Schuld und Vergebung. Befreit leben. Verlag Herder, Freiburg 2010, 144 Seiten, Euro 7,95.

Dr. Wunibald Müller ist katholischer Theologie und Psychologe aus Münsterschwarzach.

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Wunibald Müller

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