Mut zum Leben

Wie das Sich-Erinnern gut tut
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Es ist wichtig, gelebtes Leben mit seinem ganzen Reichtum zu würdigen und dabei keinerlei Erfahrungen auszusparen - auch nicht die des Scheiterns oder des In-die-Irre-Gehens.

In ihrem neuen Buch widmet sich die schweizerische Psychotherapeutin Ve­rena Kast dem Stichwort "Lebensrückblick". Sie will dabei deutlich machen, wie wichtig es ist, gelebtes Leben mit seinem ganzen Reichtum zu würdigen und dabei keinerlei Erfahrungen auszusparen, auch nicht die des Scheiterns oder des In-die-Irre-Gehens.

Wer nüchtern und respektvoll mit seiner Biographie umgeht, erhält nach Kast die Chance, Pfeiler der eigenen Identität (wieder) zu entdecken, darzustellen und so Selbstvergewisserung zu erlangen. Lebensrückblicke haben nicht zuletzt deshalb eine dem Leben dienliche, letztlich therapeutische Wirkung.

Narrative Biographie

Sie können Mut zum Leben machen und für die letzte Lebensphase erzeugen - beides unabhängig davon, ob sie als "Lebensrückblickstherapien" innerhalb eines ge­nuin therapeutischen Settings erfolgen oder als "nachdenkliches Sammeln von Erinnerungen" im Alltag.

Einen besonderen Stellenwert in Kasts Publikation besitzen die Ausführungen zur narrativen Biographie. Sie vergegenwärtigen mit Hilfe gesprochener Beispiele die Tatsache, dass Lebensgeschichte durch Erzählen entwickelt und gestaltet wird und dass sie ebenso von Erinnerungen an Früheres lebt wie von Vorstellungen, die in die Zukunft weisen.

Dabei werden bestimmte Erzählmuster voneinander unterschieden, die Lebensgeschichte positiv oder negativ konnotieren: Wer in erster Linie "(Er-) Lösungsgeschichten" erzählt, produziert eine "Freudenbiographie". In ihr kommen vor allem erinnerte Glückserfahrungen und Dankbarkeitsgefühle zum Tra­gen. Wer dagegen auf schmerzliche "Erinnerungsnester" eingeht, bringt "Kon­taminationsgeschichten" hervor. Sie rücken immer wieder neu Bedrängendes und Bedrückendes in den Mittelpunkt und reduzieren auf diese Weise Lebensenergien.

Schmerzliche Erinnerungsnester

Um Letzteres weitestgehend auszuschließen, erscheint es Kast sinnvoll, nach "Abrufsituationen für eigene Erinnerungen" zu suchen, wie Elternworte, Lebensmottos oder Metaphern, die bestimmte Bildfelder erschließen und aufbauend und stärkend wirken. Auf diese Weise können Geschichten erzählt werden, mit deren Hilfe Menschen gut und mitunter sogar besser leben als bisher.

Aus "negativer Kontamination" wird so eine "positive Selbstansteckung", die lebensförderlich wirkt. Die damit verbundene Wandlung kann auch bei der Deutung von Träumen als "inneren Netzwerken" helfen. Sie bietet unter Umständen eine Basis dafür, grundsätzlich vorhandene Entwicklungsmöglichkeiten neu zu entdecken oder sich ihrer zu erinnern. Wo das der Fall ist, kann eine "traumhaft erschienene" Hoffnung auf Veränderung wirklich werden.

Dies betonend versäumt Kast allerdings nicht den Hinweis, dass es in zahlreichen (Er-)Lebenskontexten vielfältige "Entdeckungs- oder Erinnerungshemm­nisse" gibt, die Wandlung und Ver­änderung erschweren. Sie nennt durch Beschämung hervorgerufene "Schamgefühle" und "Schamabwehr", die sich durch Schamlosigkeit oder eine übermäßige (vermeintliche) Schamakzeptanz zeigt, sowie "Perfektionismus" als Herausforderung zur Schattenexistenz und „Schuldgefühle“, die mit Verdrängung und Projektion einhergehen.

Wo sich diese oder ähnliche Störungen ausbreiten, kann eine einfache, selbstgesteuerte Alltagserinnerungsarbeit - wenn überhaupt - nur noch bedingt helfen. Erforderlich werden stattdessen komplexe therapeutische Maßnahmen, wie sie die von Kast entwickelte Lebensrückblickstherapie für ältere Menschen vorsieht.

Reichtum menschlichen Lebens

Dass zu dieser am Ende des neuen Buches nur "Kernüberlegungen" und ein paar kurze Praxisbeispiele erwähnt werden, kann man kritisieren.

Das Schlusskapitel kann dagegen als eine im wahrsten Sinne des Wortes "weiterführende" Beigabe angesehen werden, die Lust auf Mehr hervorrufen soll und auch kann.

Es bereichert als solche die vorhergehenden Ausführungen, die auch nicht psychologisch und therapeutisch Geschulten verständlich und anschaulich vermitteln: Erinnerung gehört zum Reichtum menschlichen Lebens und kann dazu beitragen, Lebensgeschichte(n) abzurunden und so zu bereichern.

Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau 2010, 180 Seiten, Euro 18,95.

Martina Plieth

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