Von mutig bis vage

EKD und Gesundheitspolitik: Der neuen Denkschrift fehlt die Tiefenschärfe
Wer kommt wann dran? Die Debatte um Priorisierung wird unausweichlich sein. Foto: dpa/chromorange/Peter Widmann
Wer kommt wann dran? Die Debatte um Priorisierung wird unausweichlich sein. Foto: dpa/chromorange/Peter Widmann
In Teilen ist sie mutig, dann auch wieder unpräzise und vage: Der Bonner Sozialethiker Hartmut Kreß beschreibt, was ihm an der neuen EKD-Denkschrift zur Gesundheitspolitik aufgefallen ist.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat im Oktober 2011 eine Denkschrift veröffentlicht, die ein Schlüsselthema der Innenpolitik betrifft, nämlich die Gesundheitspolitik. Dem Untertitel zufolge behandelt die Denkschrift "aktuelle Herausforderungen". Sie beschreibt Strukturprobleme des Gesundheitssystems, kritisiert überbordende Ökonomisierungen, wendet sich gegen das Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen und weist auf Versorgungsmängel in der Pflege hin. Wie andere Analysen hält sie den demographischen Wandel und die Kostensteigerungen durch medizinischen Fortschritt für wesentliche Ursachen der aktuellen Probleme. Ferner befasst sie sich mit der Rolle von Ärzten. Ganz zu Recht betont sie, dass Ärzten zusätzlich zur fachgerechten medizinischen Behandlung heute die Aufgabe zuwächst, ihre Patienten human zu begleiten und ihnen beratend zur Seite zu stehen. Die Ärzteschaft selbst und die Medizinethik sprechen von der Notwendigkeit einer "sprechenden" oder einer "patientenzentrierten" Medizin und haben hierzu inzwischen wegweisende Gesichtspunkte entwickelt. Es ist zu begrüßen, dass die EKD den Anschluss zu gewinnen versucht. Sie hat dieses Thema in ihrer Denkschrift freilich nicht vertieft und darauf verzichtet, Kriterien des ärztlichen Gesprächs oder die Finanzierung von Beratungsgesprächen zu erörtern.

In ihren theologischen Erwägungen bleibt die Denkschrift teilweise vage und zu schlagwortartig, etwa bei ihrem Ruf nach mehr Spiritualität oder ihrem Plädoyer für Salbungsgottesdienste. In assoziativer Form deutet sie Gesundheitspolitik im Licht einer "Option für die Armen". Dieser aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie stammende Begriff ist aber nicht geeignet, das Problemspektrum der Gesundheitspolitik treffsicher zu erfassen. Dennoch stellt die Denkschrift zumindest innerkirchlich einen Fortschritt dar. Sie geht in bestimmter Hinsicht über frühere kirchliche Voten hinaus. Denn sie akzeptiert es, dass der Gesundheitsschutz und die gesundheitliche Versorgung in der Gegenwart den Rang eines Grund- oder Menschenrechtes erlangt haben. Es war überfällig, dass ein kirchlicher Text diese Einsicht aufgreift. Das Grundrecht auf Gesundheitsschutz, das verfassungsrechtlich hohen Rang besitzt und sich in den einschlägigen Menschenrechtskonventionen findet, ist von den beiden großen Kirchen in der Vergangenheit immer wieder an den Rand gerückt worden. Stattdessen betonten sie, Gesundheit dürfe nicht überhöht und nicht zur neuen Religion erhoben werden. Diese Abgrenzung kehrt auch in der jetzigen EKD-Denkschrift wieder.

Trotzdem drang sie dazu vor, den Gesundheitsschutz als Menschenrecht zu bezeichnen. Sie übergeht dann jedoch wichtige Einzelaspekte. Zum Beispiel klammert sie aus, dass das Grundrecht auf Gesundheitsschutz neben der körperlichen die psychische Gesundheit einschließt. Überhaupt fällt an der Denkschrift auf, dass sie nicht auf den Besorgnis erregenden Anstieg psychischer Krankheiten zu sprechen kommt, auf den die neuere medizinische Forschung aufmerksam macht.

Sinnvoll ist es, dass sich die EKD dem Zusammenhang von Gesundheit und Gerechtigkeit widmet. Ihr liegt an der Idee der Teilhabe-, Partizipations- oder Befähigungsgerechtigkeit. Es gilt, Menschen in die Lage zu versetzen, sich mit gesundheitsbezogenen Fragen so selbstbestimmt und eigenverantwortlich wie möglich auseinandersetzen zu können. Diese Konzeption der Befähigungsgerechtigkeit geht wesentlich auf den Ökonomen Amartya Sen und die Philosophin Martha Nussbaum zurück. Die Denkschrift hätte die beiden Namen eigentlich ausdrücklich nennen sollen. Mit dem Sachproblem selbst, nämlich der alltagspraktischen Umsetzung von Befähigungsgerechtigkeit durch die Gesundheitspolitik, befasst sich die Denkschrift nur in allgemeiner Form. Konkret wäre zum Beispiel zu durchdenken gewesen, dass und wie schulische Gesundheitserziehung dazu beitragen kann, Menschen darauf vorzubereiten, mit Krankheit und Gesundheit eigenverantwortlich umzugehen. Es wäre nützlich gewesen, wenn die EKD sich explizit dafür eingesetzt hätte, dem Thema "Gesundheit" in den Schulen einen festen institutionellen Platz zu verschaffen. Letztlich ist dabei auch an ein Schulfach Gesundheitskunde zu denken.

Angedeuteter Systemwechsel

Manche Punkte spricht die Denkschrift eindeutiger an. Sie greift das Anliegen auf, Krankheiten nicht nur nachsorgend zu behandeln, sondern ihnen vorzubeugen. Dies kann durch das persönliche Verhalten der einzelnen Menschen (Verhaltensprävention) sowie durch die Verbesserung gesellschaftlich-struktureller Rahmenbedingungen, das heißt durch die Beseitigung gesundheitsschädlicher sozialer oder ökologischer Verhältnisse erfolgen (Verhältnisprävention). Die EKD urteilt, dass die Möglichkeiten der Verhaltensprävention gegenwärtig so gut wie ausgereizt seien. Die staatliche Politik solle sich daher "für einen gewissen Zeitraum", und zwar für "zum Beispiel fünf Jahre", auf Verhältnisprävention konzentrieren. Nun fragt man sich allerdings, wie die Frist "fünf Jahre" zustande kommt und an welche Maßnahmen die EKD genau denkt. Als Beispiel für Verhältnisprävention wird in dem betreffenden Abschnitt (Nr. 111) lediglich auf Unfallprävention durch "Straßenschwellen und Leitplanken" hingewiesen.

Einen Kern der Denkschrift bilden ihre Thesen über das Verhältnis von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Die Denkschrift beschreibt die Probleme beider Systeme und hält deren Nebeneinander für ungerecht und ineffizient. Daher fordert sie einen Systemwechsel. Der EKD schwebt offenbar vor, die privaten Krankenversicherungen dem gesetzlichen System gänzlich anzugleichen (Nr. 141). Sie bezeichnet dies als "Konvergenz" beider Systeme. Erneut bleibt es aber bei Andeutungen. Von einer Denkschrift hätte man erwartet, dass sie für einen solchen Systembruch beziehungsweise Systemwechsel Umsetzungsgesichtspunkte nennt, die angestrebten neuen Strukturen beschreibt, deren Vorzüge gegenüber dem Ist-Zustand schlüssig aufzeigt und sich zum Beispiel auch zu Bestandsschutz- und Übergangsregelungen äußert. Stattdessen bringt die EKD einen anderen Punkt mit Nachdruck zur Sprache. Sie hebt hervor, dass für die Beiträge zu Krankenversicherungen auch auf "andere Einkommensarten" zugegriffen werden "muss" (Seite 22). Als Modell denkt die EKD wahrscheinlich an die Kirchensteuer mit ihrem Rückgriff auf Kapitalerträge und Zinseinnahmen. Jedoch fehlen Präzisierungen und Rechenmodelle.

Politisch brisant ist eine weitere Forderung der EKD. Sie empfiehlt, der ungesteuerten Zweiklassenmedizin sowie den Finanzierungsengpässen des Gesundheitssystems entgegenzuwirken, indem bei der Zuteilung medizinischer Leistungen an die Patienten eine Rangfolge eingehalten wird und bewusst Prioritäten gesetzt werden ("Priorisierung"). Diese Empfehlung ist berechtigt, und sie ist mutig. Die EKD begibt sich hiermit in scharfen Gegensatz zu dem Standpunkt, den Spitzenrepräsentanten der Gesundheitspolitik und des Gesundheitsministeriums vertreten. Indessen sollte man nicht verschweigen, dass die Priorisierung eine Kehrseite besitzt, nämlich die Posteriorisierung. Das heißt, manche Patienten werden bestimmte medizinische Leistungen erst nachrangig, mit Einschränkungen und mit Verzögerungen erhalten können. Hiermit hätte sich die Denkschrift, auch im Licht ihres eigenen Leitbilds der Solidarität, präziser auseinandersetzen sollen. Priorisierungen beziehungsweise Posteriorisierungen werden im Gesundheitssystem in Zukunft zwar unvermeidbar sein. Die Denkschrift hätte sich dieser sensiblen Thematik aber mit größerer Tiefenschärfe widmen können. Es ist zu bedauern, dass sie zu zahlreichen relevanten Fragen nur Andeutungen enthält.

Hartmut Kreß

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