Protest und Zauberstab

Egon Eiermanns Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wird 50 Jahre alt
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In unserer vergangenen Ausgabe fanden Sie einen Beitrag von Natascha Gillenberg über die Gedächtniskirche, der sich in erster Linie der Gemeinde widmete. Hier nun steigt Wilhelm Hüffmeier, Altpräsident des Kirchenamtes der UEK, tiefer in die Historie des Kirchenbaus ein.

Touristen suchen die Gedächtniskirche! titelte dieser Tage der Berliner Tagesspiegel. Nicht wegen der bedrängenden Nachbarschaft des neuen, fast 120 Meter hohen "Zoofensters". Die Gedächtniskirche ist von der Hardenberg- und der Tauentzienstraße oder vom Kurfürstendamm aus nach wie vor gut zu sehen. Das Problem der Touristen ist die Einkleidung der Turmruine der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die monströse Abdeckung aus Acrylglas und Aluminium hat den "hohlen Zahn", wie ihn der Volksmund genannt hat, scheinbar in ein riesiges Plattenbau-Bürohaus verwandelt.

Die Unsichtbarkeit der Turmruine ist auch ein Problem der Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der - wenige Monate nach dem traumatischen Mauerbau - am 17. Dezember 1961 in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, und des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmeier vom damaligen Berliner Bischof Otto Dibelius eingeweihten "neuen" Gedächtniskirche. Aber die Gemeinde versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Seit Beginn der dreimonatigen Jubiläumsfestivitäten am Erntedanktag werden Führungen auf das Baugerüst hinter der Acrylglasfassade angeboten. Die Kosten der Ausbesserungsarbeiten am Turm belaufen sich auf 4,2 Millionen Euro. Über 1,3 Millionen wurden in weniger als drei Jahren durch Spenden aufgebracht. Inzwischen nutzt man den Schwung aus der Kampagne "Rettet den Turm" für die anstehende Sanierung der Eiermannbauten. Das Spendensammeln ist ebenso zu einer Daueraufgabe geworden wie die Einrichtung des Touristenmarktes rund um die Gedächtniskirche. Zusammen mit dem Souvenirverkauf im Bereich der Turmruine stärkt der Markt die Gemeindefinanzen und sorgt für Ordnung und Sicherheit auf der früher als Treffpunkt alternativer Jugendlicher konfliktträchtigen Kircheninsel.

Es war die geniale Synthese von Ruine und Neubau, die die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche des Stararchitekten Egon Eiermann zu einem der Hauptwerke der deutschen Nachkriegsmoderne und gleichzeitig zum Symbol eines Neuanfangs ohne Verdrängung machte. Das neue Bauensemble mit dem achteckigen Kirchgebäude, dem sechseckigen Glockenturm und der viereckigen Kapelle nimmt den kriegsversehrten Turm der zwischen 1891 und 1895 nach Plänen des Architekten Franz Heinrich Schwechten im spätromanischen Stil errichteten und am 22. November 1943 durch einen Bombenangriff schwer getroffenen alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in die Mitte. Ein hoch aufgerichtetes Mahnmal wird so zum Zeichen der Erinnerung an Krieg, Zerstörung und Leiden.

Die guten alten Zeiten

Nicht wenige, darunter der 1880 geborene Otto Dibelius, deuteten das Zeichen des Ruinenturms freilich anders: als Erinnerung an die guten alten Zeiten des Kaiserreichs. Die alte Gedächtniskirche, zumal das nur leicht beschädigte Innere ihres Turmraums, war und ist ganz dem Gedenken an die Hohenzollerndynastie und ihrer Frömmigkeit gewidmet, allen voran dem ersten deutschen Kaiser, Wilhelm I., zu dessen Gedächtnis die Kirche gestiftet worden war. Sein Enkel, Wilhelm II., hatte den vom Evangelischen Kirchbauverein, einer Gründung seiner Frau Auguste Viktoria, initiierten und im ganzen Kaiserreich begrüßten Kirchbau von der Planung bis zur Vollendung der Mosaiken des Kirchraums im Jahr 1906 persönlich begleitet. Dibelius war es denn auch, der allen Bestrebungen nach dem Krieg, den Namen der Kirche zu ändern, widersprach: "Die Kirche wechselt nicht die Gestalten ihrer Dankbarkeit."

Eingezeichnet in die Geschichte der alten Gedächtniskirche ist überdies ein markantes Stück der Zeit der Bekennenden Kirche. In der Wohnung des langjährigen Pfarrers an der Kirche und späteren Oldenburger Bischofs Gerhard Jacobi wurde am 11. September 1933 im Beisein von Martin Niemöller der berühmte Pfarrernotbund gegründet, dem bis Ende September bereits etwa 2000 Pfarrer, unter ihnen auch Dietrich Bonhoeffer, beitraten.

Die bis zuletzt architektonisch umstrittene, doch schließlich baulich und geschichtlich überzeugende Synthese der neuen Gedächtniskirche war das Resultat eines über zehn Jahre währenden kontrovers geführten Prozesses. Die verkehrstechnisch ungünstige Lage der Kirche hatte zusammen mit Architekturkritik schon während der Weimarer Republik zu Beanstandungen, ja Abrissforderungen geführt. Ähnliches wiederholte sich nach der Zerstörung hinsichtlich der Ruine. Dagegen konnten die Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Bauherr und die Kirchengemeinde sich freilich behaupten. Aber Versuche, die alte Kirche nach 1945, und sei es in Formen des Notkirchenbaus von Otto Bartning, ganz wieder herzustellen oder doch wenigstens in Teilen zu erhalten, scheiterten allesamt.

Aufgrund eines Wettbewerbs hatte eine Kommission unter Vorsitz des Architekten und Olympiastadionerbauers Werner March im März 1957 den Entwurf von Egon Eiermann als "ausführungswürdig" prämiert. Er sah jedoch den Erhalt der Turmruine nicht vor. Eiermann wollte den Turm nicht zu neuem Leben erwecken. Vielmehr sollte das von allen Seiten über Stufen zu erreichende Plateau der Kircheninsel auf dem Breitscheidplatz mit Trümmersteinen des Vorgängerbaus gepflastert werden. Die "Grabplatte der zerstörten Kirche" hatte Eiermann als Podium für einen Neubau vorgesehen. Der gegen diesen Entwurf aufbrausende Proteststurm in Westberlin war gewaltig. Die Presse griff die in Tausenden von Briefen an die Gemeinde und Zuschriften an Zeitungen ventilierte Empörung aus Anhänglichkeit an die alte Kirche und Erinnerung an den furchtbaren Krieg sofort auf. Der Tagesspiegel inszenierte eine Art Plebiszit, in dem sich über 90 Prozent der 11.737 Leser für den Erhalt der Ruine aussprachen. Dem folgte alsbald das Kuratorium der Stiftung. Und Eiermann selber erklärte angesichts des Protests: "Sollte sich durch die spontane Haltung der Berliner die Aufgabe ändern, so ändert sich auch die Lösung."

Nach eingehendem Studium historischer Bauten Italiens, zum Beispiel in Pisa und Florenz (Dom und Baptisterium), sowie Besichtigungen anderer Symbiosen von Kriegsruinen und kirchlichen Neubauten wie in der Kathedrale von Coventry fand Eiermann seine Ensemble-Lösung. Eiermann selber kommentierte das Ergebnis so: "Es ist also nicht mehr der von mir immer gefürchtete Dualismus neue Kirche - alter Turm, sondern es ist jetzt ein Spiel des Neuen um den alten Turm." Und gegenüber dem damaligen Bausenator Rolf Schwedler bekannte er nun, dass der Breitscheidplatz ohne den alten Turm ein geschichtsloser Platz wäre, sein Konzept für die Gedächtniskirche also mit dem Turm stehe und falle.

Was Eiermann aufgrund des Protests gelang, hat der frühere Vizepräsident der EKU-Kirchenkanzlei, Oskar Söhngen, in seiner Predigt zur Einweihung der Kapelle im Ostteil der Kircheninsel auf dem Breitscheidplatz am 30. November 1963 treffend so ausgedrückt: "Es muss nur einer kommen, der den Zauberstab besitzt, mit dem sich die Sehnsucht nach dem Heiligtum wecken und zum Ziel bringen läßt. Und das ist gewiss das Merkwürdigste ...: dass dieser Zauberstab heute in die Hand des begnadeten Architekten gelegt ist." Für den Bau der Kapelle hatte auch die Evangelische Kirche der Union Mittel bereit gestellt. Die Kapelle diente lange Zeit dem Westberliner Teil der Domgemeinde als Kirchraum.

Söhngen bezog sich allerdings nicht so sehr auf das Äußere der neuen Gedächtniskirche. Eiermann war auch entscheidend an deren Innengestaltung beteiligt, angefangen von der großen Orgelempore über die Bestuhlung für etwa neunhundert Personen, den Altar, die Taufschale und die Kanzel bis hin zu den Altarleuchtern und dem Kreuz an der Altarwand. Dabei hat er sich nicht überall durchsetzen können. Für die Wand über dem Altar war von ihm ein filigranes, lichtdurchströmtes Kreuz entworfen worden. Auf Betreiben von Otto Dibelius wurde dann aber jene überlebensgroße goldene Christus-Skulptur über einem kleineren Altarkreuz aufgehängt. Ihre horizontal ausgebreiteten Arme deuten zwar in der Segensgebärde das Kreuz an. Durch ihr "Schweben" und die Farbe ihres Tombakmaterials weist die Figur aber stärker noch auf die Auferstehung hin.

Eiermann blieb jedoch ablehnend. Ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1970 hat er bitter geäußert: "Es gibt keinen goldenen Christus und erst recht keinen vergoldeten." War ihm nicht bekannt, dass Gold die Farbe der Ewigkeit ist? Viele Besucher der Gedächtniskirche jedenfalls schätzen die Christusfigur als Konzentrierung der Blicke im weiten Kirchraum auf dessen geistliches Zentrum. Beim Rundgang durch das Gesamtensemble erschließen sich nahe und fernere Spiegelungen dieses Zentrums - in der Kirche neben der Orgelempore eine Bronzetafel zum Gedenken an die evangelischen Märtyrer der Jahre 1933 bis 1945, daneben das Bild der "Madonna von Stalingrad" von Kurt Reuber und eine Madonnenikone aus Wolgograd, in der Turmruine die aus der alten Gedächtniskirche erhaltene Christusstatue mit dem Nagelkreuz von Coventry rechts und dem Ikonenkreuz links daneben, Geschenke aus England und Russland. Eiermann selber richtete nach dem tiefen Dissens mit Dibelius nun seine Hoffnungen ganz auf die Kapelle. Deren Altartryptichon mit einer Zeichnung Ernst Barlachs hat er ebenfalls entworfen.

Goldener Christus

Sehr viel einvernehmlicher gestaltete sich die Ausführung der doppelschaligen Wände der Kirche aus Glassteinen mit ihren intensiven Blautönen, die ins Goldgelbe, Grüne und Rubinrote changieren. Im Zwischenraum von Außen- und Innenwand sind Flächenstrahler installiert, die die Betonglaswände an bedeckten Tagen nach innen, vor allem aber nachts nach außen leuchten lassen sollen. Hierfür war Gabriel Loire, ein Meister der Betonglastechnik aus Frankreich, gewonnen worden. Insofern wohnt der Gedächtniskirche auch eine deutsch-französische Kooperation inne. Für die Innenwirkung der Kirche kann die "Suggestion der leuchtenden Wände" nicht hoch genug veranschlagt werden. Martin Germer, seit 2005 Pfarrer an der Gedächtniskirche, bekennt wohl stellvertretend für viele, dass "in der Kirche sitzen und das Licht durch diese Fenster zu erleben" zu den schönsten Momenten seines Lebens mit dieser Kirche gehöre.

Mit der Sakristei, die westlich an den großen Kirchbau angeschlossen ist, kam es anders als gedacht. Aus diesem "Anbau" wurde bald nach der Einweihung im Jahr 1963 jenes "Foyer", das als Ort niedrigschwelliger Begegnungen von Kirche und Welt seine Bedeutung gewann und das von der Berliner Stadtmission betreut wird. Dazu sind Räume für seelsorgerliche Gespräche und ein Lesesaal eingerichtet. In neuerer Zeit fand hier eine der Berliner Kircheneintrittsstellen ihren Platz.

Die Gedächtniskirche mit ihren etwa 3200 Gemeindegliedern ist trotz des großen Gemeindekindergartens keine Trau- und Taufkirche. Aber sie ist wie der Berliner Dom Citykirche, Kirche für ganz Berlin, ja, für die weite Welt. Vielen verstorbenen Prominenten wie Hildegard Knef, Harald Juhnke, Gunter Pfitzmann wurde hier - seien sie Mitglied der Kirche, seien sie es nicht gewesen - die Trauerfeier gehalten. Die Gemeinde hat dafür feste Kriterien beschlossen. Aber es sind eben vor allem die Berlintouristen aus aller Welt, die den Turm der alten Gedächtniskirche mit seiner Ausstellung zur Geschichte der Kirche und seinen Hohenzollernmosaiken besuchen und an den täglichen Andachten oder an den sonntäglichen Gottesdiensten in der neuen Kirche teilnehmen. Deshalb ist es so bedeutsam, dass sie die ganze Gedächtniskirche, Westberlins heiß erkämpftes und weltweit bekanntes Wahrzeichen, auch finden und nicht nur das sehen, was der Volksmund etwas despektierlich "Lippenstift" und "Puderdose" genannt hat.

LITERATUR

Egon Eiermann - Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Berlin 1961/2011, hrsg. von Kai Kappel und der evangelischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchengemeinde Berlin, Lindenberg 2011, ca. 80 Seiten, ca. 50 Abbildungen, Euro 9,80.

Wilhelm Hüffmeier

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