Ort der Träume
Es ist eine Situation, die sich wiederholt, solange ich denken kann. Ob vor oder nach der Wende, ob ostdeutsch, westdeutsch oder gar nicht deutsch: Sobald ich erzähle, dass ich von einer Insel stamme, bekommt mein Gesprächspartner runde Augen, legt den Kopf ein wenig schief und seufzt: "Hach." Eine Ausnahme bildet nur der seltene Fall, dass besagtes Gegenüber ebenfalls von einer Insel kommt. Das wiederum führt dann mit gleicher Gewissheit zu spontaner Verbrüderung. Wo das heimatliche Eiland liegt, ist dabei erstaunlich unerheblich. Insulanersein verbindet über Ozeane und Klimazonen hinweg. Wir sind eben ein überschaubares Trüppchen.
Meine Insel heißt Rügen und liegt auf der Liste der größten Inseln ungefähr bei Platz 350. Gemessen daran, dass es vermutlich hunderttausende Inseln weltweit in Meeren, Flüssen und Seen gibt - Griechenland und Indonesien haben allein schon über 20.000 davon -, ist das fast eine Spitzenposition.
Kontinente sind laut Definition keine Inseln. Das liegt auf der Hand, andernfalls müsste man nämlich zwangsläufig die Frage stellen, was überhaupt auf unserer zu Dreivierteln von Wasser bedeckten Erde Festland sein soll. Ohne uns dessen ständig gewahr zu sein, leben wir auf Massiven, Geschiebehaufen, Vulkanhöhen, die aus dem Wasser hervorragen und uns so via Luft und Licht Lebensraum bieten. Das war nicht immer so und muss nicht immer so bleiben. Denn auch wenn uns die angestammten Festlandmassen für dieses Jahrtausend wohl noch erhalten bleiben, Küsten und Meeresboden sind in Bewegung. Manchmal erinnern sie uns auf schreckliche Weise daran.
Limitierte Möglichkeiten
Dass Inselherkunft etwas Besonderes ist, habe ich eigentlich erst nach und nach aus den neidvoll verklärten Blicken der anderen, vermeintlich vom insellosen Leben Benachteiligten, gelernt. Für mich selbst hatte und hat der Umstand, dass Rügen zu allen Seiten von Wasser umgeben ist, insgesamt weit weniger Bedeutung als die Tatsache, überhaupt am Meer aufgewachsen zu sein. Das erlebe ich als unschätzbares Geschenk. Die Nähe zur See hat mein Wesen geprägt, mein Schreiben, meine Sehnsucht. Die See ist es, die mich nicht loslässt. Ob das anders gewesen wäre, hätte ich mit meinen Eltern an der Festlandküste gelebt, wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht habe ich auch nur gut reden, weil die malerischen Inseln und Halbinseln, auf denen sich die Geschichte meiner Familie seit Jahrhunderten zufällig abspielt, sowieso mein sind, für immer in mir. Man verzichtet leicht auf das, was einem ohnehin nicht genommen werden kann.
Oder aber ich bin gerade darin ein echtes Inselkind. Wer die in vielerlei Hinsicht limitierten Möglichkeiten eines abgeschnittenen Ortes kennt, verliert den schwärmerischen Blick darauf. Ich liebe Inseln wirklich sehr, aber ich würde Fremden immer zur Vorsicht raten, dauerhaft auf eine zu ziehen. Zumindest sollte man es nur offenen Auges tun. Das Leben dort kann hart sein und hat so gut wie nichts mit langen Spaziergängen, pittoresken Sonnenuntergängen und heiterer Gelassenheit zu tun. Zumal die Annahme, auf Inseln einem ewiggleichen Trott entfliehen zu können, natürlich ein Irrtum ist. Alltag stellt sich immer ein, und er ist auf Inseln genauso langweilig wie auf dem Festland.
Dass es die Menschen ans Meer zieht, muss mir niemand erklären. Nichts ist für mich fesselnder als der Blick auf die offene See. Kein Geräusch ist schöner als das ihrer anbrandenden Wellen. Das Meer macht für Momente wunschlos glücklich. Doch die Schönheit der See, paradiesische Uferlandschaften in rauem Klima oder klassisch lieblich unter der Sonne des Südens, sind ja keineswegs nur Inseln vorbehalten. Zu den schönsten und beliebtesten Stränden der Welt zählen atemberaubende Festlandgestade: Mexiko, Portugal, Norwegen, Thailand, Indien, Australien, Südafrika. Der blaue Planet ist voll davon.
Es geht um Exklusivität
Und doch sind es immer wieder Inseln, von denen die Menschen träumen. Wenn man die Sehnsüchtigen mit den erwähnten runden Augen fragt, warum sie gerade davon so magisch angezogen werden, kommen sie schon mal ins Schleudern beim Erklären, was ein kontinentaler Traumstrand nicht bieten kann, eine optisch identisch gestaltete Landmasse im Meer jedoch haben soll. Kein Wunder, denn in der Antwort auf diese Frage offenbart sich etwas, das wir gerne verheimlichen. Auch vor uns selbst: das schnöde Gesicht der Gier und des Hochmuts. Der Wunsch aus der Masse der Anderen herauszuragen wie die Sandbank aus der Tiefe. Beim scheinbar romantischen Wunsch nach der Insel geht es im Grunde nämlich gar nicht um eine Insel: Es geht eigentlich um Exklusivität. Um nicht endende Ferien. Um Luxus. Und wenn wir ehrlich sind, wissen wir das auch genau. "Ich bin reif für die Insel" bedeutet schließlich: "Ich brauche Urlaub", und nicht etwa: "Ich möchte auf eingeschränktem Raum leben, den Gefahren der offenen See ausgesetzt, in einer sehr kleinen Gesellschaft voller Sozialkontrolle, Erbkrankheiten und Anpassungsdruck."
Unsere deutschen Inseln sind heute allesamt wunderschöne, schillernde Maden im Meer, von Besuchern reichlich genährt. Sie haben das sorgenreiche Lied der Inselbewohner früherer Jahrhunderte längst vergessen. Die vermeintlichen Paradiese der Südsee und Karibik, des Pazifischen und des Indischen Ozeans, kennen dagegen noch Armut, Entbehrung, Epidemien und verheerende Naturkatastrophen. Kein Mensch, der noch zu retten war, hätte vor zweihundert Jahren eine abgelegene Insel gewählt, wenn er das Festland hätte bekommen können. Nicht einmal Rousseau. Und Napoleon sowieso nicht.
Gefängnisse statt Schätze
Eine Insel zu kaufen, wäre Bonaparte wahrscheinlich nicht im Traum eingefallen, obwohl er selbst von einer stammte. Heutzutage jedoch kommt das häufiger vor. Allerdings lohnt sich eine so unrentable Anschaffung nur für äußerst begüterte Menschen, die 24 Stunden am Tag entweder von Kidnappern verfolgt, von Paparazzis gejagt oder von Fans belagert werden. Wahlweise alles gleichzeitig. Keiner, der dieser Situation nie ausgesetzt war, kann sich vorstellen, was das bedeutet. So sind denn klassische Inselbesitzer auch Leute, die vor dem Rummel nirgendwohin fliehen können, weil man sie überall erkennt: Marlon Brando, David Copperfield, Johnny Depp, Leonardo DiCaprio, Celine Dion, Aristoteles Onassis, die Disneys, die Rockefellers und die Rothschilds, und so weiter. Für diese Menschen, die sich mit Geld alles kaufen können, was man eben so für Geld kaufen kann, geht es beim Erstehen einer Privatinsel ganz sicher nicht um den Traum von Müßiggang oder Überfluss. Wer so reich ist, hat das gar nicht nötig und meist auch überhaupt keine Zeit dafür. Für sie steht beim Inselbesitz vermutlich etwas anderes im Vordergrund: die Kontrolle, die damit verbunden ist, Herr über eine Insel zu sein. Denn das abgeschlossene Territorium einer Insel ist die perfekte Kombination aus Abgrenzung und Unendlichkeit, aus Barriere und Freiheit. Wem eine gehört, der entscheidet, wer sie betreten darf. Keiner kann sich ihr ungebeten nähern. Was für ein Luxus. Könnte man denken.
Doch die Dinge haben immer zwei Seiten. Ein Teil der Erinnerung ist das Vergessen, Schmerz schützt uns vor Gefahren und das Ausschließen anderer bedeutet Ungestörtheit genauso wie Isolation. Nicht nur Schatzinseln sind Inseln. Auch Gefängnisinseln sind welche. Und es sollte uns zu denken geben, dass erstere nur in wilden Abenteuerromanen existieren, letztere jedoch ganz real sind: Alcatraz, Robben Island, Île d'If.
Die Wassergrenze, die Gefängnisinseln beinah ausbruchsicher macht, ist gleichzeitig die magische Grenze zum Land der Träume. Nur ihretwegen haben schwer zugängliche Täler, entlegene Bergeshöhen oder einsame Oasen, alle der Insel wesensverwandt, nicht denselben romantischen Ruf. Ihr Makel ist es, die Nabelschnur zur echten Welt nie durchtrennt zu haben. Irgendein Trampelpfad führt immer dorthin. Auf eine Insel jedoch führt gar kein Pfad.
Weil Inseln scheinbar ohne Verbindung nach außen auf dem Meer dösen, umgeben von nichts als Ruhe, bieten sie die perfekte Projektionsfläche für Aussteigerträume jeder Art und finanzieller Schattierung. Die vom Festland losgelöste Lage einer Insel wird dabei trügerischerweise gleichgesetzt mit der Losgelöstheit des dortigen Lebens vom irdischen Alltag. Dieses blauäugige Missverständnis kontrastiert die Wirklichkeit der meisten Inseln schon fast grotesk. Doch an so etwas Banalem wie der Realität hält sich der Mythos Insel (wie alle Mythen) natürlich nicht auf.
Nur eine Illusion
Inseln sind Illusionen. Der Traum von der Insel ist der Traum von einem Leben, das es nicht gibt. Fernab des Alltags, ohne die Unbill des eigenen Daseins, ohne Stress, ohne Zwänge. Uns diesen ebenso verständlichen wie unerfüllbaren Wunsch wenigstens für eine gewisse Zeit zu gewähren, davon lebt weltweit eine ganze Industrie. Zu ihr gehören auch die Makler, die halbe Atolle an Superreiche verhökern, damit die einen Ort haben, an dem sie so tun können, als wären sie wieder normale Sterbliche. Luxus ist eben nicht für jeden dasselbe.
Vom Milliardär bis zum Konsumkritiker, der dem Wohlstand für immer entsagt - sie alle verschlägt es gerne auf Inseln, denn sie alle suchen in der Abgeschiedenheit ihr Paradies. Durchaus mit der Betonung auf dem Possessivpronomen. König im eigenen Land zu sein oder sich dafür zu halten, ist vermutlich auch der Grund, warum Inseln sogar in der Zweitwelt der Cyberspiele mittlerweile zum Verkaufsschlager avancieren. Besitzer einer virtuellen Insel zu sein, ist wie beim Monopoly die Schlossallee zu ergattern. Das ist meins. Und du darfst hier nicht sein, es sei denn du zahlst ... Wie gesagt, um Inseln selbst geht es bei all dem gar nicht. Es geht um Träume. Welcher Natur sie auch immer seien.
Vielleicht liegt genau da das Geheimnis der Inselphantasien verborgen. "Tra il dire e il fare c'è di mezzo il mare", sagen die Italiener, "zwischen Reden und Tun liegt das Meer." Wahrscheinlich führt der Weg zu den wahren Inseln unserer Träume, dem Ziel unserer Sehnsucht über genau dieses Wasser. Nicht der Ort ist entscheidend, sondern das Handeln. Oder wie Heinrich Heine es einst ausdrückte: "In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks."
Es gibt kein Elysium auf Erden. Die Insel der Seligen ist nur eine Illusion. Denn auf Inseln ist das Leben niemals leichter, schöner oder besser. Auf Inseln ist es lediglich windiger.
Claudia Rusch