Eine Reise in die SU

Von der DDR aus gab es einen illegalen Tourismus in die Sowjetunion
Kurze Rast beim Anstieg. Foto: Rolf Zöllner
Kurze Rast beim Anstieg. Foto: Rolf Zöllner
Rolf Zöllner ist in der DDR aufgewachsen und lebte in ihr bis zur Wende. Wie viele suchte er kleine Freiheiten - und manchmal fielen die gar nicht so klein und sogar ein wenig abenteuerlich aus. 1983 beschloss er, als Individualtourist in die Sowjetunion zu reisen.

Rolf Zöllner durfte 1982 an einer "Jugendtouristreise" teilnehmen. Dazu musste man Glück haben, besonders, wenn man schon fast dreißig war. Per Flugzeug ging es über Moskau nach Mittelasien: nach Karaganda, Samarkand, Alma Ata (heute Almaty). Das war wie Tausendundeine Nacht, fremde Menschen, intensivere Farben, neue Gerüche und Geräusche: eine andere Welt

Natürlich immer in der Gruppe. Anders ging's nicht. Oder doch? Ein Freund in Berlin renommierte später, er sei schon einmal ganz allein in der Sowjetunion gewesen. Da habe er den Elbrus bestiegen. - Elbrus? - Na, der höchste Berg des Kaukasus.

Ja doch, DDR-Bürger durften ins Ausland reisen. Aber das Angebot war beschränkt, Rumänien und Bulgarien standen ganz oben. Da durfte man sogar als Individualreisender hin. Die Sowjetunion aber blieb DDR-Bürgern eher unzugänglich. Gruppenreisen gab es zwar, durchorganisiert; Hauptsache für den Veranstalter überraschungsfrei. Dem Einzelnen aber traute man nicht so recht. Kein Visum für die SU. Oder lag's am Großen Bruder? Fürchtete der, in den kritischen Augen der Brüder und Schwestern aus der DDR auf den zweiten Blick nur noch in des Zaren neuen Kleidern dazustehen? - Schließlich handelte es sich um Deutsche, unheilbar fleißig, sauber, ordentlich und eher missgelaunt, so das russische Vorurteil seit Oblomow.

Sozialistische Provinz

Rolf Zöllner: heute Fotograf in Berlin, 58, hager, nicht sehr groß, bebrillt, mit kurzem Mehrtagebart und kurzem grauen Haar. Er ist das, was man, mit variablen Untertönen, einen gelernten DDR-Bürger nennt, gar einer aus der tiefen sozialistischen Provinz, geboren in Oberlichtenau bei Chemnitz, 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt. Dort und in der Gegend blieb er, bis er 25 war. Seine Großmutter stammte aus Chemnitz, wo sie ausgebombt worden war; mit ihr hatte es die Familie aufs Land verschlagen.

Oberlichtenau war ein Dorf, kaum tausend Einwohner, aber eben ein Industriedorf, das war schon mehr als ein bloßes Kaff, es gab noch so einiges am Ort, was erst nach der Wende zügig verschwand: eine Lack-, eine Textil- und die Aerosol-Sprühflaschenfabrik der DDR. Und natürlich Läden aller Art.

Auch die Schulstufen bis zur Oberstufe waren vertreten: "Da herrschten Zucht und Ordnung, wie man so sagt. Wir hatten einen Mathe-Lehrer, bei dem konnten Sie eine Stecknadel fallen hören, wenn er das Klassenzimmer betrat." Und: "Aber ich will mal so sagen: Es hat mir nicht geschadet."

Trotzdem, viel los war nicht. "Als Kinder empfanden wir das nicht, wir spielten in den Feldern. Und im Sommer hieß es: auf ins Waldbad. Das Schwimmbad war die Attraktion des Ortes. Eine Nachkriegserrungenschaft, im "Nationalen Aufbauwerk" errichtet, ehrenamtlich, ohne Lohn. Doch: "Heute wachsen Bäume in den alten Schwimmbecken." Zöllner erzählt es, als könnte es ihn empören, wenn er sich nicht längst mit den Schattenseiten der neuen Zeit abgefunden hätte. Aber der Jugendclub! Der war etwas Besonderes. In ihm wurde schon früh Rockmusik gespielt, hier auf dem Dorf!

Im Nachbarort Merzdorf gab es gar den drittgrößten Beatschuppen der DDR. "Das war sozusagen einer der ganz frühen 'Beatclubs' in der DDR." Sogar das Auge der Stasi wachte zeitweise über ihn, man wusste es und beunruhigte sich nicht. Erst 1978 zog Zöllner zu seiner Freundin nach Berlin und begann, wie man so sagt, ein neues Leben. Zunächst arbeitete er an einem Institut für Hochspannungstechnik, aber allmählich baute er auch seine Karriere als Fotograf auf.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Rolf Zöllner beim Abstieg.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Sieben Stunden bergauf.

Nun, da war also einer allein in die UdSSR gereist. Hatte den Elbrus bestiegen, den höchsten Berg des Kaukasus. Zöllner hatte sich das gemerkt. Und irgendwie keimte in ihm der Gedanke: Das machst du auch mal. Inzwischen hatte er auch erfahren, dass es eine ganze Reihe von DDR-Bürgern gab, die so was schon einmal gewagt hatten. Es war also möglich.

Erst kürzlich erschien ein lesenswerter Sammelband mit Erinnerungen solcher Sowjetunion-Trotter, Unerkannt in Freundesland heißt er. In ihm ist Zöllner nicht vertreten, er gehörte nicht zu den Profis - besser: den verdienten Aktivisten - unter den illegalen Sowjetreisenden, nicht zu den Extremabenteurern oder der Sorte von Lebenskünstlern, die überall durchkommt. Aber mit ihnen hatte er den Wunsch gemeinsam, endlich einmal 'rauszukommen aus dem allzu kleinen sozialistischen Vaterland, sei's auch nicht in Richtung glamourösem Westen, sondern in den wilden Osten, wo das Land unendlich und das Aroma der Freiheit durch eine Prise unsozialistischer Anarchie angereichert war. Wenn dort auch nicht das richtige Leben im falschen zu finden war, so doch wenigstens ein anderes im gewöhnlichen.

Vorsätzlich vom Wege ab

Der höchste Berg des Kaukasus. Die Berge hatten es Zöllner ohnehin angetan, auch wenn er nie den Ehrgeiz hatte, ein "richtiger" Bergsteiger zu werden, so einer mit Seil und Hacke. Seit den Siebzigerjahren reiste er dahin, wo er seiner Berglust frönen konnte, ins bulgarische Piringebirge, in die rumänischen Karpaten oder in die Hohe Tatra, Tschechoslowakei. Nichts Schöneres, als mit Gleichgesinnten auf Zweieinhalbtausender zu wandern.

Doch zu seiner Expedition ins Sowjetreich kam es schließlich eher durch Zufall: Er und seine Freundin kannten ein anderes Paar, das sowjeterfahren war und fließend russisch sprach.

In die SU zu gelangen war gar nicht so schwierig. Man beantragte ein Visum für Rumänien, fuhr mit dem Zug nach Kiew und kam vorsätzlich vom Wege ab: weiter mit dem Zug Richtung Kaukasus, zwei Tage später hatte man dessen Südseite erreicht. Nicht, dass man sich dort allein unter Eingesessenen oder in unberührter Natur wiedergefunden hätte: Schon damals gab es hier viele Bergtouristen, meist waren es Russen aus Intellektuellenkreisen - Studenten und Akademiker, schätzt Zöllner, darunter passionierte Bergwanderer ebenso wie ernsthafte Bergsteiger.

Der Felsen "Akklimatcia"

Über einen Viertausenderpass ging es auf die andere Seite des Gebirges; drüben fand sich eine bewirtschaftete Hütte und ein Zeltplatz. Weiter oben gab es eine Baude, dort musste man sich einer Gruppe anschließen, wenn man auf den Elbrus wollte. Zuvor aber hieß es einen Felsen auf etwa 4000 Metern erklettern, der wurde nur "Akklimatcia" genannt, womit sich der Zweck der Sache von selbst erklärt.

Die kleine Reisegesellschaft aus Deutschland allerdings hatte sich verstritten, aus banalem Anlass: Zöllner hatte morgens auf das Zelt der anderen geschlagen, um sie zu wecken. Drinnen regnete Kondenswasser, das sich an der Zeltplane abgesetzt hatte, auf die Ruhenden herab. Die nahmen es nicht von der heiteren Seite. Um die Freundschaft war's geschehen. Zöllner und seine Freundin stellten fest, dass sie auch ohne die hilfreichen Russischkenntnisse der beiden anderen durchkamen.

Zöllners Freundin hatte nie den Ehrgeiz gehabt, die Gipfeltour mitzumachen, und da die beiden Vergrätzten aufgaben, blieb nur noch Zöllner selbst, der sich einer Gruppe von Gipfelstürmern anschloss.

Nun wurde es also ernst. Der Elbrus: auf der Grenze zwischen den heutigen russischen Republiken Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien. Ein Berg mit zwei Gipfeln: der Westgipfel 5642 m; der Ostgipfel 5621 m, ein nicht aktiver Vulkan, letzter Ausbruch vor etwa zweitausend Jahren. In diesem Juli 1983 hatte der Elbrus sich in Nebel gehüllt. Da oben würde es kalt werden.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Noch ist das Wetter gut: der Elbrus.

Zöllner war nie der Typ eiserner Sportsmanns. Aber zäh war er. Das hatte er schon früh beweisen müssen. Nach der Schule war er Elektrofacharbeiter geworden. Das hatte sich als Vorteil erwiesen, nachdem er mit neunzehn zur Volksarmee gezogen worden: Nach einem halben Jahr Militärausbildung war er zum Aufbau des Kraftwerks Hagenwerder bei Görlitz abgeordnet worden. Dort hatte es geheißen, armdicke Kabel durch Schächte ziehen: "Da hing ich eher als zusätzliches Gewicht am Kabel, als das ich hätte mitschleppen können." Aber durchhalten war Ehrensache.

Um Durchhalten würde es auch hier gehen. Zwar braucht man für den Elbrus keine alpine Kletterausrüstung. Er lässt sich über steile Schnee- und Eisfelder erwandern, mehr als siebzig Gletscher erstrecken sich vom Gipfel ins Tal. Auf den ersten Blick ein leichter Berg. Aber einer, der zu oft unterschätzt wird: das Wetter ist unberechenbar. Und man sagt dem Elbrus ein Gipfelklima nach, wie es sonst nur auf Siebentausendern herrscht. Noch heute kommen hier jedes Jahr bis zu dreißig Menschen ums Leben.

Um zwei Uhr in der Frühe soll aufgebrochen werden, nicht später, denn ein Sonnentag wird den Untergrund gefährlich aufweichen. Aber in der Nacht herrscht ein Unwetter. Es wird kein Sonnentag werden. Erst um vier macht sich die Gruppe auf den Weg.

Weiter trotz Höhenkrankheit

Zöllner hat sich so gut ausgerüstet, wie er kann, so viele Sachen übereinander angezogen, wie's eben ging, und sich Spikes unter die Schuhe geschnallt. Als Schneebrille dient ihm eine mit einem Nasenschutz versehene Schweißerbrille. Er ist der einzige Deutsche unter Russen. Die Zeit ist knapp: Sieben Stunden bergauf, nur eine fünfminütige und eine viertelstündige Pause sind vorgesehen. Der Himmel reißt kurz auf, dann verhindern Wolken jede Fernsicht, es fängt an zu schneien.

Zöllner merkt bald, dass es ihm nicht gut geht. Die Beine werden schwer, die Arme hängen wie Blei am Körper. Ungefähr auf fünftausend Meter Höhe konstatiert er für sich: Das muss die Höhenkrankheit sein. - Was tun? Sich krank melden? Das würde bedeuten, dass mindestens zwei aus der Gruppe mit ihm absteigen müssten. - Kommt nicht in Frage. Stattdessen: zusammenreißen. Schließlich marschiert Zöllner an der Spitze, aus Angst, sofort umzukippen, wenn er nur ein bisschen nachlässt. Aber er schafft es. Endlich oben auf dem Ostgipfel. Die Aussicht ist gleich null, der Schnee verklebt die Brille, der kalte Wind macht den Aufenthalt ungemütlich. Keiner hat das Bedürfnis, lange zu bleiben.

Wie in Trance

Der Weg abwärts ist fast noch schlimmer als der bergauf - zwei Stunden bergab, das geht in die Knie. Doch Zöllner merkt schon nicht mehr viel, er geht wie in Trance. Ist aber immer noch wach genug, um sich von einem Kameraden fotografieren zu lassen. Schließlich zurück, in der Baude; er ist völlig kaputt. Aber: "Eine Stunde auf dem Feldbett, dann war ich wieder fit - war ja auch noch jung."

Natürlich verspürte er so etwas wie Stolz. Gewiss, eine Elbrusbesteigung war kein exklusives Unternehmen, es handelte sich auch nicht um den Nanga Parbat. Aber ein Pappenstiel war es nun auch wieder nicht gewesen.

Eine Woche später saßen Zöllner und Freundin auf dem Flugplatz in Kiew. Diesmal wurde es ernst, denn es gab eine Grenzkontrolle. Es ließ sich nicht verbergen, dass mit ihren Papieren etwas nicht stimmte. Die sowjetischen Sicherheitskräfte gaben sich grimmig. Die Beiden saßen wie arme Sünder auf einer Bank und warteten. Zuvor hatten sie den Sicherheitskräften der UdSSR radebrechend eine abstruse Geschichte aufgetischt, wieso sie an der Weiterfahrt ins sozialistische Bruderland Rumänien gehindert gewesen seien und weshalb sie sich zu einem kleinen Ausflug in den Kaukasus entschlossen hätten.

Draußen auf der Rollbahn wartete eine Tupolew TU-134 - würden die beiden nun mitdürfen oder nicht? Dass das Flugzeug wartete, gab ein wenig Hoffnung, denn die Gesetzesbrecher fühlten sich schon mit einem Bein im sowjetischen Kerker. Die Offiziere liefen hin und her, warfen finstere Blicke auf die Störer ihrer Ruhe und griffen immer mal wieder zum Telefon. Endlich kam die Erlösung: Einer winkte bloß mit der Hand, und sie durften fliegen.

Abends erst, in der Berliner S-Bahn, fiel die Anspannung ab. Sie fühlten sich zu Hause, und frei, und glücklich.

Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner

Endlich: die Baude wieder in Sicht.

Literatur

Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich. Lukas-Verlag, Berlin 2011, 444 Seiten, Euro 24,90.

Helmut Kremers

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