Hinausgeleiten in Weltenweiten

Die anthroposophische Grabaltar-Kapelle in der Schlosskirche zu Ostrau
Ungewöhnliche Fenster verleihen dem Raumfremden Zauber. Foto: Andreas Fincke
Ungewöhnliche Fenster verleihen dem Raumfremden Zauber. Foto: Andreas Fincke
In einem Schlosspark in Sachsen-Anhalt findet sich eine merkwürdige Kuriosität: eine Kapelle, die der letzte Schlossherr im Sinne der anthroposophischen Lehre gestaltet hat.

Er war immer ein Geheimtipp. Nördlich von Halle/Saale, in dem unscheinbaren Dorf Ostrau, suchten wir als Studenten öfter den völlig verwilderten Schlosspark auf. Hier entdeckten wir eine Fülle von ungewöhnlichen Bäumen und Sträuchern, aber auch die Rudimente seltsamer Denkmäler.

Gerüchte machten die Runde: Der Schlossherr habe einer Sekte angehört und den Park entsprechend gestaltet. Ihren Höhepunkt fanden unsere geheimnisvollen Expeditionen in der Ostrauer Schlosskirche. Hier war die Patronatsloge zu einem seltsamen Meditationsraum umgestaltet. Drei äußerst ungewöhnliche Fenster verliehen dem Raum fremden Zauber. Doch viel konnten wir nicht in Erfahrung bringen über den eigenwilligen Ort. Heute sind die Geheimnisse um das Schloss und seinen Besitzer gelüftet: Das Schloss Ostrau gehörte einst zu den bedeutendsten Barockschlössern Sachsen-Anhalts. 1927 übernahm Hans Hasso von Veltheim den Familienbesitz. In den folgenden Jahren ließ er das Schloss vollständig erweitern und umbauen. Im Südflügel richtete er eine umfangreiche Bibliothek ein und trug eine wertvolle Kunstsammlung zusammen. Möbel, Porzellan, Glas, Schmuck, Ikonen und zeitgenössische Kunst zierten die Räume. Auch der Park lag ihm am Herzen: Er ließ eine Fülle exotischer Bäume und Pflanzen setzen. Teilweise soll er die Samen dazu von seinen Reisen selbst mitgebracht haben.

Korrespondenz mit Geistesgrößen

Hans Hasso von Veltheim, geboren 1885 in Köln, war eine vielfältig gebildete und interessierte Persönlichkeit. Er unternahm Reisen nach Indien, Afghanistan und Südostasien, schrieb zahlreiche Bücher, traf sich mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit und führte eine umfangreiche Korrespondenz. Er begegnete Rainer Maria Rilke, Gerhart Hauptmann, Oswald Spengler, Hermann Graf Keyserling, Alexander und Imogen von Bernus, Emil Bock, Annie Besant und Krishnamurti. Politisch stand er mit Walther Rathenau, Gustav Stresemann, Aristide Briand und später auch mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 in Verbindung. Eine engere Freundschaft verband ihn mit dem Sinologen Richard Wilhelm und dem Berliner Oberrabbiner Leo Baeck. So wurde der kleine Ort Ostrau, genauer das Ostrauer Schloss, zu einem Zentrum des Geisteslebens.

Doch Veltheims besonderes Interesse galt allen Fragen des Spirituellen. 1918 begegnete er erstmals Rudolf Steiner, dem geistigen Vater der Anthroposophie. Das mehrstündige Gespräch berührte ihn tief und gab seinem Leben eine ungeahnte Wendung. Später berichtet er häufiger, dass er Steiner und seiner Lehre viel verdankt und die finsteren Jahre zwischen 1933 und 1945 nur dank Steiners Anthroposophie überstehen konnte.

Bei der Anthroposophie ("Menschenweisheit") handelt es sich um eine esoterische Weltanschauung. Rudolf Steiner war von 1902 bis 1913 Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, trennte sich schließlich von ihr und entwickelte ab 1913 die Anthroposophie, die er auch schlicht "Geisteswissenschaft" nannte. Nach ihm handelt sich um einen Erkenntnisweg, der "das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall" führen möchte. Steiner beruft sich bei der Darlegung der Kosmologie und seines Menschenbildes auf übersinnliche Erkenntnis, die er aus der "Akasha-Chronik", einer Art Weltgedächtnis, gewonnen haben will. Für die Erkenntnis höherer Welten entwickelte er einen entsprechenden Schulungs- oder Meditationsweg.

Fünfseitige Flächen

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde die Anthroposophie durch die Waldorfpädagogik, die biologisch-dynamische Landwirtschaft (Demeter) sowie durch Erscheinungsformen alternativer Medizin (Weleda) bekannt. Auf religiösem Gebiet wird der Einfluss der Anthroposophie in der "Christengemeinschaft-Bewegung für religiöse Erneuerung" deutlich. Diese Gemeinschaft wurde 1922 im Beisein Rudolf Steiners gegründet - wobei das Wort "Beisein" kaschiert, welche zentrale Rolle Steiner für die Christengemeinschaft spielte, deren geistiger Vater er ist. Er schrieb die liturgischen Texte, die er "geschaut" haben will.

Hans Hasso von Veltheim blieb bis zu Steiners Tod im Jahre 1925 mit ihm in intensiven Kontakt. 1933 ließ er die Patronatsloge in der Schlosskirche zu einer anthroposophisch inspirierten Grabaltar-Kapelle umbauen - wohl die einzige evangelische Kirche in Deutschland, in der es einen Andachtsraum nach anthroposophischen Vorstellungen gibt. Veltheim holte sich Rat von kompetenter Stelle. So bei Friedrich Rittelmeyer, einem frühen Weggefährten Steiners und seinerzeit höchste Autorität in der Christengemeinschaft. Hier, in dem steinernen Altar, den er errichten ließ, sollte später seine Urne beigesetzt werden. Veltheim war damals, als er über die Frage seiner Beisetzung nachdachte, erst Ende vierzig.

Rittelmeyer ließ den Stuttgarter Architekten Felix Kayser empfehlen. Er stehe "unter den anthroposophischen Architekten mit an erster Stelle". Kayser gab dem Raum eine Form, die dem Dornacher Zentrum der Anthroposophie, dem Goetheanum, nachempfunden ist. So wurden die Übergänge von den Wänden zur Decke mit Schrägen abgefangen, in den Ecken entstanden fünfseitige Flächen. Man findet diese Gestaltungsformen heute vielfach in Waldorfschulen, anthroposophischen Kliniken und Einrichtungen der Christengemeinschaft.

Beeindruckende Glasfenster

An zentraler Stelle ließ Veltheim einen Grabaltar aus Gauinger Kalkstein errichten. Erneut fallen jene fünfseitigen Flächen auf. Im unteren Teil befindet sich eine Steinplatte mit einem Kreuz darauf, das von sieben Sternen umgeben ist. Zweifellos weist das Kreuz auf Tod und Auferstehung Christi hin, die Sterne lassen an die sieben Worte Jesu am Kreuz denken. Hinter dieser Steinplatte wurde der Hohlraum vorbereitet, in dem Veltheims Urne einmal Platz finden sollte. Oben, auf der ebenen Fläche des Altars, wurden Veltheims Name, der Geburtsort und die Geburtsstunde eingraviert. Für die Todesdaten ließ man Platz. Auf dem Altar stand (und steht jetzt wieder) ein siebenarmiger Leuchter.

Je nach Sonnenlicht fallen dem Besucher der Kapelle jedoch als erstes die eindrucksvollen Glasfenster auf. Sie wurden von der ebenfalls anthroposophisch inspirierten Künstlerin Maria Strakosch-Giesler gestaltet. Die 1877 geborene Künstlerin war Schülerin von Wassily Kandinsky. Zeit ihres Lebens stand sie mit vielen Mitgliedern der Künstlergruppe "Blauer Reiter" in engem Kontakt. Verheiratet war sie mit dem Waldorflehrer Alexander Strakosch, der ebenfalls eng mit Rudolf Steiner verbunden war.

Nicht alles akzeptiert

Jüngste Funde in einschlägigen Archiven zeigen, wie sehr sich Maria Strakosch-Giesler in ihrer künstlerischen Arbeit an Rudolf Steiner orientiert hat. So schrieb sie im November 1933: "Darf ich Ihnen ... das Motto aufschreiben, unter dem die Entstehung der beiden Glasfenster vor sich ging? Es ist ein Wort von Rudolf Steiner, das folgendermaßen lautet: ‚Dasjenige also, was im Erdendasein für den phys. Menschen aus der Umgebung hereinspielt als mineralische u. pflanzliche Welt, das übernimmt in seinen geistigen Gegenbildern die Hinausgeleitung des Menschen nach dem Tode in die Weltenweiten. Und man wird wirklich in die Planetenbewegungen, in den ganzen Rhythmus der Planetenbewegungen durch das Mineralreich u. das Pflanzenreich der Erde hineingetragen.'"

Veltheim war zwar durch Steiner fasziniert, wurde aber keineswegs zu einem bedingungslosen Verehrer. So schrieb er in einem Brief an Richard Wilhelm: "Ganz besonders freut es mich, dass wir über Steiner einer Meinung sind in dem Sinne des Ihnen gesagten: 1) einen Teil kann ich mitmachen, verstehen, unterstützen, verteidigen. 2) einen Teil auf sich beruhen lassen ohne pro und contra. 3) einen Teil muss ich, weil ich einfach nicht anders kann, nicht nur völlig ablehnen, sondern sogar mit aller Schärfe bekämpfen. - Dazu gehört u. a. dass ... es nicht angeht, die eigene Bahn ... als: Den einzigen Weg, die Wahrheit und das Leben zu verkünden und alles andere zu diminuieren und als unzeitgemäss zu stempeln!"

Dennoch: Im Frühjahr 1935 trat Veltheim der Christengemeinschaft bei. Wenige Wochen später tagte sogar die Synode der mitteldeutschen "Lenkerschaft" der Christengemeinschaft auf Schloss Ostrau. Zu den Gästen gehörten zahlreiche Gründergestalten der Christengemeinschaft, darunter Emil Bock, der spätere "Erzoberlenker" der Gemeinschaft. Die Christengemeinschaft war damals in Bedrängnis; ein erstes Verbot hatte man zwar 1935 noch abwenden können, der politische Druck war jedoch hoch. Ungeachtet dessen traf sich Veltheim in den nächsten Jahren immer wieder mit Friedrich Rittelmeyer und Emil Bock. Im Sommer 1941 wurde die Christengemeinschaft jedoch endgültig verboten.

Kurz zuvor waren das Ostrauer Schloss und die Bibliothek von der Gestapo durchsucht worden. Man warf Veltheim seine Kontakte zur Christengemeinschaft und zur Anthroposophie vor. Über ein Verhör hat Veltheim ein als "geheim" gekennzeichnetes Gedächtnisprotokoll angefertigt. Hier schreibt er, dass er seine intensiven Kontakte zur Christengemeinschaft und zur Anthroposophie eingeräumt habe. Der Aufforderung, eine Namensliste zu erstellen, habe er mit dem Hinweis widersprochen, "dass man von mir nicht verlangen könne, Denunziant zu sein ..."

Die Loge erhalten

Das Schloss und der Park Ostrau wurden nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Machtübernahme durch die SED weitgehend zerstört. Hans Hasso von Veltheim wurde im Juli 1945 verhaftet. Durch Intervention eines Freundes, der auf seine Rolle in der Widerstandsbewegung hinwies, kam er jedoch wieder frei. Mit der Bodenreform vom Herbst 1945 wurde Veltheim enteignet und das Schloss verstaatlicht. Am 1. November 1945 floh er schwer krank und weitgehend mittellos in den Westen. Teile der Bibliothek und der wertvollen Kulturgüter wurden in die Hallesche Martin-Luther-Universität überführt, einen nennenswerten Teil beschlagnahmten die sowjetischen Besatzungstruppen, ein weiterer fiel Plünderungen zum Opfer. Zeitzeugen erzählen, dass zahlreiche Bücher der Schlossbibliothek auf der Ostrauer Müllkippe verbrannten. Das Schloss wurde zu Wohnzwecken genutzt. Der Park verwilderte und erlitt mutwillige Zerstörung.

Einzig die Patronatsloge hat die DDR weitgehend unbeschadet überstanden. Sie war dem Zugriff der Machthaber entzogen, weil sie Teil des Kirchengebäudes ist - und weil ein beherzter Pfarrer den Raum und seine Fenster mit einfachsten Mitteln gerettet hat. Dieter Pretzsch, Pfarrer in Ostrau von 1982 bis 1996, hat die Patronatsloge erhalten, entrümpelt und geschützt. Die Glasfenster konnte er mittels eines einfachen Gitters vor Steine werfenden Jugendlichen sichern. Ihm verdankt Sachsen-Anhalt die Bewahrung eines kunsthistorisch einmaligen Kleinods.

Hans Hasso von Veltheim starb am 13. August 1956 auf der Insel Föhr. Vorerst wurde die Urne mit den sterblichen Überresten in Köln beigesetzt, im Oktober 1990 konnte sie an den dafür vorgesehenen Ort im Altar der Grabaltar-Kapelle überführt werden.

Inzwischen hat der Ostrauer Kulturverein mit bescheidenen Mitteln einige Räume im Schloss wieder zugänglich gemacht. Auch die Grabaltar-Kapelle wird behutsam restauriert. Eine kleine Ausstellung kann nach Absprache besichtigt werden.

Andreas Fincke

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