Bezugsfigur Jesus

Wandlungen einer Schriftstellerin: zum 100. Geburtstag von Luise Rinser
Luise Rinser, 1977. Foto: dpa
Luise Rinser, 1977. Foto: dpa
Am 30. April wäre Luise Rinser ­hundert Jahre alt geworden. Der Tübinger Theologie­professor Karl-Josef Kuschel, der viel Zeit mit Rinser verbrachte, porträtiert die streitbare Literatin, ihr Werk und den Wandel ihrer Sicht auf Jesus.

Es gibt Begegnungen, die sich tief ins Gedächtnis eingraben. Die drei, vier Tage im Hause Luise Rinsers in Rocca di Papa bei Rom gehören dazu. Es ist August 1982. Kennengelernt hatten wir uns wenige Monate zuvor bei einem Gespräch über Grundfragen von Religion und Literatur. Ich führte damals viele solcher Werkstatt-Gespräche mit Autorinnen und Autoren der Gegenwartsliteratur. Das Gespräch erschien im Juni 1982 unter dem Titel "Wir müssen wieder zu den Mythen zurück. Über Mythos, Mystik und die Frage nach Gott".

Luise Rinser gefiel meine Leidenschaft für Religion und mein Interesse an ihrem Werk. Deshalb fragte sie ganz ungeniert, ob ich nicht Lust hätte, über ihr Werk ein Buch zu schreiben. Eine Gesamtdarstellung fehle doch, in dem die großen Wandlungen in ihrem Denken und Schreiben beschrieben seien. Seit den Fünfzigerjahren klebe ihr das Etikett an, eine "brave katholische Schriftstellerin" zu sein. Ich solle sie besuchen, möglichst im August, um ihre "Werkstatt" kennen zu lernen. Ohnehin befalle sie im Sommer immer eine "August-Melancholie". Da habe sie gerne Gäste um sich.

Zwar kam das Buchprojekt nicht zustande, aber die Tage in ihrem Haus gaben einen einzigartigen Einblick in ihre Denk- und Arbeitsweise. Drei Szenen sind mir unvergessen: literarisch, politisch und persönlich. Literarisch arbeitete Luise Rinser in dieser Zeit noch an einem Buch, das ihr wichtigstes werden sollte: dem Roman aus der Perspektive einer Frau, Maria Magdalena, ein Jahr später, 1983, veröffentlicht unter dem Titel "Mirjam". Ich sehe sie noch in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzen, vor sich die Schreibmaschine, in die sie eigenhändig ihre Texte tippte, links daneben ein Neues Testament, rechts daneben das Buch des französischen Popularhistorikers Daniel-Rops: Er kam in sein Eigentum. Die Umwelt Jesu aus dem Jahr 1963. Aus dem Neuen Testament, insbesondere dem Johannes-Evangelium, holte sie sich theologisches "Material", das sie umschrieb und ihren eigenen Zwecken dienstbar machte. Daniel-Rops brauchte sie, um geschichtliche "Atmosphäre" in die Handlung einzubringen.

Ein feministischer Jesus-Roman

Die Arbeit am Roman ging ihr offensichtlich leicht von der Hand. Kleine Stücklein daraus las sie mir vor. Und ich begriff: Sie gab der Maria aus Magdala, die die kirchliche Tradition auf das Stereotyp der reuigen Sünderin eingefroren hatte, eine völlig neue Rolle. Ihre Maria ist eine Frau mit ganz eigenem geistigen Profil. Sie unterscheidet sich von den männlichen Jüngern im Umkreis Jesu genau so wie von den üblichen Frauenklischees in ihrer Umwelt. Die Rinsersche Maria ist gebildet, kritisch, zeitsensibel. Mit Jesus diskutiert sie auf Augenhöhe über die großen Themen der Zeit: Liebe und Gewalt, Geist und Macht, die Rolle der Geschlechter, die Möglichkeit einer Veränderung des Einzelnen und der Gesellschaft. Und immer wieder mit theologischer Leidenschaft die Frage nach Gott. Mir wurde klar: Luise Rinser schrieb den ersten feministischen Jesus-Roman der deutschsprachigen Literatur. Und er ist es bis heute geblieben.

In einer anderen Frage aber war mein Befremden groß. Plötzlich stand ein Thema im Raum, das ich nicht für möglich gehalten hätte: ihre Reise ins kommunistische Nordkorea. Ich hatte in Vorbereitung auf den Besuch ihr 1981 erschienenes "Reisetagebuch" unter dem Titel Nordkorea gelesen und wagte, skeptische Rückfragen zu stellen. Ob sie das kommunistische Regime nicht allzu sehr idealisiert habe? Zumal sie privilegierter Staatsgast gewesen sei - mit allem, was dazu gehört. Ein empfindlicher Punkt für Luise Rinser. Ich bekam das zu spüren. Sie geriet in die Defensive. Statt selbstkritisch ihre Rolle zu thematisieren, insistierte sie auf den großen "Leistungen" des Regimes. Ich traute meinen Ohren nicht, als sie sich auf den Satz versteifte, Nordkorea sei das einzige Land der Erde, wo die Menschen ohne Religion lebten und dennoch oder gerade deswegen glücklich seien. Sie "bräuchten" keine Religion.

"Widerstand" zwecklos

Ich spürte, dass "Widerstand" zwecklos war. An diesem Punkt war dieselbe Autorin, die sich in Deutschland auf dem linken Flügel gesellschaftskritisch angesiedelt hatte, ideologisch blind. Ein noch einmal völlig anderes Erlebnis aber ließ mich das Staunen über diese Frau positiv zurückgewinnen. Spät an einem der Abende ging es um Theologie und Kirche. Plötzlich trat sie an einen Schrank und holte eine Schachtel heraus. Sie entnahm ihr ein Konvolut von Briefen und zeigte es mir demonstrativ, ohne mir Einblick zu geben. Das seien Briefe, die der Theologe Karl Rahner an sie geschrieben habe, ließ sie mich wissen. Eintausendachthundert dieser Schreiben gäbe es.

Ich war wie elektrisiert. Zwar war mir bekannt, dass Rahner und Rinser seit den Tagen des Konzils in Verbindung gestanden und sich für den Neuaufbruch der katholischen Kirche engagiert hatten. Aber dass es eine derart persönliche Beziehung zwischen dem Jesuiten und der Schriftstellerin gegeben haben sollte, war mir neu. Eine Zeit lang habe er ihr fast täglich geschrieben, höre ich, manchmal fünf Briefe am Tag. Ich witterte eine "Sensation". Sollte ausgerechnet Karl Rahner ...? Und: Wird sie das Ganze veröffentlichen?

Nein, davon wolle sie absehen, erklärt sie mir, zumindest zu ihren Lebzeiten, zumal die Briefe Rahners durch den Jesuitenorden "gesperrt" seien. Ich begriff langsam, welch Spiel sie mit mir spielte: Sie kokettierte mit Andeutungen, entzog mir das Material aber gleich wieder. Sie ließ mich schnuppern, um mich dann zappeln zu lassen.

Zurück in die Schachtel mit dem brisanten Zeug. Offenbar hatte sie mir damit Eindruck machen wollen (was ihr gelang), welche Leidenschaft sie als Frau in einem der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts hatte wecken können. Zwölf Jahre später widerstand Luise Rinser der Versuchung nicht länger und ließ ihre "Briefe der Freundschaft" an Karl Rahner aus den Jahren 1962 bis 1984 veröffentlichen, nach wie vor ohne über die Gegenbriefe zu verfügen.

Tabu gebrochen

Und was immer man von ihren Motiven halten mag, ein Tabu hatte Luise Rinser damit gebrochen, das ihre Lebensgeschichte als Katholikin auch geprägt hat: das Tabu Klerikalismus, Frauen und Zölibat. Sie sah ihre Beziehung zu Rahner in doppelter Weise als exemplarisch. Zum einen das "göttliche Experiment" zu wagen, "ganz Mensch, ganz Mann, ganz Frau zu sein, ganz ‚Fleisch und Blut‘ und dennoch ganz und gar spirituell zu leben". Das ist das eine. Und das andere: Aufdecken innerkatholischer Zwänge zölibatär lebender Priester. Sie attestierte Karl Rahner deshalb "großes Format", weil er es "als Zölibatär" gewagt habe, "eine Frau zu lieben und an dieser Liebe tief zu leiden".

Dass sie diesen Schritt zehn Jahre nach Rahners und acht Jahre vor ihrem Tod tat, hatte auch mit der Distanz zu tun, die sie mittlerweile dem "Katholizismus" gegenüber gewonnen hatte. Schon bei der Vorbereitung zu unserem "Werkstattgespräch" war mir aufgefallen, dass sich seit den Siebziger- und Achtzigerjahren eine völlig neue Phase im Werk von Luise Rinser Bahn gebrochen hatte. Dokumentiert ist sie in ihren vier Tagebüchern, die in relativ rascher Folge erschienen und großen Erfolg gerade bei jungen Leserinnen und Lesern erzielten: Baustelle (1970), Grenzübergänge (1972), Kriegsspielzeug (1978) und Winterfrühling (1982). Hinzu kam der erste Band der Autobiographie Den Wolf umarmen von 1981.

Mit diesen Tagebüchern erschloss sich Luise Rinser nicht nur ein neues, junges Publikum - worauf sie besonders stolz war -, sie durchbrach auch bei Literaturkritikern endlich das Klischee von der "braven, katholischen Schriftstellerin". Vehement schreibt sie nun gegen die Erwartungshaltung eines bürgerlich-kirchlichen Publikums an, zu deren Lieblingsschriftstellerin sie eins gehörte und damit auch gegen die Schablonen feuilletonistischer Großkritiker. Erstaunt registriert der Literaturkritiker Joachim Kaiser in einer Rezension der "Baustelle", wie viel "Erbauungsqualität" hier abgebaut sei, als habe Luise Rinser vorher nur "Erbauliches" geliefert. Selbst im Frühwerk gab es nicht nur brav Katholisches, wie die Frauen-Romane Abenteuer der Tugend (1957) oder Die vollkommene Freude (1962), sondern auch kühne Texte: Jan Lobel aus Warschau zum Beispiel, die Shoa-Geschichte um einen polnisch-jüdischen KZ-Flüchtling aus dem Jahr 1948.

Unübersehbar ist im Spätwerk ein Prozess der Vergleichgültigung all dessen, was mit kirchlich-institutionalisierter Lehre, Moral und Disziplin, aber auch mit einer intellektuellen Theologie zu tun hat. Gleichzeitig ist eine neue Unmittelbarkeit erkennbar zum urchristlichen, ursprünglich Jesuanischen. Immer wieder - ob bei kirchlichen oder gesellschaftlichen Fragen - ist der Nazaräer die offene oder geheime Bezugsfigur ihres Denkens, immer wieder wird der Christus der Armen, Schwachen und der Macht- und Rechtlosen zur kritischen Spiegelfigur, immer wieder wird die Torheit des Kreuzes gegen Selbstgerechtigkeit kirchlicher Funktionäre ins Spiel gebracht.

Gegen Selbstgerechtigkeit

Diese Doppelbewegung von Vergleichgültigung und neuer Unmittelbarkeit wird ergänzt durch den ständigen Rekurs auf ein überraschend weites Spektrum religiöser Erfahrungen, die die Grenzen des christlich Sanktionierten oder gar kirchlich Kanalisierten längst gesprengt haben. Ihr Katholizismus bayerischer Provenienz ist barock-katholisch genug, als dass er nicht um den heidnischen Wurzelboden wüsste, dem er erwachsen und der als verborgene Triebschicht nach wie vor wirksam ist. Es ist keine Koketterie, wenn Luise Rinser in autobiografischen Skizzen Astrologie und Horoskope zur Selbstdeutung heranzieht.

Unbestreitbar ist: Magie und Aufklärung, Mystik und Ratio, das Chaotisch-Heidnische wie das Geordnet-Kirchliche gehören zur Grundpolarität dieses Werkes. Ein Wissen davon, dass es Kräfte im Universum und Triebschichten im Menschen gibt, die den Grundrhythmus des Lebens bestimmen und zu denen wir in Träumen, Mythen und Märchen, in Mystik und Magie Zugang haben. "Der Urgrund meines Glaubens ist mystischer Natur", schreibt sie in Den Wolf umarmen. Und das bedeutet: Für jemanden wie sie, der die Welt als Symbol erfährt, für den alles Irdische nur ein Gleichnis ist, wird in Augenblicken der Durchstoßung der empirischen Oberfläche die Wirklichkeit als große Einheit erfahrbar. Immer wieder beschreibt Luise Rinser in ihren Tagebüchern solche Durchbruchserfahrungen, solche "Drogenerfahrungen ohne Drogen", die in ihrer Jugend stärker, im Erwachsenenalter nur noch vereinzelt auftraten.

Aber diese epiphanischen erlebten Durchbruchserfahrungen werden bei dieser Autorin zum hermeneutischen Schlüssel, mit dem sie die Geschichte der Religionen neu liest. Denn diese Urerfahrungen findet sie in taoistischen Schriften genauso artikuliert wie bei den Vorsokratikern, im Hinduismus wie in der Zen-Mystik. Charakteristisch für das Spätwerk von Luise Rinser ist gerade ein durch zahlreiche Asienreisen und langjähriges Studium gewonnenes globales ökumenisches Bewusstsein, das die großen Religionen als Versprachlichung einer menschlichen Urerfahrung begreifbar macht: dem Streben des Menschen nach Einheit mit dem Absoluten.

Über Jahre liest sie die religiösen Grundtexte der Menschheit parallel und sucht nach der Wahrheit in ihnen: "Wer tröstet mich? Ich lese im Evangelium, ich lese im Tao te king, ich lege mir das I Ging, es rät mir zum Schweigen gegenüber Verleumdern, es verheißt mir das Licht." Dieser Text aus Kriegsspielzeug steht für viele.

Jesus der "Sonnengott"

Ein solcher Ansatz musste Konsequenzen haben, auch für ein neues Verständnis zentraler christlicher Glaubenssymbole. Und das betrifft vor allem das Christus-Bild, das sich bei Luise Rinser radikal wandelt. Den christlichen Inkarnationsgedanken will sie radikal zu Ende denken: "Wenn der Gott sich so vollkommen in die Erde inkarniert hat, dass er die Erde wurde, und dass er die Menschen ist? Dass die Himmel leer sind, weil Gott hier ist?" So fragt sie ihn im Tagebuch Winterfrühling und zieht daraus gleich die praktischen Konsequenzen: "Ich habe hier ein altes Kreuz hängen. Dem Christus fehlt der linke Arm, ich habe mich bisher damit begnügt, poetisch zu denken: Er braucht uns als seinen eigenen Arm. Wenn ich jetzt kühn denke: Er ist wir? Wenn das ganze Werk der Erlösung unsere Aufgabe ist? Der einmal in den Menschen angelegte Élan vital, der ein anderes Wort für Sympathie ist, für den Willen zur Rettung aller - genügt es nicht für alle und für alle Zeiten?

Christus wird so für Luise Rinser nicht nur zu einem ethischen Impuls im Geist von Matthäus 25, sondern auch zu einer mystischen Chiffre für das wahre Selbst im Menschen. Er müsse "in uns geboren werden", schreibt sie. Er - "eins mit dem Vater" - sei die vollkommene Harmonie von Göttlichem und Menschlichem, und dies nicht abstrakt, sondern historisch konkret Gestalt geworden in Jesus von Nazareth. Dass sie sich hier spirituell radikal geöffnet und gewandelt hatte, war ihr bewusst.

In unserem Werkstattgespräch aus dem Jahre 1982 machte sie dies unmissverständlich klar: "In den vergangenen dreißig Jahren habe ich eine ganz andere Entwicklung durchgemacht. Ich habe mich mit anderen Religionen beschäftigt, mit der jüdischen und islamischen Mystik, mit dem Zen-Buddhismus. Ich habe dabei begriffen, dass Christus in allen Religionen zu finden ist, man gibt ihm dort nur einen anderen Namen. Im Grunde ist er überall der ‚Sonnengott‘. Es ist für mich eine bedeutende Erkenntnis der letzten Jahre, dass in Christus alle Mythen vom Sonnengott zusammenlaufen. In Jesus ist er historischer Mensch geworden. Ich ha­be auf dem Umweg über die östlichen Religionen unser abendländisches Chris­tentum neu verstanden, nachdem ich mich mit der katholischen Dogmatik zwanzig Jahre herumgeschlagen hatte. Ich kann sie jetzt beiseite legen, weil ich auf ganz anderen Wegen begriffen ha­be, was Christentum ist."

Luise Rinsers 100. Geburtstag ist ein Anlass, das Werk neu zu lesen und dabei Unvermutetes zu entdecken - im Blick auf die von ihr verkörperte unverwechselbare Synthese und Mystik und Po­litik.

Karl-Josef Kuschel

Karl-Josef Kuschel

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