Höchste Zeit

Nach der Reaktorexplosion in Japan muss sich mehr ändern als die Energiepolitik
Die Opfer in Japan verdienen unser Mitgefühl wie die Leidtragenden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Doch darüber hinaus müssen Christen Energiebetreibern, Politikern und Wählern die Frage stellen: Wie viel muss eigentlich noch passieren, bis endlich Konsequenzen gezo­gen werden?

Christen, die gegen den Bau von Atomkraftwerken demonstrierten, wurden von andersdenkenden Mitchristen, Kirchenleuten und Politikern, oft hämisch gefragt, wo denn die Bibel etwas zur friedlichen Nutzung der Atomkraft sage. Dabei gibt es darauf eine recht einfache Antwort, im Ersten Gebot: "Ich bin der Herr Dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Für Christen geht es bei der Beurteilung der Atomenergie also nicht nur um eine moralische, sondern auch - vor allem - um eine theologische Frage, nicht nur um das rechte Handeln, sondern die Unterscheidung von Mensch und Gott. Diese wird ja von menschlicher Hybris, Allmachtsphanatsien und Profitinteressen immer wieder aufgeweicht.

Natürlich kann man unter der Berufung auf Gott jeglichen technischen und medizinischen Fortschritt abwehren. So haben fundamentalistische Christen Heilmaßnahmen und Impfungen abgelehnt, weil sie Gott nicht ins Handwerk pfuschen und der Natur ihren Lauf lassen wollen. Doch bei der Atomenergie geht es um mehr. Sie wäre nur zu verantworten, wenn der Mensch wie Gott wäre, allwissend und unfehlbar. Weil das aber nicht der Fall ist, bleibt ein Restrisiko. Und das kann im Fall der Atomkraft bekannt­lich Folgen haben, die nicht mehr wieder gutgemacht werden können. Da­bei geht es nicht nur um die Sicherheit der Atomkraftwerke, sondern auch um ihren Abfall, der bekanntlich über Jahrtausende strahlt.

Skepsis als konservative Tugend

Vor den Gefahren der Atomenergie haben die Grünen und - auch gegen Parteifreunde - der christliche Sozialdemokrat Erhard Eppler frühzeitig gewarnt. Dabei hätte man dies eigentlich eher von einer Partei erwartet, die sich christlich nennt und den Unterschied von Gott und Mensch kennt. Aber am Beispiel Atomkraftwerke sieht man, was das christliche Men­schen­bild wert ist, das Unionspolitiker immer beschwören. Wirtschaftliche Interessen sind offensichtlich stärker. Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum Widerstand gegen die Atomlobby gerade der Union gut angestanden hätte. Denn Skepsis gegenüber dem (technischen) Fortschritt, die nicht mit Ablehnung gleichgesetzt werden darf, ist eine konservative Tugend.

Die Opfer in Japan verdienen unser Mitgefühl wie die Leidtragenden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Natürlich werden Christen sie trös­ten, ihnen helfen und für sie beten. Doch darüber hinaus müssen Christen Energiebetreibern, Politikern und Wählern die Frage stellen: Wie viel muss eigentlich noch passieren, bis endlich Konsequenzen gezo­gen werden? ­Zumindest im Hinblick auf die Zukunft muss an das Bibelwort erinnert werden: "Was der Mensch sät, wird er ernten." Und in einer Demokratie ist jede und jeder für die Energiepolitik mitverantwortlich.

Höchste Zeit ist es auch für die Einführung von Volksbegehren und Volks­entscheiden. Denn wer heute gegen die Atomenergie ist, muss Grüne und SPD und kann nicht CDU und FDP wählen. Aber es ist doch absurd, Bundes­tags- und Landtagswahlen auf die Entscheidung über eine - wenn auch wichtige - Sachfrage zu reduzieren. Bei einem Plebiszit könnten dagegen auch diejenigen gegen die Atomenergie stimmen, die sonst aus guten Gründen CDU und CSU wählen.

Jürgen Wandel

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